Kapitel 11

San Antonio, Texas, 19.03.1840

Mit wild klopfendem Herzen beobachtete Jette die bunte Schar, die auf ihren Ponys in die Stadt kam. Im Januar hatten drei Comanche einen weißen Jungen als Zeichen ihres guten Willens gebracht, um Friedensgespräche oder Ähnliches anzuleiern. Sie hatte zu dem Zeitpunkt Thomas kaum zugehört und biss sich nun nachdenklich auf die Unterlippe. Die Texas Ranger, die sie kannte, hatten ihr oft genug davon berichtet, wie blutrünstig die Indianer waren.

Zwölf prachtvoll gekleidete ältere Männer führten den Zug, bestehend aus Kriegern, Frauen und Kindern an. Vor allem der Häuptling an der Spitze, zumindest ging sie davon aus, dass die ersten Männer Häuptlinge waren, strahlte eine tiefe Ruhe und Würde aus. Seine Haut war vom Alter und der Sonne gezeichnet. Selbst die Gesichtsbemalung verdeckte nicht die vielen Falten. Jemand wie er war ein gefährlicher Mörder? Jette schüttelte den Kopf. Nein, das war nur schwer vorstellbar.

Sie riss sich von ihren Betrachtungen los und zählte schnell durch. Über sechzig Comanche waren gekommen. Doch wo waren die weißen Geiseln, die sie versprochen hatten mitzubringen? Clayton hatte etwas in der Art erwähnt. Die Indianer beanspruchten das Gebiet, das Comanchería genannt wurde, für sich. Dafür im Austausch hatten sie angeboten, Gefangene freizulassen. So sehr sie sich anstrengte, sie entdeckte keine Weißen unter ihnen.

Doch. Dort war eine Frau, inmitten der Indianerinnen, die weder eine Comanche noch eine Mexikanerin war. Ihren Kopf gesenkt hockte sie auf einem Reittier. Jette meinte, ein Zittern zu erkennen.

„Das muss Mathilda Lockhart sein", murmelte Catherine, die sich zu ihr gesellte. „Sie wurde vor anderthalb Jahren aus den Armen ihrer sie liebenden Familie gerissen. So wie weitere Kinder an dem Tag. Ein Wunder, dass sie noch lebt." Jette sah von der Arztfrau zu der weißen Gefangenen. Diese wirkte eher wie eine Puppe, nichts schien zu ihr durchzudringen. Traumatisiert von ihrer Zeit bei den Indianern. Clayton und Kevin hatten wohl doch recht, wenn sie die Comanche als blutrünstige Wilde bezeichneten. Andererseits sah der alte Mann so friedfertig aus.

„Dann hoffen wir mal, dass sie friedlich bleiben. Auch wenn unsere Miliz anwesend ist, ich traue dem Braten nicht." Thomas schlang den Arm um seine Frau und zog sie an seine Seite. Texas Ranger, Miliz. Beide Begriffe waren gängig. Jette konnte nicht sagen, welcher korrekt war. Was sie dagegen wusste, war, dass einer dieser Männer schnurstracks auf sie zulief.

„Thomas, bring sie lieber rein. Es könnte schnell ausarten. Mit diesen Wilden weiß man nie." Kevin wandte sich Jette zu. „Ich möchte doch nicht, dass meiner Hübschen etwas passiert." Fassungslos sah sie ihm hinterher, als er wieder zu seiner Gruppe verschwand. Seit dem gemeinsamen Abendessen und seinem Antrag vor knapp einer Woche, verhielt er sich besitzergreifender, obwohl sie ihm keine Antwort gegeben hatte. Die Ohnmacht an dem Abend hatte es verhindert. Sie war später in ihrem Bett aufgewacht, mit einer aufgewühlten Catherine an ihrer Seite. Seitdem vermied sie es, in Kevins Nähe zu kommen. Immer klappte es nicht.

„Kommt, wir sollten wirklich reingehen." Thomas sah Jette auffordernd an, doch sie zögerte. Sie war neugierig. Außerdem würden die Indianer wohl kaum angreifen, wenn sie ihre Frauen und Kinder dabeihatten. Das verbot jede Logik.

„Nein, ich beobachte noch ein wenig. Dann komme ich nach." Sie folgte den Comanche nach einigem Zögern, hielt sich aber im Hintergrund. Fasziniert sah sie, dass diese sogenannten furchteinflößenden Krieger allesamt kleiner, als sie selbst waren. Sie hatte sich Indianer immer größer vorgestellt. Allerdings war klein nicht mit ungefährlich gleichzusetzen, schalt sie sich sogleich. Sie sah noch, wie die Weiße vom Pferd gezogen wurde und sie schnell von mehreren Einwohnern der Stadt in ein Gebäude gebracht wurde. Jette erkannte eine Frau unter ihnen, Mary Maverick.

„Dann hat sie wenigstens jemanden um sich, mit dem sie reden könnte", murmelte sie und lief zum Haus des Arztes. Kurz bevor sie eintreten konnte, packte jemand sie an der Schulter und riss sie zurück.

„Mädchen, bleib gefälligst drinnen. Die verdammten Rothäute haben nur eine Geisel zurückgebracht. Sie hatten mehr versprochen, die widerlichen Hunde." Clayton spuckte aus in den Sand. Seine grauen Augen wirkten noch kühler als sonst. Sie zitterte und riss sich von ihm los. Eine böse Vorahnung machte sich in ihr breit. Es hielten sich seit einigen Tagen weitaus mehr Ranger als gewöhnlich in der Stadt auf und alle hassten die Indianer. Innerlich betete sie, dass niemand einen Fehler beging.

Am Nachmittag war die Lage in San Antonio noch immer entspannt, so dass sie trotz aller Warnungen einen Spaziergang machte. Die Schwarzmalerei Kevins und Claytons war überflüssig gewesen. Sie schlenderte in die Nähe des Gefängnisses, wo die Verhandlungen mit den Häuptlingen abgehalten wurden. Auf dem Platz davor demonstrierten einige junge Krieger ihre Künste mit Pfeil und Bogen. Eine Menschenmenge hatte sich um sie gescharrt und schaute gebannt zu.

Doch dann erklangen Schüsse und Schreie, die aus dem Gebäude zu kommen schienen, in dem die Unterredungen stattfanden. Chaos brach aus. Die Comanche, egal ob Krieger, Frauen oder ältere Kinder griffen die bewaffneten Weißen an oder auch umgekehrt. Jette konnte es nicht genau sagen. Stocksteif stand sie da und starrte fassungslos auf das Geschehen. Eine Kugel schlug neben ihr in einem Pfeiler ein, Holzsplitter flogen umher. Einer bohrte sich in ihren Oberarm. Der plötzliche Schmerz genügte, um sie aus ihrer Starre zu holen. Sie drehte sich um und rannte in eine Seitengasse. Der Weg zum Haus des Arztes war zu gefährlich. Aus allen Richtungen wurde geschossen.

Zwischen den Gebäuden hockte sie sich an eine Hauswand. Ihre Beine gaben nach und sie sackte auf den Boden. Die Hände vors Gesicht gepresst weinte sie leise. Wäre sie doch nur im Haus geblieben. So wie die Ranger es gesagt hatten. Ein erstickter Schrei ließ sie hochschrecken.

„Verdammte Rothaut", zischte ein Mann. Jette zuckte zusammen. Sie kannte die Stimme. Still und unbeweglich sah sie zu, wie er die Indianerin, die obendrein schwanger war, würgte. Deren verzweifelten Versuche, sich zu befreien, nahmen ab, bis sie schließlich bewegungslos vor ihm lag. Er schob ihr Kleid hoch und verging sich an ihr. Jette presste beide Hände auf ihren Mund. Sie saß halb verborgen hinter einer großen Holzkiste, so dass der Mann sie nicht bemerkte. Doch ihr entging nichts. Übelkeit stieg in ihrer Kehle hoch, als er fertig war, seine Hose hochzog und die Frau entblößt liegenließ.

Etwas Kleines, Dunkles huschte zu dem reglosen Körper, sowie der Mörder verschwunden war. Es warf sich auf die leblose Gestalt und wimmerte leise. Durch ihre eigenen tränenverhangenen Augen entdeckte Jette, dass es ein Indianerkind war. Ein Mädchen, denn es trug ein Wildlederkleid. Das Kind wurde von heftigen Weinkrämpfen durchgerüttelt.

„Scheiße, was mache ich jetzt nur?", murmelte Jette leise. Das Comanchemädchen sich selbst überlassen? Nach allem, was sie und das Kind vor einem Moment gesehen hatten? War ihr eigenes Wohlsein so viel wichtiger, als das Leben des Mädchens? Nein.

Jette verließ langsam ihre Deckung und näherte sich der Frau. Sie streckte ihre Hand aus, zog sie aber sogleich wieder zurück. War sie tot? Lebte sie noch und würde aus Verwirrung angreifen? Ob die Indianerin noch atmete, konnte sie wegen des Kindes, das auf deren Oberkörper lag, nicht erkennen. Sie holte einmal tief Luft und tastete am Hals nach einem Puls. Nichts.

Zweifelnd sah sie zu dem kleinen Mädchen. Hier draußen, in dem Chaos, konnte es nicht bleiben. Einige der Männer hätten keine Skrupel, es einfach umzubringen. Dessen war Jette sich sicher, nach dem, was sie angesehen hatte. Sie schüttelte sich angewidert, dann schob sie einen Unterarm unter das Kind und drückte ihre andere Hand auf den Kindermund. Vorsichtig zog sie das Mädchen von der Toten runter. Kleine Kinderhände zerrten an ihr, kämpften gegen den Verlust der Nähe zur Mutter an.

Wie erklärte man einem Kind, dass der wichtigste Mensch in seinem Leben tot war? Wie bekam man es dazu, dass es in einer gefährlichen Situation kooperierte? Jette hatte keinen blassen Schimmer. Sie sog ihre Wangen ein und kniff die Augen zusammen, während sie überlegte. Warum war sie nur so unfähig, richtige Entscheidungen zu treffen?

Das Mädchen hatte aufgehört, sich aus ihrer Umklammerung befreien zu wollen und weinte nur noch leise. Der kleine Kinderkörper zuckte unregelmäßig.

„Alles wird gut", flüsterte Jette ihr ins Ohr und schalt sich selbst sogleich. Das Kind verstand sie eh nicht. Und alles würde gut werden? Das war nicht mal ein schlechter Scherz, das war grauenhaft. Vorsichtig robbte sie mit dem Mädchen im Arm näher an die Tote heran und zog deren Kleid so runter, dass es wenigstens den Unterleib wieder bedeckte. Das war das Mindeste, was sie für die Indianerin tun konnte. Dann erhob sie sich mit dem Kind und schlich zum Anfang der Gasse.

Das Kampfgeschehen erstarb langsam. Das vorherige ohrenbetäubende Kriegsgeheul der Comanche war fast verstummt und wurde abgelöst von lautem Klagen. Jette arrangierte das Mädchen so in ihrem Armen, dass die Kleine seitlich auf ihrer Hüfte abgestützt saß. Sie hastete an den Gebäuden, an Leichen und Verletzten beider Seiten vorbei zum Haus des Arztes. Nur wenige Schritte trennten sie von den rettenden Mauern, als ihr zwei Kämpfende vor die Füße taumelten. Abrupt stoppte sie. Ein Texas Ranger kämpfte gegen einen Comanche, der vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war. Einer der Krieger, die zuvor die Einwohner der Stadt mit ihren Schießkünsten unterhalten hatten.

Der Weiße schlug den Jungen mit der Faust ins Gesicht, wodurch Letzterer benommen rückwärts taumelte. In einer flüssigen Bewegung zog der Ranger sein Messer aus dem Gürtel und stach in Raserei auf seinen Gegner ein, der auf den Boden sank. Ein Schrei entwich Jettes Mund bei dem Anblick, der sich ihr bot. Kevin bemerkte nicht einmal ihre Anwesenheit, sondern schnitt dem Comanche die Kehle durch. Danach packte er ihn grob am Schopf und trennte dem Krieger geschickt den Skalp ab, bevor er diesen in den Staub warf. Erst dann schien er zu bemerken, wer ihn beobachtete.

„Gib mir das Ungeziefer, das du da festhältst." Angewidert starrte sie ihn an. Blut tropfte vom Messer, das er noch immer fest umklammert hielt. Seine Kleidung war von Blutspritzern übersäht, und seine hasserfüllte Miene, die dem Kind in ihren Armen galt, jagte ihr Angst ein. Vorsichtig trat sie vor ihm zurück.

„Nun gib die kleine Kackerlacke schon her", schrie er sie unbeherrscht an. Sein Adamsapfel hüpfte dabei. Drohend kam er auf sie zu. Jette wich aus und hetzte an ihm vorbei. Würgend lief sie vorwärts, Tränen rannen über ihre Wangen. Er war ein Monster, ein blutrünstiges Tier.

Sie erreichte das Haus ohne einen weiteren Zwischenfall. An der Haustür, die jemand von innen aus öffnete, drehte sie sich kurz um. Kevin starrte sie noch immer voller Hass an. Sie oder das Kind, das war egal. Jette würde ihm die Kleine niemals überlassen.

„Komm rein Mädchen." Thomas packte sie am Arm und zog sie ins Haus, bevor er schnell die Tür schloss.

„Oh mein Gott. Was ist mit dir passiert?" Catherine stürzte auf sie zu, sah zwischen Jette und dem Indianermädchen hin und her. Stützte Erstere, als diese ins Wanken geriet. Der Arzt versuchte, Jette das Kind abzunehmen, aber sie umklammerte das Mädchen, das sich nur noch enger an sie schmiegte.

„Vertrau mir. Ich will sie nur untersuchen", sprach der Mann leise auf sie ein, doch sie schüttelte nur vehement den Kopf. Seufzend führte er sie in ihr Zimmer und drückte sie sanft runter. Jette setzte sich zitternd auf ihr Bett und atmete einige Mal tief durch. Dann sah sie in die besorgten Gesichter ihrer Gastgeber.

„Ist es wegen dem, was Kevin getan hat?", begann Catherine vorsichtig. Jette nickte und benetzte ihre Lippen. Sie wusste, dass sie das Erlebte mit ihnen teilen musste, wollte sie nicht durchdrehen.

„Clayton hat", sie stockte, das Bild der toten Indianerin kroch vor ihr inneres Auge, „er hat ihre Mutter vergewaltigt und ermordet." Sanft küsste sie das Mädchen auf die Schläfe. Die Kleine hatte sich etwas beruhigt und sah sie mit ihren großen dunklen Augen ängstlich an. Jette mochte sich gar nicht vorstellen, welche Angst das Kind in ihren Armen hatte.

„Die Frau war schwanger", fügte sie noch hinzu, weil beide Erwachsenen still geblieben waren. Die Arztfrau schnappte nach Luft, auch der Arzt verzog voller Schmerz das Gesicht.

„Kevin hat wie von Sinnen auf einen jungen Comanchen eingestochen. Er war im Blutrausch." Neue Tränen liefen herunter und sie wiegte sich mit dem Kind im Arm hin und her. „Er wollte, dass ich sie ihm gebe. Er war so voller Wut, ich..." Jette brach ab und zitterte. Zu groß war die Angst, er könnte ins Haus stürmen und das kleine Mädchen töten. Doch dafür musste er erst sie umbringen. So lange sie lebte, bekam er das Kind nicht!

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