52. Kapitel: Frühlingsgefühle
Der Winter neigte sich dem Ende zu. Während Samuel Harper weiterhin wie ein Eiszapfen reglos im Krankenflügel verharrte, durchbrachen die Tentakeln des Riesenkraken die Eisschollen auf dem schwarzen See und die erstarrte Wasseroberfläche wurde wieder beweglich.
Die Frühlingsgefühle machten auch vor den Hexen und Zauberern keinen Halt. Und die Herzen einiger Jugendlicher schmolzen im milden März dahin. Professor Dippet beäugte die knutschenden Hexen und Zauberer missmutig auf dem Weg zu seinem Büro. Und Tom hatte seit einigen Tagen immer wieder verdächtig duftende Pralinenschachteln auf seinem Nachttisch gefunden. Dem Vertrauensschüler mit den makellosen Wangenknochen flogen viele Mädchenherzen zu, die hoffnungsvoll wie Schmetterlinge um ihn herum flatterten.
Doch Ava Starling, die sich in der Luft deutlich graziler als ein wild flatternder Falter bewegte, ließ sich trotz der Bemühungen des Musterschülers nicht einfangen. Sie tangierte Tom weiterhin nur mit Kälte. Die Lobessänge, Schmeicheleien und Bewunderungen seiner Freunde reichten kaum aus, um den auflodernden Frust zu ersticken.
Der Zorn wuchs aus dem Jugendlichen heraus und bahnte sich seinen Weg in die Flure der Schule. Hinaus aus Tom Riddles Fingerspitzen wuchsen kleine strafende Knospen heran, die Unschuldige büßen ließen. Hätte eine aufmerksame Lehrkraft hingesehen, wäre deutlich geworden, dass Mädchen, die den hübschen Vertrauensschüler belagerten immer häufiger mit unangenehmen Verhexungen im Krankenflügel auftauchten. Keine von ihnen konnte sich jedoch ganz erklären, wie es zu den schmerzhaften Forunkeln oder dem nicht zu stoppenden Nasenbluten kam. Die Heilerin vermutete inzwischen eine Art Grippepandemie bei den jungen Hexen.
Auch die mysteriösen Überfälle hatten sich mit Toms sinkender Laune gehäuft. Neben Samuel Harper lagen nun drei weitere muggelstämmige Schüler im Krankenflügel. Alle hatten die gleichen Symptome. Sie waren reglos, ihre Gliedmaßen ließen sich nicht bewegen, ihre Augen starrten ins Leere. Aber die Lehrer kamen nicht darauf, was ihren Schutzbefohlenen fehlte. Immerhin schienen sie noch zu leben, soweit man das beurteilen konnte. Tom war beinahe gelangweilt, dass niemand eine Verbindung zwischen den Opfern und ihrem Blutstatus feststellte. Niemand schien die Absicht hinter den Vorkommnissen erkennen zu wollen.
Wenn Tom nicht grade damit beschäftigt war, seinen Frust an jemand anderem auszulassen, verkroch sich der Vertrauensschüler in der unterirdischen, geheimen Kammer. Dort fand er Ruhe und konnte seine Gedanken frei kreisen lassen. Hier unten gab es keine verliebten Paare, keine kichernden Mädchen und auch keine aufdringliche Walburga. Das alles waren Faktoren, die Tom von seiner eigentlichen Aufgabe ablenkten. Denn obwohl nun bereits vier Schüler versteinert waren, lebten sie streng genommen alle noch, was die Folge einer Verkettung von Zufällen war.
Der eigentlich todbringende Blick der Schlange war in jedem der vier Fälle gebrochen worden. Während Samuel Harper die Schlange in der Spiegelung eines Kochtopfes erblickt hatte, war das zweite Opfer im Mädchenklo überrascht worden. Nachdem die Gryffindorschülerin eine Schachtel mit Liebesgetränkten Pralinen für Tom prepariert hatte, wollte sie noch schnell ihre Frisur richten, als sie im Spiegel die goldenen Augen der Schlange erblickte.
Das dritte und vierte Opfer waren zwei Schüler aus dem Abschlussjahrgang. Das frisch verliebte, glückliche Pärchen hatte in einem Korridor im ersten Stock rumgeknutscht, während Peeves der Poltergeist damit beschäftigt war, das ganze Stockwerk zu überschwemmen. Sie hatten die Schlange durch die Pfütze auf dem Boden erblickt.
Sollte der Erbe von Slytherin nicht eigentlich die Schule von Schlammblütern reinwaschen und diese nicht nur in den Krankenflügel verfrachten? Bis jetzt wurde das eigentliche Problem ja nur verlagert, statt beseitigt. Doch Tom war einfach nicht mit vollem Herzen bei der Sache. Er war abgelenkt.
Ein Jäger, der wahllos in die Luft schoss, würde vielleicht aufschreckende Vögel am Flügel treffen. Doch es benötigte den fokussierten Schuss ins Herz, um den Tieren ihr Leben zu rauben, statt sie nur vom Himmel zu holen. Allerdings lag Tom Riddles Fokus nicht auf den armseligen Schlammblütern, die wie lästiges Ungeziefer um ihn herumflatterten. Er verfolgte keine dummen Tauben, sondern einen Raben, dessen Gefieder blau schimmerte.
Hier unten in der dunklen Kammer folgten seine Gedanken dem Flügelschlag des schönen Vogels bis hinauf zum Quidditchfeld, wo sich die Sucherin der Ravenclaws dem Slytherin am liebsten aus dem Weg ging und jede freie Minute nutzte, um sich auf das nächste Quidditchspiel vorzubereiten. Sie jagte dem goldenen Schnatz hinterher, während der dunkelhaarige Junge auf dem kalten Steinboden saß. Die monströse Schlange hatte sich neben dem Erben zusammengerollt. Die goldenen Augen geschlossen, kitzelte die gespaltene Zunge aufmunternd seine Hand. Das Notizbuch lag aufgeschlagen auf seinem Schoß und wartete auf einen genialen Plan oder zumindest eine nächste leise Idee.
"Morgen versuchen Charles und Theo dir was neues zu Fressen mitzubringen. Der Wildhüter hat seine letzten Hühner sicher weggesperrt", murmelte er fürsorglich auf Parsel. Er wusste, dass das Tier hungrig war und seine Freunde bald etwas besseres anschleppen sollten. Doch die Schlange beschwerte sich nicht, grummelte stattdessen melodisch und drückte den schweren Kopf verständnisvoll etwas dichter an den Arm des Jungen.
***
Einen Tag später, es war Freitag und die Sonne schwand bereits langsam hinter dem verbotenen Wald, bogen Tom, Theodore und Charles auf dem Weg zum Abendessen an einem versteckten Seitenausgang des Schlosses ab. Seit den Überfällen war es den Schülern ab Achtzehnuhr eigentlich nur mit Sondererlaubnis gestattet, die Ländereien zu betreten. Doch der Basilisk brauchte unbedingt frisches Fleisch und Tom wollte das Tier nicht länger warten lassen. Während die hungrigen Mäuler in der großen Halle ihren Hunger beim Abendessen stillten, konnten die drei Jungs nun ungestört und unbeobachtet auf Jagt nach Beute gehen.
"Wofür brauchst du eigentlich ständig tote Tiere, Riddle?", schnaufte Theodore, als sie einen kleinen Trampelpfad betraten.
Tom zuckte mit den Schultern, während er an einer Zigarette zog: "Ich versuch mich grad in spezieller, dunkler Magie." Diese Antwort genügte seinen Freunden wohl, die insgeheim erleichtert waren, dass tote Hühner oder andere Tiere, statt ihrer als Versuchskaninchen herhalten sollten.
"Ich hab letztes Wochenende auf dem Weg nach Hogsmead eine Herde Schafe gesehen. Vielleicht können wir davon zwei Tiere entführen?", schlug Charles vor.
Tom nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette: "Klingt gut." Mit großen Schritten ging er voran. Obwohl sich langsam der Frühling bemerkbar machte und Schneeglöckchen aus dem Boden sprossen, war es noch immer unangenehm kalt und er wollte möglichst schnell zurück im Schloss sein.
Die Türme des Quidditchfeldes hoben sich groß und schwer aus dem matschigen Boden vor ihnen empor, als Tom plötzlich innehielt. Er hatte die blauen Umhänge der Ravenclaws entdeckt. Anscheinend reizten auch die Quidditchspieler die Ausgangssperre aus.
"Charles, Theodore... Schafft ihr das mit den Schafen auch zu zweit?"
Charles zuckte grimmig mit dem Kopf: "Wenns sein muss."
Die Freunde nickten einander zu und eilten weiter. Sie waren inzwischen Profis darin, Tiere einzufangen, zu töten und in einen dunklen Korridor zu legen. Sie waren so gut darin, dass der Wildhüter Ogg ziemlich verzweifelt seine letzten beiden Hühner in einen Käfig in seiner Hütte gesperrt hatte.
Theo und Charles trampelten also zum unverschlossenen Eingangstor und Tom schlenderte möglichst gelassen zum Spielfeld. Das blasse Marmorgesicht gab sich große Mühe gelangweilt die Rasenfläche abzusuchen. Das Training musste bald vorbei sein, schließlich gab es Abendessen. Und tatsächlich, während Tom sich gegen einen Holzträger lehnte, kam bereits Hannah Thomson, eine der drei Jägerinnen der Mannschaft, an ihm vorbei.
Sie musterte den Slytherin misstrauisch, rief ihm dann aber erstaunlich freundlich ein: "Hey, Riddle!", zu, während sie durch den Schlamm stapfte. Weitere Spieler passierten den hochgewachsenen Vertrauensschüler. Sie alle beeilten sich, das Schloss schnell zu erreichen, um der Ausgangssperre zuvorzukommen. Ava und Benjamin Bagman waren die letzten auf dem Spielfeld. Der großgewachsene Kapitän schielte ein paar Mal zu Tom herüber, aber Ava stand mit dem Rücken zu Tom und ignorierte den Zuschauer. Sie würdigte ihn keines Blickes.
Stattdessen schenkte Ava all ihre Aufmerksamkeit der hitzigen Diskussion mit Benjamin. Ihre Hände fuchtelten wild in der Luft, als wolle sie einen Spielzug erläutern und Bagman schüttelte immer wieder heftig mit dem Kopf. Wieder blinzelte er zu Tom herüber. Beugte sich zu der blonden Sucherin vor, als würde er ihr etwas zuflüstern wollen.
Ava warf darauf hin den Kopf in den Nacken und lachte. Tom schnippte die Zigarette auf den Boden und trat sie aus, wobei etwas Schlamm auf seinen Umhang spritze. Er hatte erwartet, dass die beiden über das Training sprachen, aber je länger er zusah, desto klarer wurde ihm, dass da mehr im Gange war. Seine eiskalte Fassade begann zu bröckeln, und Eifersucht überflutete ihn.
Ava und Bagman sprachen nicht über Quidditch - zumindest nicht ausschließlich. Ihre Gesten wurden intimer, ihre Lächeln vertrauter. Immer wieder berührte der Kapitän die Schulter der blonden Hexe. Tom konnte sehen, wie sie sich näher kamen, ihre Köpfe beinahe zusammenneigten, als würde Ava mit dem Quidditchkapitän ein Geheimnis teilen wollen. Der Magen des Slytherin zog sich zusammen, und sein Blut begann allzu vertraut zu brodeln.
Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu verstehen, was da vor sich ging. Dann passierte es. Ava lächelte Bagman an, als dieser schon wieder eine Hand auf ihre Schulter legte. Doch die Hand blieb nicht dort, sie wanderte am Nacken des Mädchen hoch, legte sich an ihre Wange. Es war eine zärtliche Geste, die Tom fast dazu brachte, auf den Platz zu stürmen und Bagman Flüche auf den Hals zu jagen. Er konnte nicht glauben, was er sah.
Und dann beigte sich Avas Gesicht immer näher zu dem von Benjamin. Er konnte es nur vermuten. Aber Ava Starling und Benjamin Bagman schienen sich zu küssen. Die Eifersucht, die in Tom brannte, war kaum auszuhalten.
Er trat einen Schritt zurück, unfähig, weiterhin zuzusehen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und sein Herz hämmerte in seiner Brust. Sie gehörte ihm, das hatte er zumindest gedacht. Aber jetzt schien sich die Hexe von ihm zu entfernen. Das durfte er nicht zulassen.
Blinde Wut überrollte ihn, er wollte vor Eifersucht und Verzweiflung einfach alles und jeden mit sich niederreißen. Stolperte rückwärts weg vom Quidditchfeld.
Das Abendessen ließ Tom aus und verkroch sich stattdessen ohne Umwege in der unterirdischen Kammer. Er blieb die ganze Nacht und beobachtete interessiert, wie die Riesenschlange zwei gut genährte Schafe verschlang. Wie lange das Tier wohl brauchte, um Benjamin Bagman zu verdauen?
Irgendwann rollte er sich auf dem kalten Steinboden zusammen und lehnte seinen Kopf gegen den warmen Körper des Tiers, das fürsorglich zischelte.
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