5. Kapitel: Ferienende und Neuanfänge


Michael Stevens hatte Tom Riddles Test bestanden und hatte die gesamte Nacht während des Bombenangriffs nicht den Waschraum verlassen. Mrs Hawthorn hatte den Jungen mit großer Erleichterung am nächsten Morgen beim Durchsuchen des Waisenhauses gefunden während Tom seelenruhig in seinem Bett schlief. Er war weder besonders erleichtert zu hören, dass alle Waisenkinder des Heims unversehrt geblieben waren, noch war er besonders erschüttert darüber, dass ein nahegelegenes Wohnhaus zerstört worden war. 


Es folgten zwei weitere Bombenangriffe über London, die Tom jeweils im Schutzkeller neben den anderen Waisenkindern verbringen musste. Nichts daran empfand Tom als besonders erwähnenswert. Ansonsten untersuchte der junge Zauberer, wie weit er Michael Stevens mit wenigen Worten bringen konnte, indem er den Rivalen regelmäßig neue und möglichst unterschiedlichste Befehle gab. Das reichte vom Kaugummiraub im nahegelegenen Laden bis zu einer Schlägerei mit einem Obdachlosen im Park. Tom fühlte sich dabei so, als würde er Stevens sogar durch seine Aufträge einen Gefallen tun. Als Soldat müsse er bald ja sowieso die Befehle anderer blind ausüben. So übte er schonmal für den bevorstehenden Kriegsdienst.

Eines morgens im August, die Morgenluft war aufgrund der vorangegangenen Angriffe staubig und stickig, segelte eine graue Eule durch ein Fenster des Speisesaals und ließ einen Brief auf Toms Platz fallen. Alle um ihn herum schauten irritiert, Tom aber stand unbeeindruckt mit dem Brief in seiner Hand auf und ging in den Schlafsaal, um ihn ungestört zu lesen. Es war ein Brief aus Hogwarts.

Neben ein paar einleitenden Worten beinhaltete der Brief die Bücherliste für das 5. Schuljahr:

- Lehrbuch der Zaubersprüche, Band 5, von Miranda Habicht;

- Theorie magischer Verteidigung von Wilbert Slinkhard;

- Magische Hieroglyphen und Logogramme 

Tom überflog die Bücherliste spöttisch. Alles Lehrwerke, die er bereits in der Schulbücherei durchgearbeitet hatte. Nichts besonders spannendes. Nichts Neues. Nichts was ihn in seinen Bestreben wirklich weiterbringen würde. Außerdem erhielt er seit jeher seine Bücher aus dem Fundus der Schule. Auch wenn Tom das vor seinen Mitschülern nie zugegeben hatte, besaß er schließlich als Waise aus einem Muggelheim kein Geld, um sich die Schulbücher selbst zu kaufen. Demnach musste er sich sowieso nicht um die Beschaffung dieser drittklassigen Werke kümmern.

Hinter der Bücherliste verbarg sich allerdings eine zweite Seite Pergament, die Tom beinahe übersehen hätte. Es war ein Brief, unterzeichnet vom Schulleiter, der ihn, Tom Riddle, mit lobenden Worten zum Vertrauensschüler ernannte. Neugierig fischte Tom nach dem Lesen des Briefs eine kleine, silberne Plakette aus dem Umschlag und begutachtete sie stolz.

Die Tage bis zu seiner Abreise passiert nichts nennenswertes mehr. Er hatte einen weiteren Brief und ein Päckchen aus Hogwarts erhalten. In dem Brief hatte er weitere Anweisungen zu seinem Amt und den damit verbundenen Aufgaben als Vertrauensschüler erhalten. In dem Päckchen befanden sich die alten und bereits stark verschlissenen Schulbücher. Die Lehrer wollten ihm wohl die Chance geben, sich bereits in die Literatur fürs neue Jahr einzuarbeiten. Tom jedoch ließ die Bücher unbeachtet in seinen Koffer wandern. Sobald er in Hogwarts angekommen war, würde er sich mit Zaubersprüchen darum kümmern, die Bücher wieder auf Vordermann zu bringen.

***

Am letzten Abend im Waisenhaus lag Tom mit offenen Augen im Bett und starrte die Zimmerdecke an. Er entdeckte einen Wasserfleck in der linken Ecke. Daneben ein Spinnennetz. Es sah so aus, als habe die dazugehörige Spinne versucht, das Leck des alten Hauses zu flicken. Vor Toms innerem Auge weitete sich der Wasserfleck an der Wand aus. Die Spinne hatte es nicht geschafft, den Jungen abzuschirmen. Wie das Papier seines Notizbuchs saugte er die Feuchtigkeit des Gebäudes in sich auf. Kleine Regentropfen hämmerten auf der marmorweißen Haut und gruben sich in den Jungen. Sein Blick verschwamm.

Tom fand sich auf einer verregneten, schlammigen Straße wieder. Er blickte um sich. Der Ort kam ihm fremd vor. Die Häuser standen weit auseinander, die Straße war nicht befestigt. Er befand sich definitiv nicht im eng besiedelten, steinernen London. Als er unter sich blickte, sah er eine kleine, schmale Frau am Rand der Straße kauern. Ihr Gesicht war eingefallen. Erst auf den zweiten Blick entdeckte er ihren runden Bauch. Sie war schwanger. Ihre Kleidung war vom Schlamm getränkt. Alles an ihr wirkte schmuddelig. Bis auf... Etwas leuchtete in einem trüben Dunkelgrün auf. Ein Medaillon in dessen Edelsteinfassung eine Schlange sich wie ein "S" wand. Das Schmuckstück zog Toms Aufmerksamkeit auf sich, er trat näher an die ärmliche Frau heran. Die goldene Kette und der große Anhänger schienen viel zu schwer für ihren Hals. Tom verzog verächtlich das Gesicht und griff nach der Kette. Seine Hände umschlossen nur Leere.

Der Regen wurde stärker, tränkte alles wie Tinte in tiefes Schwarz.

Wieder die gleiche Frau. Während das Gesicht noch schmaler wirkte, war ihr Bauch im Gegenzug dazu weiter gewachsen. Tom starrte auf ihren Hals, wollte erneut nach dem auffälligen Schmuckstück greifen, doch das Medaillon war verschwunden. Der letzte Schimmer erloschen. Es wirkte auf Tom, als wäre das Kind, das in der Schwangeren heranwuchs, ein Parasit, der sich von den letzten Kräften seiner Mutter nährte. Diesmal hockte die Frau an eine dunkelgraue Steinmauer gelehnt. Tom trat einen Schritt zurück, um zu erkennen, welchem Gebäude die Mauer entsprang. 

Sie befanden sich vor einem großen Gutshaus. Die dunklen Steinmauern ließen das Haus noch einschüchternder wirken, als es durch die unproportionale Größe ohnehin war. Die Frau stand auf und zog sich die Mauer entlang bis zu einer hohen Steintreppe. Mit größtem Kraftaufwand nahm sie die Stufen und erreichte eine durch Schnitzereien geschmückte Eingangstür. Neben der Tür entdeckte Tom ein silbernes Schild, in das der Name "Riddle" eingraviert war. Tom zuckte zusammen. Die Frau klopfte an die Tür.

Einen Moment nur der prasselnde Regen. Tom wartete wie versteinert. Die Tür öffnete sich. Ein Mann trat aus dem Dunkeln des Gebäudes hervor. Er kam Tom ungewohnt bekannt vor. Er war noch sehr jung, groß, schlank, hatte breite Schultern. Trug einen dunklen Anzug. Sein Gesicht war wie Marmor. Blass. Symmetrisch Züge. Hohe Wangenknochen. Dunkle Augen. Dunkle Locken. Ein arrogantes Lächeln. Vielleicht fünf bis zehn Jahre älter als Tom. Der Mann schaute verwundert nach rechts und links. Erst dann neigte er den Blick nach unten. Sein Gesicht verzog sich abschätzig, als er die Frau unter ihm kauernd entdeckte. Hinter ihm erschien eine alte Frau mit weißem Haar und dicker, dreireihiger Perlenkette und Tweetkostüm: "Scher dich fort. Wir wollen dich und deine Teufelsbrut hier nicht haben. Lass deine Finger von meinem Sohn. Verfluchtes Mädchen... Hexe!"

Der Regen wurde wieder zu schwarzer Tinte. 

***

Tom wachte unausgeruht am Morgen des ersten Septembers auf. Trotz seiner Müdigkeit achtete er besonders penibel darauf, dass die schwarzen Locken ordentlich lagen. Prüfend musterte er sein ebenmäßiges Gesicht im Spiegelbild und entdeckte etwas aus seinem Traum darin wieder. Er schauderte. Eine jüngere Version des Mannes aus dem Traum schaute ihm entgegen. Nur seine Wangen waren etwas voller und die Züge weicher und ebenmäßiger.

Tom zwang sich, den Traum beiseitezuschieben und schlüpfte in seine beste Stoffhose und ein   gebügeltes Hemd. Heute hatte er besonders darauf geachtet, dass seine Kleidung keine Spuren von Waisenheim auf sich trug. Das neue, glänzendes Vertrauensschülerabzeichen war poliert und prangte gut sichtbar an seiner Brust. Ein erneuter, prüfender Blick in den Spiegel. Wieder blitze ein Bild des Mannes auf. Egal wie sehr es Tom verleugnen wollte. Die Ähnlichkeit war zu groß, um zu ignorieren, dass dieser Mann irgendwie mit dem Waisenjungen verwandt war. Das war kein normaler Traum gewesen. Vielleicht hatte er in dem Fremden und doch so vertrauten Gesicht endlich seinen Vater gefunden...

Die hagere Gestalt der schwangeren Frau verbannte Tom schnell aus seinem Kopf. Sie war so ärmlich und schwach gewesen, dass Tom übel wurde. Von ihr konnte er wohl kaum seine herausragenden Fähigkeiten haben. Vielleicht aber von ihm... Dem Mann mit den dunklen Haaren, dessen Gesicht er selbst trug. Die Riddles hatten ein großes Anwesen gehabt. Sie schienen wichtige Leute gewesen zu sein. Allerdings... Wenn Riddle tatsächlich der Nachname seines Vaters - und nicht wie lange Vermutet - seiner Mutter... Einen Riddle hatte es in Hogwarts nie gegeben... Das hatte er seit den letzten vier Jahren bereits sorgfältigst geprüft. Aber von der jämmerlichen Frau konnte er einfach nicht seine magischen Fähigkeiten haben! Sie war direkt nach der Geburt gestorben, wenn sie zaubern hätte können, wäre sie doch noch am leben.

Während die Gedanken durch seinen Kopf flogen, stapfte Tom die Treppe herunter und schlurfte zum Speisesaal. Mrs Hawthorn betrachtete den Jungen mitleidig: "Nicht gut geschlafen, Tom?" Tom zuckte mit den Schultern und ließ sich auf einen leeren Platz fallen. Er trank heute morgen nur Tee. Hatte keinen Hunger. Mrs Hawthorn hätte sich gern zu dem Jungen gesetzt, der heute noch blasser wirkte, als sonst. Aber sie kannte den Fünfzehnjährigen so gut, dass sie wusste: Tom Riddle wollte in Ruhe gelassen werden. 

Die Gedanken flogen in seinem Kopf umher. Kreisten weiter um den Traum und die Sorge, dass keiner seiner Eltern magische Fähigkeiten gehabt haben könnte. Aus den Augenwinkeln bemerkte der Junge, wie die Heimleiterin ihn das gesamte Frühstück über beobachtete. In einer halben Stunde würde sie ihn zum Bahnhof Kingscross bringen. Tom fasste kurzfristig einen Entschluss. Er stand von seinem Platz auf, nahm seine Teetasse mit sich und ging auf direktem Wege auf Stevens zu, der einige Tische weiter in seinem Porridge herumstocherte. Stevens zuckte zusammen, als er Riddle bemerkte. Tom setzte sich neben den Jungen und murmelte: "Hol aus dem Büro der Heimleiterin die Akte, die meinen Namen trägt. Die Akten sind im Schrank rechts vom Schreibtisch. Wenn das Büro abgeschlossen sein sollte, brech die Tür ein, aber sei unauffällig. Warte noch fünf Minuten, dann geh auf dem direkten Weg los. Leg die Akte in meinen Koffer, der liegt oben im Schlafsaal." Tom war sich nicht zu hundert Prozent sicher, ob Stevens ihm kognitiv folgen konnte. Er hoffte es aber. Das war die einzige Chance, um mehr Klarheit über seine Eltern zu gewinnen bevor es nach Hogwarts ging. 

Tom wischte mit seinem Arm möglichst unbeholfen die eigene Teetasse vom Tisch. Es klirrte Laut. Die Tasse zersprang auf dem Fliesenboden. Der Tee breitete sich aus. Tom entschuldigte sich laut für das Missgeschick. Die Heimleiterin stand von ihrem Platz auf und ergriff die Gelegenheit, sich dem blassen Jungen vorsichtig zu nähern. "Kein Problem, Tom. Wir sind alle mal etwas durch den Wind.", erklärte Mrs Hawthorn mit einem warmen Unterton. Sie klopfte dem Teenager auf die Schulter und winkte die Köchin zu ihnen: "Roberta, kannst du bitte den kleinen Unfall für Mr Riddle beseitigen?" Die Köchin schnaufte genervt. Sie war ziemlich korpulent und wenig wendig. Mit größter Mühe beugte sie sich über den Fliesenboden, als sie die Scherben einsammelte und anschließend den Tee mit einem Lappen aufwischte. 

"Danke, Mrs Hawthorn.", säuselte Tom: "Ich stehe heute morgen wohl etwas neben mir." 

Die Heimleiterin tätschelte ihm erneut die Schulter: "Aufgeregt, dass es heute zurück ins Internat geht?" 

Tom nickte. Um ehrlich zu sein, hätte er nicht glücklicher sein können, die Muggel und seine trübe Herkunft endlich wieder für ein Jahr hinter sich zu lassen. 

Die nächste Lüge wählte er wohlbedacht mit der Hoffnung die Heimleiterin so von sich einzunehmen, dass sie nicht bemerken würde, wie Stevens den Speisesaal verließ: "Ich hatte heute Nacht einen furchtbaren Traum...", bis hierher wohl wahr, schmückte er den zweiten Teil seiner Geschichte etwas aus: "Ich habe geträumt, dass ich im Internat bin... aber naja... ich hatte riesige Sorge um das Waisenheim. Hatte glaub ich Angst, dass eine Bombe einschlägt... Mrs Hawthorn... Es tut mir leid, ich möchte Ihnen mit meinen Worten keine Angst machen." 

Die Augen der alten Frau füllten sich gerührt mit Tränen: "Ach, Tom, mein lieber Junge. Mach dir bitte keine Sorgen um uns. Wir haben den Schutzkeller. Bitte pass du auf dich auf." Tom und Mrs Hawthorn setzten sich gemeinsam an einen Tisch. Die Heimleiterin holte dem Teenager eine neue Tasse und während Tom langsam den Tee leerte wartete er aus den Augenwinkeln darauf, dass Stevens zurückkam. 

Nach etwa einer Viertelstunde war es soweit. Tom hoffte sehr, dass der Muggeljunge den Auftrag erfolgreich erfüllt hatte, denn kurz darauf mussten er und die Heimleiterin sich auf den Weg nach Kingscross machen. Tom ließ den Koffer vor den Augen der Heimleiterin lieber verschlossen und hoffte inständig, dass Stevens die Akte dort hineingelegt hatte.

Beim Verlassen des unliebsamen Gebäudes ließ Tom sich dazu hinab, Stevens ein "Danke" zuzuflüstern und ihm gönnerhaft einen leichten Schlag gegen die Schulter zu verpassen. Wahrscheinlich würde er den Muggel, der bald das Waisenhaus verließ, nie wieder sehen. 

***

Mrs Hawthorn brachte Tom rechtzeitig nach Kings Cross und der blasse, hochgewachsene Junge verließ erleichtert die schäbige Muggelwelt, ohne sich noch einmal nach der Heimleiterin umzusehen. Tom schritt hoch erhobenen Hauptes durch eine Mauer zwischen dem Gleis 9 und 10. Es folgte kein schmerzhafter Aufprall. Stattdessen ließ ihn die Steinwand gewähren und er tauchte durchs Gleis 9 ¾ in die Zaubererwelt ein. 

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