Kapitel 17
Linnville, Texas, 08. August 1840
Ein seltsames Geräusch riss sie aus dem Schlaf. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Es dauerte einen Moment, bis das Pochen, das in ihren Ohren klang, abflachte und sie in der Lage war, zu lauschen. Ein fernes Beben, Geheul. Was hatte das zu bedeuten? Sie blinzelte einige Male schnell hintereinander. Dann sprang sie wie von einer Tarantel gestochen aus dem Bett. Das war Kriegsgeheul! In Windeseile zog sie ein Hemd und eine Hose über und schlüpfte in ihre Stiefel. Eilig stieg sie die Holzleiter hinab.
„Sam? Wir müssen hier weg!", schrie sie durch die stille Hütte. „Den Revolver habe ich geladen und auf den Tisch für dich gelegt. Komm schon, wo steckst du schon wieder?"
„Nimm dein Messer und lauf, Mädchen. Versteck dich irgendwo. Sie dürfen dich nicht finden!" Der alte bärtige Mann tauchte unvermittelt vor ihr auf. Die Sorgenfalten auf seiner Stirn waren tief. Tiefer als am Tag zuvor. Als sie ihm von den Gerüchten über die umherziehenden, mordenden und raubenden Comanchen erzählt hatte. Sie riss die Tür auf und rannte nach draußen. Fieberhaft überlegt sie, wo sie ein geeignetes Versteck fand. Das Geheul und das Donnern hunderter Pferdehufe kam näher. Das Zittern in ihrem Körper, das sie seit dem Aufwachen plagte, nahm zu. Warum hatte sie nicht zuvor darüber nachgedacht, was sie im Fall eines Angriffs zu tun hatte? So wie Sam es ihr geraten hatte. Stattdessen hatte sie über belangloses Zeug gegrübelt.
Panisch sah sie zur Stadt. Nein, das war das Ziel dieser Wilden und sie würde ihnen dort nur vor die Hufe laufen. Sie entschied sich für ein Gestrüpp in entgegengesetzter Richtung und hechtete darauf zu. Die Dornen zerkratzten ihr Gesicht, zerrten an ihren Haaren, als sie im Dickicht Schutz suchte. Verbissen presste sie sich dennoch hinein. Eine Träne rann über ihre Wange. Warum folgte Sam ihr nicht? War er noch in der Hütte?
Voller Angst, mit zitternden Händen, sah sie auf die unheilbringende Wolke aus bunten Pferdeleibern und Staub, den auf den Boden hämmernden Hufe aufwirbelten. Die Masse stürmte vorbei, lautes Kriegsgeschrei ausstoßend, das grell in Jettes Ohren widerhallte. Erleichtert atmete sie in ihrem Versteck auf. Ihre Entscheidung hatte sich als richtig erwiesen.
Der Staub legte sich. Vor der kleinen Hütte stand ein Dutzend strubbeliger Ponys mit teils Federn in der Mähne und farbigen Streifen, Kreisen oder Handabdrücken auf dem Fell. Deren grotesk bemalten Reiter verschwanden im Haus und im Schuppen.
„Sam", wimmerte sie leise. Er hatte im Gegensatz zu ihr keine Zeit gehabt, sich zu verstecken, davon war sie überzeugt. Angestrengt lauschte sie auf ein Lebenszeichen von ihm. Einen Schrei, ein Gewehrschuss, irgendetwas. Doch das Einzige, was sie hörte, waren die gellenden Rufe der Indianer.
Kurze Zeit später brannte die Hütte, die für wenige Wochen Jettes Unterkunft gewesen war. Sie schluckte die aufkommende Übelkeit herunter. Was hatten die Comanchen dem alten Mann angetan? Die Wilden, die auf ihre Ponys sprangen und dem Wahnsinn, der sich in der Stadt abspielte, entgegeneilten. Gleich war es ungefährlich für die Rothaarige ihre Deckung zu verlassen und nachzusehen. Sie brauchte Gewissheit. Langsam, nur auf die davonstürmenden Tiere achtend, kroch sie rückwärts aus dem Gestrüpp. Dann erst sah sie wieder zum Haus. Das erwies sich als Fehler!
Zwei Paar dunkle Augen starrten sie an. Ein kohlrabenschwarzes Pony und sein genauso finsterer Begleiter. Der dritte Reiter der Apokalypse, schoss es ihr durch den Kopf. Nein, der auf dem schwarzen Pferd stand gar nicht für den Tod, sondern für Teuerung und Hunger. Das Skelett saß auf einem fahlen Tier. Schon seltsam, was für Gedanken im Angesicht von Gefahr ihr in den Sinn kamen. Unsinnige Dinge, denn wenn sie nicht flüchtete, würde sie bald tot sein. Jette sprang auf und rannte Richtung Fluss. Mit etwas Glück verlor er dort ihre Spur. Der Krieger stieß einen schrillen Kriegsschrei aus. Schon hörte sie die donnernden Hufe, die ihr folgten. Schnell kamen sie näher. Das rettende Wasser zu weit weg, traf sie eine wahnwitzige Entscheidung. Sie stoppte und drehte sich um, sah dem näherkommenden Unheil entgegen.
Das Kriegsbeil schwingend raste er auf sie zu. Sie verschwendete keine Zeit, den Indianer zu mustern. Eine Chance hatte sie nur. So lange er auf seinem Pferd saß, war er ihm Vorteil. Am Boden vermutlich auch, hauchte eine Stimme in ihrem Kopf. Verbissen unterdrückte sie das mulmige Gefühl in ihrer Brust und duckte sich, als der Krieger mit seinem Beil nach ihr schlug. Flink packte sie seinen Arm und ließ sich fallen. Von ihrer Taktik überrumpelt, glitt der Comanche vom Pony und stürzte mit ihr in den Staub. Das Mädchen landete auf ihm. Er stöhnte kurz auf, das Kriegsbeil entglitt seiner Hand. Jette zog ihr Messer, bereit, es in seine sich schnell hebende Brust zu stoßen und ihm zur Sicherheit die Kehle durchzuschneiden.
Die Klinge hoch erhoben über dem benommenen Mann, drang ein unheilvolles Rasseln an ihr Ohr. Wie in Zeitlupe drehte sie ihren Kopf nach rechts. Die bedrohliche Ursache des Geräuschs war schnell ausgemacht. Anderthalb Meter lang, gelblich-graue Schuppen mit rautenförmigen Zeichen lag das Biest zusammengerollt da. Nur der Kopf mit einem geringen Teil des Körpers und die Rassel am Schwanz waren aufgerichtet. Jette schluckte. Eine falsche Bewegung und sie war tot.
Sie sah wieder auf den Krieger. Als Kriegsbemalung trug er einen schwarzen breiten Streifen über seine Augen von einer Schläfe zur anderen. Jetzt, wo sich sein Blick langsam klärte, gab sie ihm eine düstre Ausstrahlung. Grimmig starrte er auf das Messer. Nur das abermalige Rasseln der Klapperschlange hielt ihn davon ab, es aus der Hand der Rothaarigen zu reißen. Die Stirn in Falten gelegt, einen flüchtigen Blick auf die Schlange werfend, überlegte er. Jette fürchtete, dass er sie in die Richtung des rasselnden Todes stoßen würde.
„Mädchen, rühre dich nicht und tue das, was der Krieger von dir verlangt. Er wird dich schützen." Der alte Sam stand wie aus dem Nichts neben ihnen. Wohlauf und unbewaffnet schaute er die Rothaarige beschwichtigend an. Der Indianer sah den Weißen kurz an, dann zu Jette, die weiterhin auf ihm saß. Ein erneutes lautes Rasseln auf der anderen Seite forderte beider Andacht. Das Mädchen drehte danach ihren Kopf wieder nach links, doch Sam war wie vom Erdboden verschluckt. Schluckend wandte sie die Aufmerksamkeit auf den Comanchen. Der mörderische Gesichtsausdruck war verschwunden. Stattdessen musterte er sie nachdenklich. Seine rechte Hand wanderte ihren Oberschenkel hoch zu ihrem Rücken, verschwand unter ihrem Hemd.
Empört schnappte sie nach Luft, wagte es aber nicht, sich zu bewegen. Die Schlange drohte ihnen noch immer. Das Einzige, das ihr blieb, war, den Krieger finster anzustarren. Er dagegen betrachtete sie mit schräggelegtem Kopf. Langsam fuhren seine Finger den Teil ihres Körpers nach, den sie am meisten hasste, ihre Narben von der großflächigen Verbrühung. Etwas, das sie vor allen versteckte und ausgerechnet dieser Mann berührte sie dort fast schon sanft.
Dagegen rasselte der züngelnde Möchtegern-Attentäter neben ihnen weiter. Das Mädchen sah misstrauisch zu dem Reptil, bemerkte gleichzeitig, wie der Indianer versuchte, sie an seinen Körper zu drücken. Sollte sie sich kleinmachen? In Zeitlupe folgte sie der Aufforderung seiner Hand, die auf ihrem Rücken lag. Trotz der Bewegung blieb die Schlange auf ihrem Fleck, drohte nur immer weiter. Jettes Brüste berührten den Oberkörper des Kriegers und sie erschauderte. Seine zweite Hand fand den Weg zu ihrem Nacken und drückte ihr Gesicht an seine Halsbeuge. Verwirrt atmete sie den Geruch nach irgendeinem Fett und Leder ein. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie der Mann das Reptil argwöhnisch beobachtete.
Resignierend schloss die Rothaarige ihre Augen, ruhte mit ihrer Stirn am Hals des Kriegers. Ob er sie tötete oder die Schlange es für ihn übernahm, lebend kam sie aus der Sache nicht mehr heraus. Andererseits schützte er sie. Es war alles so verwirrend. Wäre der Tod womöglich doch die bessere Alternative?
Einige Zeit später hörte sie ein Geräusch, dass sie nicht zuordnen konnte. Schnaubend kam ein schwarzes Pony angetrabt. Das Messer entglitt ihren Fingern und sie schrie erschreckt auf, als der Comanche mit ihr an seinen Körper gepresst aufstand. Flugs hob er sie auf sein Pferd, dann sprang er hinter ihr auf. Mit einem lauten Kriegsschrei trieb er das Tier an, Richtung Stadt, wo die wilde Horde wütete.
Jette klammerte sich verzweifelt an die Pferdemähne, als der Rappe abrupt anhielt. Wild johlend jagten die Indianer auf ihren Ponys an den Häusern vorbei, schliffen Federbettdecken an ihren Lassos hinter sich her. Gänsefedern flogen durch die Luft, als wenn jemand einhundert Gänse gerupft und ihre Federn dem wind überlassen hatte. Krieger stürmten in die Häuser, schleppten die unterschiedlichsten Gegenstände heraus, unterhielten sich lautstark über ihre Funde.
Sie wandte ihren Blick in eine andere Richtung. In einem Korral drängten Rinder sich dicht an dicht. Die Tiere brüllten ihre Angst und Schmerzen hinaus, als Indianer auf ihren Pferden wild schreiend den Pferch umrundeten und unbarmherzig ihre Lanzen in die Rinderleiber stießen. Jette ließ die Pferdemähne los, presste die Hände stattdessen auf ihre Ohren und schloss die Augen.
Der Krieger hinter ihr legte seinen Arm um ihren Körper, drückte sie an seine Brust. Jette schnaubte leise. Er hatte wohl Angst, dass seine Beute herunterfiel. Sein gleichmäßiger Atem streifte die Haut hinter ihrem Ohr. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Er war ihr viel zu nah. Warum nur hatte sie auf Sam gehört und das getan, was der Indianer von ihr wollte? Wäre es nicht so viel einfacher gewesen, sich von ihm töten zu lassen? So viel barmherziger zu dem, was ihr bevorstand?
Eine Frau schrie angsterfüllt um Hilfe. Jette hörte es dumpf, ließ ihre Arme an ihrem Körper nach unten fallen und riss ihre Augen auf. Wieder hallte ein Schrei durch das Getöse zu ihr. Juliet, die Ehefrau des Zollbeamten Hugh Oran Watts, schlug panisch um sich. Ihre Angst schien die Comanchen nur noch mehr anzustacheln. Ihr Ehemann versuchte, ihr zu Hilfe zu eilen, als eine Lanze sich durch seinen Rücken bohrte, ihn zu Fall brachte und an den Boden pinnte.
Mit geweiteten Augen sah Jette zu, wie einige Krieger ihre Ponys immer wieder über den wehrlosen Körper des Mannes hinwegfegten. Seine Ehefrau wurde bäuchlings von zwei Comanchen auf das Pferd eines dritten Indianers gehoben, der mit der kreischenden und zappelnden Frau im gestreckten Galopp davonritt. Die anderen stürmten ebenfalls weiter, gaben die Sicht auf die blutige Masse im Staub frei. Jette hatte Mühe, ihren Blick von dem ehemaligen Zollbeamten abzuwenden. Ihr Magen revoltierte, ihr Brustkorb hob sich unregelmäßig und viel zu abgehackt. Sie schnappte nach Luft, doch hatte sie das Gefühl, keine zu bekommen. Panisch warf sie sich gegen ihren Kidnapper.
Er packte sie als Antwort an der Kehle, drückte mit seiner warmen Hand ein wenig zu. Dazu brummte er etwas in seiner widerlichen unverständlichen Sprache. Sie griff nach seinem Arm, kratzte ihn, zerrte an seinen Fingern, in der Hoffnung, er würde sie lockern. Erneut drückte er zu. Jette schloss die Augen, zwang sich zur Ruhe, hielt sich an ihm fest, während sie gegen den leichten Widerstand an Luft holte. Ihr zuvor rasender Puls hämmerte langsamer in ihren Ohren. Ihr Brustkorb hob und senkte sich ruhiger und ihre Atmung war weniger verkrampft. Sie lehnte sich nach hinten, an die warme Brust des Kriegers. Der Druck auf ihren Hals verschwand, stattdessen legte er den Arm wieder um ihren Bauch. Verwirrt nahm sie es wahr. Hatte der Comanche sie bewusst vor dem Hyperventilieren bewahrt? Wofür? Damit er und seine Freunde sie später vergewaltigen konnten? Denn das blühte ihr, wenn sie den Erzählungen Glauben schenkte.
Wo waren die Einwohner? Hatten die Indianer sie bereits allesamt umgebracht? Stille Tränen liefen über ihre Wangen. Der Krieger trieb seinen Rappen gemächlich durch die mit Hausrat übersäten Straßen, runter zum Hafen. Sowie das Meer in Sicht kam, versteifte er hinter ihr. Er schien sich mehr aufzurichten, sein Brustkorb hob und senkte sich stark und gleichzeitig regelmäßig. Es kam Jette so vor, als wenn er von dem Anblick wie verzaubert war, obwohl sie seinen Gesichtsausdruck nicht sah. Verwirrt bemerkte sie, wie sie im Gleichklang atmeten. Beide holten im gleichen Rhythmus tief Luft. Er murmelte etwas leise, dann spürte sie, wie er seinen Kopf an ihren drückte. Abrupt wandte sie sich von ihm weg.
„Ihr verfluchten Wilden! Verschwindet aus unserer schönen Stadt!" Richter Hays watete etwa zweihundert Meter weiter rechts durch das Wasser. Erst jetzt bemerkte Jette die Boote und den Schoner, die draußen auf dem Meer dümpelten. Er fuchtelte mit einer Pistole herum und schrie auf die Krieger ein, die ihn mit starren Mienen betrachteten. Nicht einer hob seine Lanze oder zielte mit Pfeil und Bogen auf ihn. Sie schienen sich eher zu fragen, ob der weiße Mann, dessen Haare wild in alle Richtungen standen, bei Verstand war. Jette bezweifelte es, denn er blieb selbst zeternd stehen, als ein Comanche auf ihn zuritt und ihn mit seiner Lanze berührte. Dann stieß der Indianer einen schrillen Schrei aus und ritt zu seinen Kumpanen, die sich eine neue Beschäftigung suchten.
Jette dagegen beobachtete, wie der Richter kopfschüttelnd zurück durch das Wasser watete, um sich bei den anderen Einwohnern von Linnville in Sicherheit zu bringen. Der Krieger hinter ihr murmelte erneut etwas, dann wendete er sein Pony und preschte durch die Straßen. Ein Teil der Häuser brannte bereits lichterloh. Sonstige Gebäude, so wie das Warenhaus von Linn, wurden weiterhin geplündert. Jette sah zu, wie die Comanchen Stoffballen auf Pferderücken verstauten. Einige der Männer trugen Zylinder und ähnliche Hüte. Andere spannten Schirme auf und paradierten damit auf ihren Tieren durch die verwüstete Stadt. Mittlerweile nahmen Indianerfrauen und selbst Kinder am wilden Treiben teil, erfreuten sich an den Waren, die aus den Häusern geraubt wurden.
Jette schloss die Augen, lehnte sich wieder an den Krieger, der ihr ein wenig Halt in dieser aussichtslosen Lage gab. Sie machte sich keine Illusionen darüber, was ihr noch bevorstand. Mit etwas Glück würde sie vielleicht ein Messer in die Hände bekommen können, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Alles besser, als ihre Unschuld an einen dieser Mörder zu verlieren.
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