Kapitel 16

7. August 1840, Linnville, Texas

Zufrieden betrachtete sie die Einschusslöcher, fuhr die Ränder mit dem Zeigefinger nach. Ihre Treffsicherheit und Zielgenauigkeit hatten in den vergangenen Tagen einen enormen Sprung gemacht. Zugegeben, es waren nur unbewegliche Ziele. Sie würde niemals eine Münze in der Luft treffen, doch im Notfall ein wildes Tier lag im Bereich des Möglichen. Dafür, dass sie erst seit zweieinhalb Wochen täglich mit nur fünf Schüssen übte, eine ihrer Meinung nach erfreuliche Leistung.

Sam hatte die ersten Tage von der Seitenlinie Kommentare abgegeben, doch mittlerweile ließ er sie allein üben. Das Vertrauen, das er ihr damit entgegenbrachte, gefiel ihr. In seinen Augen war sie nicht eine unfähige junge Frau, so wie viele Männer in San Antonio über sie gedacht, und zum Teil gesprochen, hatten. Die heiße Augustsonne brannte auf sie hinab. Der Schweiß klebte auf ihrer Haut und zog den Staub magisch an. Das würde später ein Bad im Fluss entfernen. Jetzt wollte sie erst einmal aus der Sonne raus.

Jette drehte sich zur Hütte, um wieder hineinzugehen, als sie in der Ferne eine Staubwolke entdeckte. Sie kniff die Augen zusammen, visierte die Wolke an, die über dem Weg zwischen Linnville und Victoria schwebte. Nach einer Weile konnte sie die Silhouette eines Reiters ausmachen, der sein Pferd auf die Stadt zutrieb, als ob der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her war. Ihr Magen verkrampfte sich. Niemand jagte freiwillig sein Tier auf diese Weise in den sicheren Tod.

Sie starrte weiter auf die Person, die sich ihr näherte, versuchte, durch den Staub hindurchzusehen. Irgendwelche Verfolger waren nicht zu sehen. Keiner hetzte ihn, wie die Jagdhunde den Fuchs. Doch musste es einen Grund für sein Verhalten geben. Claytons Worte kamen ihr in den Sinn.

Wir werden daher mehr patrouillieren, damit wir im Notfall eingreifen oder Reiter in Ortschaften schicken können, um die Menschen zu warnen.

Das Gespräch lag weinige Monate zurück und doch kam es ihr wie Jahre vor. Hatte sie sich zu lange hier an der Ostküste in Sicherheit gewähnt? Waren die Indianer auf dem Weg hierher? Bisher hatte sie angenommen, dass Vergeltungsschläge direkt nach den Geschehnissen in San Antonio hätten stattfinden müssen. Hatten die Comanche gewartet, bis jeder Weiße überzeugt war, dass nicht zu befürchten war? Sie lachte leise. Sie spann sich nur etwas zusammen. Es hatte sicher einen anderen Grund, weshalb der Reiter wie ein Verrückter angeritten kam. Jette beobachtete, wie Mann und Pferd an ihr vorbeirasten, weiter zur Stadt.

„Du bist schneller als ich. Lauf rüber und höre dir an, was er zu berichten hat. Die Sache gefällt mir nicht." Der alte Sam war wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht und sah der Staubwolke hinterher, die dem Reiter wie ein unheilbringender Schatten folgte. Sie nickte dem Trapper zu, steckte den leeren Revolver, den sie seit den Schießübungen in der Hand gehalten hatte, in ihren Gürtel und eilte auf die Häuserreihen zu.

Die Einwohner der Stadt schienen den gleichen Gedanken zu haben. Jung und Alt lief zusammen, um die Nachricht, die der Mann brachte, zu hören. Jettes Blick fiel auf sein Pferd, das mit bebenden Flanken und blutbeflecktem Schaum vor den Nüstern, vor dem Gebäude des Sheriffs stand. Stillstand bedeutete den Tod für den erschöpften Vierbeiner, das hatte sie von ihren Eltern gelernt. Es musste sich langsam beruhigen, nicht ruckartig, weil sonst der Kreislauf versagte. Kurzentschlossen löste sie den Knoten und führte das Tier am Zügel umher. Ein rasselndes Geräusch drang aus seinem Brustkorb.

„Alles wird gut, du schaffst das schon." Sie tätschelte dem bebenden Braunen den Hals. Immer weiter führte sie ihn herum, während die anderen Menschen gebannt auf das Haus starrten, und auf eine Mitteilung warteten. Selbst lauschte sie der Atmung des Tieres, das erschöpft neben ihr herlief. Oder besser gesagt schlurfte. Den Hals nach unten gebeugt, die Nüstern fast am Boden, stolperte es vorwärts. Zu ihrer Erleichterung nahm dafür das Rasseln aus der Brust ab und verstummte schließlich. Die Flanken hoben und senkten sich langsamer als zuvor. Mit der Entwicklung zufrieden führte sie den Braunen zur Tränke und band ihn danach wieder am Querbalken vor dem Sheriffbüro an. In dem Moment erschienen der Sheriff und der Bote auf der Veranda.

„Freunde, ich habe schlechte Neuigkeiten. Die Rothäute haben gestern Victoria angegriffen. Sie haben einige Menschen getötet und auch ein paar Sklaven." Er schob seinen Hut nach hinten und schaute ernst in die besorgte Runde. „Brad hier," er klopfte dem Mann neben sich, dessen Kleidung mit Staub überzogen war, auf den Rücken, „hat mir berichtet, dass es sich um eine Gruppe von etwa sechshundert Kriegern handelt." Ein Raunen ging durch die Menge. Unzählige kleine Gespräche entbrannten. Ein einziges Durcheinander.

„Seid doch bitte alle mal einen Augenblick still", mahnte Richter Hays, der zu den beiden Männern trat, die Leute zur Ruhe. Jette sah angewidert zum Sheriff. Was hatte er noch gesagt? Die Comanchen hatten Menschen und Sklaven getötet? Wozu diese Unterscheidung? Sie schnaubte empört und schaute auf ihre Stiefelspitzen. Jemand berührte sie sanft am Arm. Sie sah hoch und blickte in die besorgten Augen von Will oder Bill, dem Fischer. Wieso suchte er immer ihre Nähe? Sie wandte sich wieder zum Sheriff, der sich laut räusperte.

„Wir wissen nicht, was ihr nächster Schritt sein wird. Sie haben über eintausendfünfhundert Pferde erbeutet. Die Stadt haben sie nicht geplündert. Wenn wir Glück haben, geben sie sich mit der Herde zufrieden und reiten in ihre Dörfer zurück." Wohl kaum, dachte Jette zynisch. Nicht nach dem, was über die Comanchen überliefert war. Was hatte sie noch bei der Kirchenfreizeit über die Indianer erfahren? Dass es einer der gefürchtetsten Stämme der Prärie war. Die gaben sicher nicht so schnell auf. Eine eisige Kälte schlich sich in ihren Körper.

„Wir haben Boten in die umliegenden Städte geschickt. Zusammen werden wir diese roten Teufel verscheuchen, wie wir sie aus Victoria verjagt haben!" Der Reiter meldete sich nun zu Wort. Jette betrachtete ihn. Ein stechender Blick, markante aufeinandergepresste Kiefer. Er erinnerte sie an die Texas Ranger und den Kampf in San Antonio. Unwillkürlich machte sie einen Schritt rückwärts.

„Sorge dich nicht, die Rothäute werden schon nicht herkommen. Und wenn, dann werden wir sie verjagen", wisperte der Fischer ihr zu und schlang einen Arm um ihre Taille. Wieder ein Mann, der ihr ungefragt zu nahekam. Aber damit hatte sie wohl die Antwort auf ihre Frage. Auf solche Annäherungen verzichtete sie freiwillig.

„Lass mich bitte los." Überrascht von ihrem grimmigen Tonfall ließ er von ihr ab. Jette drehte sich um und marschierte zurück zur Hütte. Sie hatte fürs Erste genug erfahren. Ihr Magen rumorte, doch nicht vor Hunger. Hatte sie eine Stadt verlassen, um vor den Querelen sicher zu sein, verfolgten diese sie noch.

„Sam, die Comanchen haben Victoria angegriffen. Kann sein, dass sie auch hierherkommen. Sagtet ihr nicht, dass sie sich nur im Binnenland aufhalten?" Knurrend zog sie den Revolver aus ihrem Gürtel und legte ihn auf den Tisch. Konzentriert reinigte sie die Waffe, lud sie danach neu. Vorsicht war besser als Nachsicht.

„Die Indianer kamen noch nie hierher, weil andere Stämme in der Gegend leben. Ich glaube, sie lebten früher weiter nördlich, zogen erst später in das Gebiet, dass wir als Comanchería bezeichnen." Der alte Mann trat ans Fenster, schaute auf die Fläche davor. „Du solltest dir einen Plan überlegen, wie du zu handeln hast, falls sie hier auftauchen. Mit deinen roten Haaren fällst du auf. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie dich als Gefangene mitnehmen würden, als besondere Trophäe."

Jette schluckte. Gefangenschaft oder Tod standen nicht auf ihrer Wunschliste für die Zukunft. Sie schloss die Augen, hörte das Kriegsgeheul, die Schreie und die Schüsse, die sie oft in ihren Träumen heimsuchten. Obwohl sie fernab von San Antonio lebte und zu niemandem dort Kontakt hatte, ließen die Erinnerungen sie nicht los. Mal sah sie nachts, wie Clayton sich an der Indianerin verging, dann sackte der junge Comanche mit weit aufgerissenen Augen und durchschnittener Kehle vor ihr auf den Boden. Doch schlimmer empfand sie die Dinge, die ihr Gehirn ihr vorgaukelte, obwohl sie nie geschehen waren. Mehrfach war sie mit hart pochendem Herzen aufgewacht und dachte, noch immer ihre blutigen Hände zu sehen, die Sekunden vorher das tote Mädchen gehalten hatten. Wie es der Kleinen wohl in Gefangenschaft erging? Lebte sie noch oder hatten die Texaner sie und die anderen Gefangenen getötet?

„Ich gehe zum Fluss", rief sie Sam zu und stürmte aus der Hütte. Dort, im Dickicht verborgen, zog sie ihre Kleidung aus, legte diese fein ordentlich an die Seite. Es graute ihr davor, nach dem erfrischenden Bad wieder in die nach Schweiß riechenden staubigen Klamotten steigen zu müssen. Die Sauberen hatte sie im Haus vergessen. Aber verschwitzt und dreckig war man hier eh schnell. Wie oft hatte sie sich eine moderne Dusche mit dazugehörigem Duschgel und Shampoo gewünscht. Hier wurde Seife aus tierischen Überresten, Asche und irgendetwas anderem geköchelt. Aller Wahrscheinlichkeit der Grund, warum die Menschen sich nur mit Wasser wuschen, die selbstgemachte Schmierseife dagegen nur für Kleidung verwendeten. Körperhygiene war zu dieser Zeit nicht selbstverständlich. Sie erschauderte beim Gedanken daran, mit einem Mann intim zu werden, der sich vielleicht einmal im Monat wusch. Ein Würgen unterdrückend sprang sie ins Wasser.

Abends lag sie grübelnd im Bett. Gaben die Indianer sich mit den erbeuteten Pferden zufrieden oder gierten sie nach mehr Beute? Waren sie in Linnville sicher oder gefährdet? Sie versuchte krampfhaft, sich an die historischen Daten und Erzählungen von Pastor Hagedorn zu erinnern. Sie hatte ihm nicht zugehört, weil sie das Thema nicht interessierte und es keine Noten gab. Max und Jonas wäre das mit Sicherheit nicht passiert. Beide Jungs fanden die Indianer spannend, wenn auch nicht immer die Sachen, die ihnen auf der Kirchenfreizeit erzählt wurden. Wie es Max wohl ging? Vermisste jemand sie, außer ihren Eltern? Bereute ihre Mutter es, dass sie Jette auf die Freizeit geschickt hatte?

Tränen traten in ihre Augen. Die Idee, dass ihre Adoptivmutter sich die Schuld an ihrem Verschwinden gab, war unerträglich. Sie schluchzte leise. War es vielleicht möglich, einen Brief in die Zukunft zu schicken? Einhundertachtzig Jahre, um genau zu sein. Ja, damit wollte sie sich beschäftigen, ihren Eltern mitteilen, dass sie sich keine Sorge um sie machen sollten. Denn das änderte nichts an ihrer Situation. Außerdem hielt sie sich vor, hätte es sie weitaus schlimmer treffen können. Beruhigt schlief sie endlich mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen ein.

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