50. Kapitel: Das andere Monster


Stille war dem einsamen Schrei gefolgt. Vereinzelt tuschelten Portraits und der Wind heulte, während er durch die Risse in den alten Gemäuern sauste.

Ava bewegte sich schnell und zielstrebig durch den Korridor und murmelte immer wieder: "Pas Clamor Revelo" vor sich hin. Der Zauber und die Entschlossenheit der Vertrauensschülerin leiteten sie und Tom zu einer versteckten, schmalen Wendeltreppe, in den tiefergelegten Teil des Schlosses hinab. Die Stufen waren schmal und uneben, doch die blonde Sucherin kam erst ins Straucheln, als sie ganz unten innehielt und vorsichtig um die Ecke schielte. Den Zauberstab gezückt stolperte sie aus einem Reflex heraus rückwärts in Tom hinein. 

Erst jetzt sah auch er es.

Ein langes, dünnes, schwarzes, behaartes Bein. Es war nicht menschlich. Und als Tom sich widerstrebend vorbeugte erkannte er den klobigen, runden Körper, an dem sieben weitere Beine und Acht Augen prangten. 

Er zog die kleine Hexe zurück zu sich in den Schatten. Sofern es das eng gewundene Treppenhaus zuließ, schob sich Tom möglichst geräuschlos an der kleinen Hexe vorbei. Dicht aneinandergepresst standen sie nun da und lauschten. Verharrten. Warteten auf eine Regung des Tieres oder ein Lebenszeichen der Person die geschrien hatte. 

Dann erklang ein melodisches Summen, einer Jungenstimme:

"In deinem dunklen Wald, Wo die Blätter flüstern, so fern und bald, Die Eul'n sing' dir ein Lied, Schlaf, kleine Spinne, in der Nacht so fried'.

Schlaf, kleine Spinne, schlaf bald ein, Unter dem Mond, im sanften Lichtschein. Dein Netz ist gewoben, die Sterne funkeln leis', Schlaf, kleine Spinne, schlaf, du bist nicht allein.

Avas Augen waren geweitet, während sie diesem absurden Schlaflied lauschte. Jemand, der hinter der Mauer verborgen blieb, sang die riesenhafte, schwarze Spinne bemutternd in den Schlaf. Gemächlich tippte das behaarte Bein des Tieres im Takt, bis es sich langsam zusammenrollte und der Gesang leiser wurde.

"Du muss' zurück in die Kiste, Aragog. Tut mir leid, aber du kanns' nicht einfach abhau'n. Ich hatte grad so'ne Sorge, dass dir was passiert sein könnte, als ich die leere Holztruhe geseh'n hab'", murmelte die Stimme nun mit liebevoller Strenge und ein großer Schatten legte sich über das Tier. Tom schob Ava weiter hinter sich und beugte sich selbst vor, um einen besseren Blick zu erhaschen.

Noch skurriler war, dass das Tier dieser Anweisung zu gehorchen schien und die acht Beine brav den Schritten der Person hinterhertippelten. Erst als eine Tür ins Schloss fiel, holte Ava Luft und keuchte. Bedacht darauf, keine Aufmerksamkeit zu erwecken, zog sie Tom leise die Wendeltreppe wieder hinauf. Wie die monströse Spinne folgte der Junge brav dem Mädchen die schmalen und dunklen Gänge entlang. Erst als sie sich im ersten Stock in einem leeren Klassenzimmer zurückgezogen hatten und der Muffliatozauber ihre Stimmen von neugierigen Ohren abschirmte, überschlugen sich die Worte der Hexe:

"Tom! Was war das? Denkst du das ist das Monster, dass Samuel Harper heute Nacht überfallen hat? Und wer war bei dem Monster? Konntest du das erkennen?" Ihre Wut auf Tom war für diesen Moment vergessen. Stattdessen bildete sich das pure Entsetzen in ihren Augen ab. Tom musterte das Mädchen gelassen und antwortete nicht. Er dachte nach. Er hatte den riesenhaften Jungen erkannt, der da bei der Spinne gewesen war. Während Tom seine Gedanken feinsäuberlich ordnete, sprudelte es weiter aus der Hexe heraus: "Wir sollten Dippet informieren, bevor eine weitere Person angegriffen wird! Denkst du nicht auch? Warum bist du so ruhig?"

Nun schüttelte Tom den Kopf: "Ich denk grad nach. Wir durften doch gar nicht in den unteren Teil des Schlosses. Wie sieht das denn aus, wenn zwei Vertrauensschüler sich den Anweisungen einfach widersetzen? Die Vorgabe für heute Nacht war es in jedem Fall auf unserem Posten zu bleiben." Das hier war ein Trumpf, den er nicht überhastet sondern sehr überlegt ausspielen sollte, wenn die richtige Zeit gekommen war.

"Ist das dein Ernst, Tom?", Ava schnaubte.

Er blieb ruhig: "Ja. Ein Regelverstoß in der aktuellen Situation könnte wirklich große Folgen haben. So lange wir uns nicht sicher sind, was das dort unten ist, sollten wir die Füße still halten." 

"Aber Tom... Wenn nochmal...", sie brach mitten im Satz ab.

Der Vertrauensschüler ging einen Schritt auf sie zu: "Ja?"

Sie wich zurück: "Was ist, wenn heute Nacht noch jemand verletzt wird?"

"Wird es nicht. Und du hast Dumbledore gehört, Samuel Harper liegt sicher und vor jeglicher Gefahr abgeschirmt im Krankenflügel", er verringerte den Abstand zwischen ihnen beiden wieder.

"Wie kannst du dir da so sicher sein, dass nichts mehr passiert?", Auch Ava ging zu Toms Erstaunen nun einen Schritt auf ihn zu und blickte ihm prüfend in die Augen, doch fand nichts als Ruhe und Überzeugung in seinem Blick. 

Er musste sie irgendwie davon überzeugen, dass es noch nicht nötig war, Alarm zu schlagen. Dieses Monster  sollte so lange dort bleiben wo es war, bis er es als Sündenbock brauchte um sein eigenes Monster zu schützen. Bis dahin musste er Ava dazu bekommen, die Füße still zu halten. Aber wie?

"Weil ich gesehen habe, wer da bei dem Monster war", gab Tom nach langer Überlegung Preis. 

"Und?"

Er zögerte noch immer: "Rubeus Hagrid. Dieser riesig große Drittklässler aus Gryffindor."

Ava schaute Tom ungläubig an. Er konnte in ihrem Blick erkennen, dass sie Rubeus nicht verraten wollte.

"Tom, nein! Rubeus hat ganz sicher Samuel Harper nichts angetan!", flüsterte sie als habe sie vergessen, dass der Muffliato-Zauber sie sowieso schützte. Bingo! Ava mochte Hagrid sehr gerne. Sie würde ihn nicht verraten, wenn sie es vermeiden konnte. Und sie glaubte auch nicht an Hagrids Schuld - woran man sicherlich dann zu einem späteren Zeitpunkt noch arbeiten konnte.

Verständnisvoll nickte Tom: "Wenn du denkst, dass Rubeus Hagrid nichts mit Samuel Harpers Versteinerung zu tun hat, sollten wir das hier erstmal für uns behalten. Ich denke er würde großen Ärger bekommen, wenn..."

Ava unterbrach ihn eifrig nickend: "Ja, Tom! Rub würde nie jemandem etwas tun. Er hat mir letztes Jahr mit meinem Raben geholfen, ihn verarztet nach einem Sturm..." Der Slytherin nickte verständnisvoll. Er bewunderte Ava Starling für ihre Intelligenz, ihren Mut und auch wenn es ihn manchmal rasend machte, er mochte auch ihre Eigenwilligkeit. Aber Avas größte Schwäche war es, nur das Gute in Menschen sehen zu wollen, die ihr nahe standen: "Tom, bitte versprich mir, dass du niemandem was von Rubeus erzählst? Er war das mit Samuel nicht. Da bin ich mir sicher. Auch wenn es so aussieht..."

Er hielt ihrem flehenden Blick stand: "Ich vertraue deinem Urteil...", Selbstbewusst trat er noch näher an sie heran und strich mit der Hand über ihr Gesicht: "Solange wir keine klaren Beweise gegen Rubeus Hagrid haben, werde ich ihn nicht verraten. Nur im Notfall...Wenn wir keine Wahl mehr haben und alles auf ihn hindeutet..."

Der silberne Schein des Mondes drang durch die schmutzigen Fensterläden und tauchte den leeren Klassenraum in monochromes Licht. Tom fühlte die Spannung zwischen ihnen, als er Ava tief in die Augen blickte. Die Sehnsucht, die sich in ihrer Mimik ausdrückte, schmeichelte ihm. Er spürte, wie ihr Herz schneller schlug, und erwartete den Zentimeter entfernten Kuss. War es so weit? Hatte er sie wieder?

Doch die Augen, die ihn gerade noch so intensiv angeschaut hatten, wichen zurück, und ein Ausdruck der Enttäuschung erschien auf Avas Gesicht, kurz bevor Tom sie in seinen Bann hatte ziehen können. Warum wehrte sie sich nur so gegen ihn?

"Tom", begann sie mit einer leisen, brüchigen Stimme. "Du kannst nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert und dir rücksichtslos immer wieder nehmen was du willst."

Tom runzelte die Stirn, verwirrt über ihre plötzliche Zurückhaltung. Ging es noch um Hagrids Monsterspinne oder um ihn? "Was meinst du?"

Ava atmete tief durch, bevor sie antwortete: "Die Nacht in der Bibliothek vor den Weihnachtsferien, Tom... Du hast mich einfach stehenlassen, ohne eine Erklärung, ohne ein Wort, direkt nachdem ich mich vor dir so... verletzlich gemacht habe."

Tom war kurz irritiert. Aber er wusste, was sie meinte. Ihre Erinnerung, in die er in der Wahrsagestunde eingedrungen war, kam wieder zum Vorschein. Und die Erkenntnis, dass er tatsächlich sehr ruppig reagiert hatte. Aber um sein Verhalten zu entschuldigen, hätte er von den Rufen des Basilisken erzählen müssen. Das ging nicht. Niemand, auch nicht Ava, sollte etwas von der Kammer und dem Basilisk erfahren.

"Ava, ich..."

Doch sie fuhr fort, und ihre Worte schienen wie ein Schlag ins Gesicht. "Und an Weihnachten... war ich erneut so dämlich... in den Briefen an Weihnachten... Du hast auf keinen geantwortet."

Tom sah sie fassungslos an. Er hatte nie Briefe von ihr erhalten, Onyx, die Eule von Walburga, hatte ihm nie eine Antwort von Ava mitgebracht.

"Und dann", fuhr Ava fort. Inzwischen klang ihre Stimme heiser, "am zweiten Weihnachtsfeiertag durfte ich durch diese verhexte Spiegelscherbe sehen, wie du Walburga vor allen ihren Verwandten geküsst hast..." Sie schluckte und wischte sich eine Träne von der Wange, bevor sie weiter sprach: "Und nach Silvester haben mir alle möglichen Leuten erzählt, dass du und Walburga um Mitternacht, direkt auf der Tanzfläche... vor allen... Rumgeknutscht habt."

Toms Augen weiteten sich, als er erkannte, wie dämlich er gewesen war.

Das Mädchen sprach unter nun immer stärker werdenden Schluchzern weiter: "Du glaubst gar nicht, wie weh das tut, wenn Olive Hornby extra eine Eule schickt, um stolz zu erzählen, dass ich durch Walburga Black ausgetauscht wurde. Ich hab als aller letzte davon erfahren."

Ava schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. "Ich bin so dämlich! War das irgendeine kranke Wette zwischen Walburga und dir? Wenn du es schaffst mich Nachts in der Bibliothek auszuziehen, dann lässt sie dich endlich ran?"

Der Slytherin starrte sie emotionslos an. Er wollte sich einfach nicht eingestehen, dass es Walburga anscheinend tatsächlich gelungen war ihn so zu manipulieren. Er wollte nach seinen Zigaretten greifen, aber er bemerkte, dass die Taschen der Schlafanzughose leer waren. Bevor er sich die richtigen Worte zurecht legen konnte, ertönte von draußen ein lautes Poltern und die Stimme von Lucas Lockhart fluchte lauthals. 

Ava drehte sich um, wischte die Tränen beiseite und bevor sie den leeren Klassenraum verließ sagte sie hastig: "Also Deal, dass wir wegen dem Ding da unten im Kerker noch nichts sagen?"

"Deal."






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