Kapitel 41
Deutschland, Gegenwart
Lächelnd sah Jette zu ihrem Freund, der mit einem Kumpel Darts spielte. Mit dem Fingernagel kratzte sie über die Tischplatte, fuhr die Maserung des Holzes nach. Ihr Leben hatte eine Wendung um hundertachtzig Grad genommen, seitdem Jasper sie vor fünf Wochen zum Eisessen eingeladen hatte. Sie gehörte zu seiner Clique, von denen keiner aufdringliche Fragen stellte. Trotz ihrer fehlenden Erinnerungen wurde sie akzeptiert, wie sie war.
Das Smartphone vor ihr vibrierte einmal kurz. Eine Nachricht huschte über den Sperrbildschirm. Sie überlegte. Die Jungen beim Spiel stören, oder warten, bis sie fertig waren? Wenn es wichtig war, rief die Person mit Sicherheit an. Jette beschloss, abzuwarten, beobachtete stattdessen, wie die Dartpfeile in der Scheibe landeten.
„Kurze Pause", hörte sie Lukas rufen. Grinsend lief der Braunhaarige auf sie zu, trank einige Schlucke seiner Cola, in der die Eiswürfel bereits geschmolzen waren. „Warum siehst du dir nicht ein paar Youtube-Videos auf Jaspers Telefon an? Das wird noch einige Zeit dauern. Der Dickkopf weigert sich einzusehen, dass ich der bessere Spieler bin." Der Junge warf einen amüsierten Blick zu seinem Freund, der stirnrunzelnd an seinen Pfeilen herumfummelte.
„Ich kenne den Code nicht." Jette zuckte mit den Schultern. Ein wenig bereute sie es, dass sie ihr Notizheft und den Stift nicht eingepackt hatte. „Ich werde einfach das Gedicht in Gedanken noch einmal durchgehen, das wir in der nächsten Klassenarbeit analysieren sollen."
„Suche dir doch eine Analyse aus dem Internet." Lukas packte das Smartphone, tippte auf den Bildschirm. Entsperrt reichte er es ihr. „Hier, bitte. Und nicht böse sein, dass wir heute so wenig Zeit haben." Er grinste schief, dann lief er zurück zur Dartscheibe. Freundlich, hilfsbereit, wie der Rest der Clique.
Jette starrte auf das Telefon in ihren Händen. Warum eigentlich nicht? Jasper hatte mit Sicherheit nichts dagegen. Immerhin war es keine Kriegswaffe, die es vor dem Menstruationsblut einer Frau zu schützen galt. Ihr Mund verzog sich zu einem Schmunzeln. Obwohl sie in den vergangenen Wochen ihrer Indianergeschichte kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte, tauchten, meist ohne Vorwarnung, die von ihrer kranken Psyche konstruierten Erinnerungen auf. Allen voran Spirit Talker. Bevorzugt, wenn Jasper sie küsste. Dunkle, tieftraurige Augen musterten sie und ihre Reaktion. Jette schüttelte den Kopf. Ihr Freund drängte sie fast genauso energisch, mit ihm zu schlafen, wie der Comanche auf der Prärie. Womöglich triggerte dies sein Erscheinen. Wie eine stumme Warnung. Doch wieso? Der blonde Junge war großartig, holte sie aus ihrer selbstgewählten Isolation, zeigte ihr, wie lebenswert das Leben war. Dennoch, die Erinnerung an Mukwooru verhinderte, dass sie mit Jasper intim wurde.
„Habe ich vielleicht Angst, dass der Sex die Tür mit zwanzig Schlössern in meinem Kopf niederreißt und ich mich an die Wahrheit erinnere?", murmelte sie auf den Bildschirm starrend. Ihr Finger verharrte über dem Symbol des Internetbrowsers, als das Smartphone erneut vibrierte. Die Nachricht, die wie eine Eilmeldung im Fernsehen über das Display lief, erhaschte ihre Aufmerksamkeit. Verstohlen sah sie zu Jasper und Lukas, die in ihr Spiel vertieft waren.
Hastig öffnete sie Whatsapp. Die hereingekommene Textnachricht gehörte zu einem Gruppenchat der Jungs, in den sie nicht eingeladen worden war. Ihr Magen verkrampfte, als sie sah, wer die Gruppe vor wenigen Wochen erstellt hatte. Ausgerechnet ihr Freund hatte sie mit dem Namen Jette klarmachen gegründet. Mit zitternden Fingern scrollte sie hinunter, las jede Nachricht seit der Erstellung. Nur zwei der Jungen schienen von Jaspers Aktion nicht im Geringsten begeistert zu sein. Lukas und Emilio, dessen vor wenigen Minuten hereinkommender Text ihre Neugierde geweckt hatte. Beide versuchten, den Blonden regelmäßig von seinem Vorhaben abzubringen, doch er hielt eisern daran fest, sie ins Bett bekommen zu wollen. Das Mädchen knallte das Smartphone auf die Tischfläche, schob es von sich. Das Blut rauschte in ihren Ohren und sie hatte das Gefühl, dass ihre Haut in Flammen stand. Instinktiv griff sie an ihren Gürtel, nur um die Stelle an ihrer Hüfte leer vorzufinden. Leise knurrte sie. Natürlich hatte sie kein Messer bei sich. Eine Waffe war auch nicht nötig, um mit diesem Bastard abzurechnen.
„Du Arsch", murmelte sie, öffnete den Verschluss des Silberkettchens, das sie nach einem Monat Beziehung bekommen hatte, und legte es zum Smartphone. Ihr Blick huschte zu den Jungen. Jasper stand mit den Rücken zu ihr, während Lukas konzentriert auf ihn einredete. Kurz nahm er Blickkontakt zu ihr auf. Besorgnis spiegelte sich einen Moment lang in seinem Gesicht wider. Eine üble Vermutung beschlich sie. Hatte er darauf spekuliert, dass sie den Chat las und so die Wahrheit erfuhr? Feige, dennoch effektiv. Hätte sie ihm ohne Beweise Glauben geschenkt? Wohl kaum. Kopfschüttelnd zog sie ihre Jacke über, packte Jaspers Smartphone und das Kettchen. Sie atmete tief durch, straffte die Schultern.
„Er ist wie das gefiederte Grauen. Nur keine Schwäche zeigen", flüsterte sie sich selbst zu. Wie hatte sie sich in dem Blonden getäuscht, ihn vergöttert. Dabei war er nur ein Mistkerl, der Mädchen ausnutzte, dachte sie verbittert. Eine Szene von der Prärie tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Spirit Talker, der mit geradem Rücken stolz auf seinem Rappen saß, der Wind mit den Federn in seinen langen schwarzen Haaren spielend. Der Inbegriff von Stärke, Mut und Ruhe. „Ich kann das", knurrte sie. Entschlossen lief sie zu den beiden Jungen.
„Äh Jette, Maus, was ist los?" Jaspers Blick huschte zwischen ihrem Gesicht mit den aufeinandergepressten Lippen und den Gegenständen in ihrer Hand hin und her. „Geht es dir nicht gut?" Er trat auf sie zu, schien sie in den Arm nehmen zu wollen.
„Pfoten weg", fauchte sie ihn an. „Kannst deine dämliche Whatsapp Gruppe umbenennen. Mich kriegst du nicht in dein Bett." Jette drückte ihm die Sachen in die Hand. Zwar war sie mehr in der Stimmung, das Smartphone gegen die Wand zu werfen, doch sie verspürte keine Lust, den dadurch entstehenden Schaden zu bezahlen. Die Genugtuung gönnte sie ihm nicht. Einen Moment blieb es still.
„Was fällt dir ein, meine Chats zu lesen?", polterte Jasper los. Lukas legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Alter, ich hatte dir gesagt, dass es eine ganz beschissene Aktion war. Vor allem bei Jettes Vergangenheit." Der Mund des Mädchens öffnete sich ein wenig vor Überraschung, ihr Kinn zitterte. Hatte sie das richtig gehört? War jeder, der sie kannte, davon überzeugt, dass sie vergewaltigt worden war? Warum war dann ihre konstruierte Erinnerung an die Nacht mit Spirit Talker so leidenschaftlich, dass sie sich an manchen Abenden, an denen sie einsam im Bett lag, nichts sehnlicher als Sex mit ihm wünschte? Er, der so unerreichbar weit weg war. Der nur in ihren Gedanken existierte. Nur für Jasper war kein Platz in ihren Fantasien. Ein Zeichen, das sie zu lange missachtet hatte.
„Meine Vergangenheit geht euch beide einen Scheißdreck an." Es war an der Zeit, dass sie energisch einen Schlussstrich unter die Sache zog. „Wie konnte ich nur so blöd sein und auf mieses Schwein wie dich hereinfallen?" Sie bedachte ihren Exfreund mit einem enttäuschten, fast anklagenden Blick.
„Wie kann man nur so dämlich sein?" Er schüttelte den Kopf. „Ich wollte dir nur zeigen, wie geil Sex ist, damit du Männer nicht alle als sexbesessene Monster abstempelst."
„Und deshalb versuchst du, mich seit Wochen ins Bett zu bekommen?" Sie tippte sich an die Stirn. „Danach hättest du mich doch eh abserviert, weil du dein Ziel erreicht hättest." Ein eiskalter Klumpen bildete sich in ihrem Bauch, lähmte ihre Bewegungen.
„Du musst einfach nur einmal ordentlich durchgevögelt werden. Sei froh, dass ich mich dafür opfern wollte." Sein überheblicher Blick versetzte ihr einen weiteren Stich ins Herz. Sie drehte sich um, den Ausgang anvisierend. „Hey, bleibe gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede." Jaspers Finger schlossen sich eisern um ihr Handgelenk.
„Lass sie in Ruhe." Lukas schob sich dazwischen, löste den schmerzhaften Griff. Jette, von der menschlichen Fessel befreit, stürmte zur Tür, die lauten Stimmen hinter sich ausblendend. Auf der Schwelle hielt sie inne, warf einen Blick zurück über die Schulter. Jasper hatte seinen Kumpel am Kragen gepackt, schrie mit hochrotem Kopf auf ihn ein. Bilder von Kevin und dem jungen Comanchen beim Council House Fight in San Antonio zogen an ihr vorbei. Sie würgte, schnappte nach Luft. Ein wässriger Schleier behinderte ihre Sicht, als sie vorwärts stolperte. Bloß weg von den beiden Jungen, weg von dem, was ihr Schmerzen bereitete.
„Pass doch auf", rief ihr jemand hinterher, nachdem sie diesen in ihrer blinden Flucht fast umgerannt hatte. Sie ignorierte die Stimmen, die ihr zu folgen schienen. Immer weiter hastete sie durch die Fußgängerzone. Ihre Lungenflügel brannten, ihre Knie ächzten. Das unebene Kopfsteinpflaster forderte ihre Konzentration, die ihr stets mehr entglitt. Der Boden schien sich unter ihr zu bewegen, wie tausende Skorpione. Jette strauchelte, stürzte vorwärts. Ein fremder Arm schlang sich von rechts um ihre Taille, zwei Hände packten ihren linken Arm.
„Na das ging ja gerade noch einmal gut", keuchte eine ihr vage bekannt vorkommende Mädchenstimme hinter ihr. „Gut gemacht, Jungs."
„Gar nicht so einfach", japste derjenige, der ihren Arm festhielt. „Jette kann es locker mit einem Wildpferd im vollen Galopp aufnehmen." Die Worte drangen langsam zu ihr durch. Woher kannte er ihren Namen? Wie in Zeitlupe drehte sie sich zu ihm, musterte seine schwarzen Haare. Ein Mädchen tauchte an seiner Seite auf, hakte sich bei ihm ein. Braunhaarig, Brille, ein besorgter Blick.
„Du erkennst uns nicht, oder?", fragte der Junge freundlich. „Das hier ist meine Freundin Clara, ich bin Jonas. Und der Irre, der dich festhält, als ob sein Leben davon abhinge, das ist Max. Wir waren mit dir zusammen auf der Kirchenfreizeit." Clara, Jonas, Max. Jette wandte sich nach rechts, sah in sanfte braune Augen.
„Ich glaube, wir bringen dich besser nach Hause", murmelte ihr Gegenüber. „So wie du aussiehst, möchtest du bestimmt erst einmal deine Ruhe haben und auf weiteren Trubel verzichten." Sie nickte stumm, die Tränen flossen weiterhin über ihre Wangen. Widerstandslos ließ sie sich zum nahegelegenen Parkplatz führen, stieg zusammen mit dem Mädchen hinten ein.
Die Fahrt zum Hof ihrer Eltern verlief ereignislos. Die Jungen unterhielten sich über Autos, das kommende Wochenende und ähnliches, für Jette belangloses Zeugs. Sie starrte stumm aus dem Fenster, ärgerte sich über sich selbst. Wieso war sie nur auf Jasper und seine Schmeicheleien hereingefallen? Der eiskalte Klumpen kehrte zurück in ihren Bauch, ließ sie frösteln. Was gäbe sie dafür, dass jemand wie Spirit Talker im Arm hielt, ihr sanfte Worte ins Ohr flüsterte.
„Wir sind da." Jonas stoppte den Wagen vor dem Haus. „Was hältst du davon, wenn wir Samstag vorbeikommen? Dann kannst du uns alles zeigen." Er warf einen Seitenblick zu seinem Kumpel. „Max möchte bestimmt mal die Pferde kennenlernen."
„Reiten zu lernen wäre noch schöner", murmelte der Braunhaarige verträumt.
„Jette könnte es dir vielleicht beibringen." Clara stupste sie in die Seite. Ein Schmunzeln kämpfte sich auf deren Gesicht. Eine Erinnerung an die Kirchenfreizeit brach durch ihre trüben Gedanken wie die Sonne durch eine dichte Wolkenschicht. Wieso glich sie nicht mit der Dreiergruppe die Geschichte bis zu dem Zeitpunkt ab, an dem sie laut ihrem Gedächtnis die Zeitreise in die Vergangenheit antrat? Wenn sich bis dahin alles deckte, war es dann nicht möglich, dass sie tatsächlich in den Wilden Westen gereist war?
„Können wir gerne machen", stimmte sie dem Vorschlag zu.
„Dann kommen wir so gegen zehn Uhr vormittags. Vielleicht hast du Lust, mit uns nachmittags ins Kino zu kommen."
Einige Zeit später saß Jette an ihrem Schreibtisch, starrte auf die leere Seite vor ihr. Sieben vollgeschriebene Blätter lagen neben ihr. Das Resultat konzentrierter Arbeit. Jedes Detail hielt sie fest. Beschrieb den Angriff auf Linnville wie eine Historikerin. Nun galt es, das Geschriebene in Romanform umzuschreiben. Womit hatte sie Spirit Talker und seinen Rappen damals verglichen? Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. Mit einem Reiter der Apokalypse. Ein in dem Augenblick passender Vergleich. Wie ein Ritter in glänzender Rüstung hatte er nicht gewirkt. Wehmütig sah sie aus dem Fenster. Selbst wenn die Reise keine Einbildung war, der Krieger war vor langer Zeit gestorben. Dennoch, trotz der kulturellen Unterschiede und der Hass seines Volkes auf die weißen Siedler, war er eine bessere Partie, als Jasper es jemals sein würde. Ihr ehemaliger Schwarm war ein Nichts, ein Niemand im Vergleich zu dem stolzen Krieger. Wenn dieser doch nur bei ihr wäre!
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Hach, den wären wir los. 😈🥳 Jasper konnte ich schon nicht leiden, als Jette während der Kirchenfreizeit von ihm geschwärmt hat. Wie heißt es so schön? Lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende.
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