Kapitel 10

Februar 1840, San Antonio Texas

Den Winter hatte sie ohne größere Probleme überstanden. Zum Einen, weil es in Texas nie wirklich kalt wurde, zum Zweiten hatte Clayton keine weiteren Bemerkung Richtung einer Heirat gemacht. Oft genug bemerkte sie, wie er sie beobachtete, wenn sie in der Stadt etwas für Catherine erledigte, hielt sich ihr aber fern. Kevin dagegen besuchte sie regelmäßig im Haus des Arztes oder begleitetet sie auf ihren Wegen. Jette schätzte seinen Sinn für Humor. Die Art, wie er von seiner Arbeit als Ranger berichtete, war mitreißend und entlockte ihr immer wieder ein Schmunzeln.

„Wir erwarten heute Abend zum Essen Besuch", teilte Catherine ihr lächelnd mit. „Wie wäre es, wenn du mir bei den Vorbereitungen hilfst?" Das Mädchen nickte. Im vergangenen Monat hatte die Arztfrau verstärkt dafür gesorgt, dass Jette kochen und andere notwendige Tätigkeiten und Handgriffe lernte.

Die Rothaarige dachte grinsend an den Moment zurück, als herausgekommen war, dass sie es zuvor nicht gelernt hatte. Im einundzwanzigsten Jahrhundert benötigte sie es als Teenager nicht, irgendwelche ausgeklügelten Speisen auf den Tisch zu bringen. Anno achtzehnhundertvierzig sah die Sachlage völlig anders aus. Mädchen wurden in einem jungen Alter an die üblichen Tätigkeiten einer Frau herangeführt. Da sollte sich in ihrer normalen Zeit noch einer über Rollenbilder aufregen. Die waren im Vergleich zum Wilden Westen harmlos.

Sie überlegte, wie oft ihr Selbstwertgefühl einen Dämpfer in San Antonio erhalten hatte. Einen Beruf zu erlernen war für Mädchen schier unmöglich. Das Leben als Ehefrau und Mutter war den meisten vorbestimmt. Nur wenige stellten sich dagegen. Diese arbeiteten als Tänzerinnen im Saloon oder als Lehrerin. Beides waren Berufe, die Jette nicht zusagten. Dank Thomas lernte sie den Umgang mit Wunden und Krankheiten, doch ein Medizinstudium lag nicht in ihrer Zukunft. Nicht, weil das Geld fehlte, sondern weil es ihr als Frau nicht erlaubt war.

Sie hatte oft über Claytons Worte nachgedacht. An manchen Tagen schien es so, als ob sich alle unverheirateten Männer es in den Kopf gesetzt hatten, sie zu heiraten. Die Kerle versuchten, einander regelrecht zu übertrumpfen, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Was meist durch einen gewissen Texas Ranger durchgekreuzt wurde. Kevin O'Flaherty. Er hatte sie mehrfach aus prekären Situationen gerettet, wenn ein Typ sich weigerte, sie gehen zu lassen. Mit ihm legten die Männer sich nicht an, nicht mit ihrem Beschützer.

Was war er für sie? Das Mädchen schloss kurz ihre Lider, stellte sich den jungen Texas Ranger vor. Seine blauen Augen, die sie an einen wolkenfreien Himmel erinnerten, und mit denen er sie immer wieder liebevoll betrachtete. Seine strohblonden Haare, die meist in alle Richtungen abstanden, wenn er seinen Hut abnahm. Sie gestand sich ein, dass er und die Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte, gefiel. Dennoch störte sie eine Kleinigkeit. Er war bereits zweiundzwanzig Jahre alt, somit knapp sechs Jahre Altersunterschied, den sie schwerlich ignorieren konnte. Die anderen Männer waren zum Teil nochmals fünf Jahre älter. Sie schüttelte sich angewidert.

„Ich habe noch Zeit, bis ich heirate", murmelte sie zu sich selbst. Catherine hatte gerade den Raum verlassen, so konnte Jette in Ruhe über das leidliche Thema nachdenken.

„Meine Eltern würden beide einen Herzinfarkt vor Schreck bekommen, würde ich so früh einem Kerl das Ja-Wort geben." Sie blinzelte wehmütig eine Träne bei dem Gedanken weg, die zwei wichtigsten Menschen in ihren Leben nie mehr zu sehen. So sehr sie versuchte, sich an das Leben in San Antonio anzupassen, so unwirklich kam es ihr oft vor. Warum war sie überhaupt auf diese Jugendfreizeit mitgekommen? Nicht nur, dass es ihre Eltern wenigstens tausend Euro gekostet hatte, der Flug allein war schon teuer, nein, es hatte Jette ihr altes, sorgenfreies Leben genommen.

„Ein nimmerendender Alptraum", knurrte sie leise. Zuhause hätte sie nicht einmal einen Gedanken an Kevin verschwendet. Abgesehen davon hätte er sie als zu jung empfunden und sich gar nicht erst für sie interessiert. Damit hätte es das ganze Problem nicht gegeben. Schule, Studium, das wäre ihr Weg gewesen.

So viel Konjunktiv, doch keine Lösung in greifbarer Nähe.

„Jette, kommst du bitte?" Innerlich fluchend kam das Mädchen Catherines Aufforderung nach. Sie mochte die Frau und vermied es, ihr Einblick in ihr Seelenleben zu geben. Diese würde sich nur um sie sorgen. Abgesehen davon würde die Ehefrau des Arztes die Hälfte nicht verstehen oder sie gar für verrückt erklären. Vielleicht war sie das mittlerweile auch.

„Wir müssen es noch ausnehmen, häuten und das Fleisch kleinschneiden." Fassungslos starrte Jette auf das tote Tier zu ihren Füßen. Bei der Aussicht darauf, in dessen Eingeweiden herumzuwühlen, verkrampfte ihr Magen. Ein weiterer Grund, nicht zügig zu heiraten, sonst würde sie ihrem zukünftigen Ehemann ein vegetarisches Dasein aufzwingen. Oder, ihre bevorzugte Alternative, für immer Single zu bleiben. Doch dann benötigte sie eine Arbeit, von der sie leben konnte. Womit sie wieder bei ihrem anderen Problem war.

„Catherine, womit könnte ich mir den Lebensunterhalt verdienen?" Stirnrunzelnd hockte sie sich neben die ältere Frau, die der Gabelantilope methodisch das Fell abzog. Die Angesprochene schaute kurz hoch.

„Kleidung der Texas Ranger waschen, Näharbeiten oder als Hilfskraft im Hotel. Doch beantworte mir eine Frage. Warum willst du dir Arbeit suchen? So wie du uns unterstützt, brauchst du das nicht. Und später, wenn du verheiratet bist, hast du sowieso mit dem Haushalt und den Kindern genug zu tun."

Wieso ging jeder davon aus, dass sie bald heiratete? Sie hatte noch nicht einmal einen festen Freund. Wenn sie eine Beziehung einging, wollte sie nicht sofort vor den Traualtar treten. Erst wollte sie sich überzeugen, dass er der Richtige war.

„So schnell werde ich nicht heiraten." Das Mädchen schüttelte vehement den Kopf.

„Warum nicht? Ich war fünfzehn, als ich Thomas geheiratet habe. Nur leider hat der Allmächtige uns keine Kinder gegeben." Catherines Augen verloren ihren sonstigen Glanz. Jette zweifelte, ob sie fragen durfte, was ihr auf der Seele brannte.

„Kannst du keine bekommen oder ...?" Den Rest des Satzes verschluckte sie.

„Ich war einmal schwanger. Am Tag der Geburt, bei den ersten Wehen, stürzte ich schwer." Die Frau schluckte hörbar. „Thomas konnte mein Leben retten, aber nicht das unseres Kindes. Danach wurde ich nicht mehr schwanger, egal wie oft wir es versuchten."

„Das wusste ich nicht." Jette senkte ihr Kinn auf die Brust, vermied es, Catherine anzuschauen. Die ganze Angelegenheit war ihr unangenehm. Die Frau vor ihr hatte Furchtbares erlebt, hätte vor einer weiteren Schwangerschaft panische Angst haben müssen. Stattdessen hatte sie sich sehnlichst ein Kind gewünscht. Das Mädchen verstand, warum Catherine ihr eine Ehe schmackhaft machen wollte, doch sah sie eine andere Zukunft vor sich. Eine, in die sie sich zurücksehnte. Wenn sie nur einen Weg dorthin fand. Sie seufzte leise. Es war hoffnungslos. Wut über ihre Situation verspürte sie nur noch selten. Vielmehr deprimierte sie die Lage, in der sie sich befand. Nicht an normalen Tagen. Nur wenn die Gespräche ihr bevorstehendes Leben ansprachen.

„Wer kommt eigentlich heute zum Essen?", lenkte sie nach einer Weile vom Thema ab.

„Clayton Howell und Kevin O'Flaherty. Die beiden Ranger, die dich zu uns gebracht haben. Der Jüngere hat ein Auge auf dich geworfen." Catherines Stimme hatte einen so warmen und liebevollen Klang angenommen, dass Jette verdutzt zu ihr sah. Die ältere Frau lächelte sie verschmitzt an. „Ich weiß, dass du dich für eine Ehe noch zu jung fühlst. Doch sollte er dich fragen, um deine Hand anhalten, denke bitte über sein Ansuchen nach. Männer wie er sind selten und damit kostbar."

Sprachlos stand das Mädchen auf und verschwand im Haus, ohne sich noch einmal umzusehen. Ihr Verhalten war unhöflich, das war ihr bewusst. Dennoch zog sie es der Alternative vor. Sie warf sich auf ihr Bett, presste das Kopfkissen auf ihr Gesicht und schrie ihre Wut hinein. Ihr Herz klopfte hart und schnell in ihrer Brust. War er einfach ihr Beschützer oder erwartete er eine Gegenleistung? Nein, sie schüttelte den Kopf. Er war nur ein Freund, korrekt?

Es dauerte noch eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte. Dann lief sie zur Küche, aus der sie Geräusche hörte.

„Kannst du bitte das Gemüse schneiden?" Wenn Catherine von Jettes Verhalten irritiert war, ließ sie es sich nicht anmerken. Stattdessen galt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Fleisch, das sie in Würfel schnitt. Das Messer glitt fast wie von selbst durch das zarte Gabelantilopenfleisch.

Obwohl sie sich beim Anblick des toten Tieres im Hinterhof geekelt hatte, freute sie sich auf die Mahlzeit. Es war eine willkommene Abwechslung zu den üblichen Nahrungsmitteln. Vielleicht würde der Abend entgegen ihrer Erwartung ganz nett werden. Mit neuem Elan schnitt sie die wilden Zwiebeln, Tomaten und Jalapenos klein.

„Bereitest du danach bitte den Teig für das Bannockbrot vor?" Jette nickte und mischte Mehl mit einer Prise Salz und mit Wasser. Backtriebmittel wurden für das Pfannenbrot nicht benutzt. Stattdessen backte man es zuerst in glühender Asche, wodurch es eine sehr dunkle Farbe bekam. Danach wurde es in einer Pfanne zu Ende gebacken. Ursprünglich hatte das Mädchen das Brot bei den Mahlzeiten links liegengelassen. Der Gedanke, dass es in Asche gelegen hatte, war zu unappetitlich. Doch mit der Zeit hatte sie es schätzen gelernt.

Als der Abend hereinbrach, war es still im Haus des Arztes. Er selbst las in einem seiner Medizinbücher, während seine Frau an einer Näharbeit arbeitete. Jette kämpfte ebenfalls mit der Seitennaht einer Hose, die sie für Thomas ausbesserte. Jemand klopfte an die Haustür. Alle drei sahen von ihrer Arbeit hoch.

„Jette, öffnest du bitte die Tür und lässt unsere Gäste hinein?" Catherine legte Stoff und Nadel zur Seite und eilte in die Küche, noch bevor sie eine Antwort erhielt. Jette stand ebenfalls auf und lief zur Vordertür. Sie drückte die schwere Klinke hinunter.

„Guten Abend Jette." Die beiden tiefen Stimmen jagten ihr einen Schauer den Rücken entlang. Schnell trat sie zur Seite und ließ die Männer eintreten, musterte sie dabei. Sowohl Clayton als Kevin trugen über ihren weißen Hemden schwarze Westen zu ihren ebenfalls dunklen Hosen. Ohne die roten Halstücher hätten sie eine gewisse Ähnlichkeit zum Totengräber gehabt. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben bei dem Vergleich.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen." Verschmitzt grinste Kevin und sie wandte sich errötend ab. Sie ballte leicht die Fäuste. Warum nur hatte sie sich beim Starren erwischen lassen? Ein Seitenblick verriet ihr, dass zumindest Clayton es nicht mitbekommen hatte. Er war bereits zu Thomas gegangen und hatte sie ihrem Schicksal überlassen.

„Ich würde nach dem Essen gern einen Spaziergang mit dir unternehmen." Kevins sonst so vergnügter Blick machte auf sie einen bittenden, fast bettelnden Eindruck. Zögernd nickte sie. Etwas an seinem Verhalten war anders. Andererseits, womöglich bildete sie es sich nur durch die Gespräche mit Catherine ein.

Das Abendessen in gemeinsamer Runde entpuppte sich als ein interessanter Abend. Die beiden Texas Ranger erzählten Geschichten von ihren Kämpfen gegen die Mexikaner und die Indianer. Einen Teil kannte Jette bereits von Kevin, doch die Art, wie Clayton ihnen von den Geschehnissen berichtet, war weitaus mitreißender. Er war ein geborener Geschichtenerzähler, gab sie im Stillen zu. Seine Gestik und Mimik brachte sie zum Lachen. Es war das erste Mal, dass sie seine Gesellschaft genoss. Meist war sie in seiner Anwesenheit auf der Hut. Denn er hatte auch etwas Düsteres an sich.

Nach dem Essen begleitete sie Kevin nach draußen. Sie hatte ihm einen gemeinsamen Spaziergang versprochen und hatte nicht vor, ihr Versprechen zu brechen. Es war an diesem Abend frischer als sonst. Sie schauderte, als ein Windzug sie unerwartet traf, und sie rieb frustriert ihre Arme. Kevin blieb stehen, weshalb sie ebenfalls stoppte. Er legte seine Hände auf ihre Oberarme. Beide Stellen brannten von einer ungewohnten Wärme. Verlegen schaute sie weg.

„Jette, der Grund warum ich mit dir allein sein wollte," er holte tief Luft, „wir kennen einander jetzt so lang und ich wollte dich etwas fragen." Überrascht sah sie ihn an. Der sonst verspielte Ausdruck in seinen Augen war verschwunden, hatte Platz gemacht für einen liebevollen, zärtlichen Blick. Wärme strömte von seinem Körper zu ihr.

„Werde meine Frau!" Sie riss sich abrupt von ihm los. Die Kälte umklammerte sie sofort. Ihr Magen verkrampfte und sie schnappte nach Luft. Statt ihm eine Antwort zu geben, drehte sie sich um und rannte zurück zum Haus. Drinnen stieß sie fast mit Clayton zusammen, der sie aufhielt.

„Du solltest sein Angebot annehmen", hörte sie seine tiefe Stimme, bevor Dunkelheit sie umhüllte.

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