2 | von Listen und Sünden
Also, Physikunterricht.
Gelernt habe ich da bis jetzt nur eine Sache, nämlich dass man Mr Faley lieber nicht verärgert. Also bin ich eine brave Schülerin und besuche sogar seinen Unterricht. Am liebsten hätte ich in der letzten Reihe gesessen, aber dahin haben sich in der ersten Stunde schon Payton und Petra Adams verschanzt und so nahe möchte ich denen nun auch wieder nicht sein. Hätte was von Folter.
Also sitze ich auf meinem Platz in der vorletzten Reihe, einem Einzeltisch, und hole einen Collegeblock und mein Physikbuch raus, um so zu tun, als würde mich der ganze Scheiß hier auch nur halbwegs interessieren. Außerdem einen Werbekugelschreiber, diese Dinger die man immer überall findet und nicht weiß, wo sie herkommen. Vielleicht vermehren die sich ja wie Ratten oder so. Gibt es dann vielleicht Kugelschreibergift? Vielleicht ja Bleichmittel oder Alkohol oder so. Oh Gott, meine Gedanken.
„O. M. G.!", kreischt Payton hinter mir und ich vermisse die beruhigende Wirkung meiner Kopfhörer. Aber Mr Faley würde mich umbringen, wenn ich die jetzt rauskrame. Es kotzt mich an wie sie mit ihrer unglaublich nervigen Stimme jede einzelne Silbe betont. Wahrscheinlich reden sie über Petras neueste Affäre.
„Carter hat mir voll den süßen Blumenstrauß geschenkt, kurz nachdem Drake abgehauen war!", kichert Petra und Payton stößt lautes Gelächter aus. Sie ist die Sorte Mensch, die vollkommen unfähig ist, leise oder zumindest in normaler Lautstärke zu sprechen.
Aber Drake. Was zur Hölle? Ich muss später unbedingt mit Jace und ihm darüber reden, die Vorstellung von ihm und Petra ist unglaublich widerlich, ich ziehe schon wieder einen Besuch auf dem Klo in Frage. Ich will mich übergeben.
Aber irgendwie freue ich mich auf eine verdrehte Weise über Petras dämliches Verhalten. Carter tut mir auch nicht wirklich, immerhin ist es Carter Blum! Er hat das irgendwie verdient aber schon vom Prinzip her muss ich Petra einen Eintrag verpassen. Während Faley also mit seinem monotonen Gelaber beginnt, greife ich in meinen Rucksack und ziehe mein Buch hervor. Rachel Collins Buch der Sünden.
Ich höre mich an wie diese Kirchenleute, Pfarrer oder Priester oder Päpste. Der Papst. Es gibt nur einen davon, glaube ich. Sünden. Ich mag das Wort irgendwie.
Vielleicht ist es abgedreht, das Buch meine ich. Ich vermute, dass niemand außer mir ein Buch hat, in dem er die Sünden und Fehltritte der gesamten Schule festhält. Das habe ich meiner guten Beobachtungsgabe zu verdanken. Schwer zu glauben, aber eigentlich kann ich mir Dinge ziemlich gut merken. Und wenn es um den neuesten Klatsch von der Schule geht, bin ich bestens informiert. Ich lausche und stalke die Leute. Natürlich unabsichtlich, schließlich kann ich nichts für Paytons lautes Stimmorgan.
Ich schlage das kleine Buch auf – schwarz, Hardcover, vermutlich geklaut – und blättere durch die Seiten. 90 karierte Blätter voll mit Namen und Vergehen. Interessant, was man so aufschnappt, wenn der Schultag mal wieder lang ist. Plötzlich bleibe ich bei einem Eintrag zu Serena Philly hängen. Ich mochte sie immer, aber auf dem Schulklo zu rauchen zähle ich als Vergehen. Immerhin hat es dort danach unglaublich gestunken und Fenster gibt es nicht. Zumindest keine, die sich öffnen lassen. Doch Serena ist keine Widerholungstäterin.
Alle zwei Namen bemerke ich Wiederholungen in der schlichten, kugelschreiberblauen Schrift. Petra Adams. Carter Blum. Während sich Petras Sünden auf unmoralische und asoziale Bitchmoves beschränken, weiß ich über Carter ganz anderes. Anscheinend nimmt er Drogen (gut, das tut mein Bruder auch aber nicht in der Schule), er zieht kleine Kinder ab und er hat irgendetwas mit Körperverletzung gemacht. Hat zumindest Petra erzählt.
Carter Blum ist so ziemlich der Mensch, für den mich alle halten. Nur das er nicht mit drei Typen die Woche schläft und nebenberuflich Nutte ist. Das gehört zu den Dingen, die ich über mich selbst so höre. Hätte jemand anderes dieses Büchlein verfasst, wäre ich wahrscheinlich der häufigste Name. Nur das dieses Ranking auf Lügen aufgebaut wäre.
Ein Ranking! Das ist die Idee, wie ich diese Stunde herumbekomme. Doch als ich bei der letzten Seite angekommen bin, seufze ich auf. Voll. Das Buch ist endgültig voll und ich sollte ein neues besorgen. Vielleicht bitte ich Jace, mir eins zu klauen. Schließlich ist er mein Bruder und soll mich vor Dummheiten bewahren. Er kann das so viel besser als ich.
„Miss Collins, was finden sie an Inertialsystemen denn so frustrierend?", reist mich Faleys Stimme aus den Gedanken. Der Typ ist der größte Arsch, er hat einfach Probleme mit mir! „Keine", flöte ich also übertrieben freundlich und reiße übertrieben laut ein Blatt aus meinem Collegeblock. Ich blicke mit einem starren Lächeln auf dem Gesicht zu dem kleinen Lehrer, der anscheinend überlegt, ob er mich weiter nerven sollte. Die Antwort lautet nein.
Fast stoße ich erleichtert einen Schwall Luft aus, als er abdreht und etwas Undefinierbares an die Tafel kritzelt. Ich lasse meinen Blick über die Klasse schweifen und die meisten sehen wirklich begeistert aus. Sarkasmus ist toll. In der ersten Reihe sitzt Saige und dreht sich nun zu mir um, mit einem Grinsen im Gesicht. Ich finde, sie sieht aus wie Voldemort mit Nase. Mit verdammt hässlicher Nase.
Schnell senke ich meinen Kopf und starre auf das karierte Blatt. Wie fange ich an?
Ich habe schon immer Listen geliebt. Damals, als Mom noch treu und Dad noch nüchtern war habe ich immer die Einkauflisten gemalt, indem ich geguckt habe, was wir nicht mehr im Kühlschrank haben. Ich war ein süßes Kind.
Unser Leben hat sich seitdem ganz schön verändert. Dad liegt die ganze Zeit besoffen auf der Couch, Mom schläft mit anderen Typen und arbeitet in irgend so einer Tanke. Vielleicht ist sie auch Nutte, ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, aber wenn ich ein Typ wäre, würde ich nicht mit ihr schlafen wollen. Meine Mom sieht echt nicht mehr gut aus, seit sie mal meinte ihr Gesicht operieren lassen zu müssen.
Ich habe eine Liste mit Alkoholsorten, die Dad trinkt und wie sich seine Stimmung durch sie verändert. Wodka ist am besten, dann wird er ruhig und pennt irgendwann ein. Ich habe eine Liste von den Namen der Typen, mit denen meine Mom hinter Dads Rücken telefoniert und sich trifft. „Carl" scheint echt gut im Bett zu sein. Und ich habe eine Liste mit Sachen, die mein Bruder Jace schon geklaut hat. Er hat gemeint, irgendwann wenn er reich ist zahlt er den ganzen Scheiß zurück. Das ist zwar genauso realistisch wie ich an einer Universität aber ich lasse ihn in dem Glauben. Jace ist cool.
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