Papierflieger
Die nächsten Tage bin ich vollkommen durch den Wind. Ich erwische mich, wie ich überall nach dem Zahn Ausschau halten und das mit Lily lässt mich auch nicht mehr los. Warum ist sie in den letzten Tagen so komisch drauf. In einem Moment ist sie überdreht und im anderen wieder ganz in sich gekehrt und traurig. Es ist frustrierend. Und Immer wenn man sie fragt, was los ist, meint sie, dass alles okay sei. Sie hat nicht mal ihre Tage. Die hat sie nämlich letzte Woche schon gehabt. Ob das posthormonelle Schwankungen sind? Oder ist etwas passiert? Die ganze Zeit über, ob im Unterricht oder nicht, dreht sich mein Karussell der Gedanken als würde es noch zur selben Zeit Achterbahn fahren. Wer hat den Zahn gestohlen? Und warum? Was ist mit Lily los? Was war das mit der Prophezeiung von Opal und Bernstein? Was ist mit lichter Wolf gemeint? Geht beim nächsten Vollmond alles gut? Wie meinte Jackson das? Schutz der Sterne? Und was war mit Fluch über dieses Schloss gemeint? Warum ist nichts weiter passiert? Wie geht es Toby? Warum ist er nicht da? Ich vermisse ihn. Und was zum Teufel sind partimutabiale Strömungen?
„Miss Haimerl", reißt mich Flitwicks Stimme aus dem Wirrwarr in meinem Kopf. „Ja?", schrecke ich hoch, „Was ist, Professor?" „Was sind partimutabiale Strömungen?" „Das", beginne ich, „Ist eine sehr gute Frage. Ich stelle sie mir nämlich auch gerade." Flitwick seufzt genervt aus und sagt: „Vielleicht hätten Sie die Güte diese mal zuzuhören und aufzupassen? Und es auch aufzuschreiben? Sie alle nämlich! Es würde Ihnen nicht schaden, das kommt zu den UTZ Prüfungen." Dann geht er nach vorne zu seinem Pult, klettert auf seine Bücher und beginnt von neuem zu erklären. Am Ende der Stunde habe ich es dann- mehr oder weniger- verstanden und natürlich- warum denn auch nicht- bekommen wir einen Aufsatz darüber zu schreiben. Warum immer Aufsätze? Können wir nicht Lückentexte dazu ausfüllen oder so? egal. Ich hab genug andere Probleme. Ich will endlich Toby wiedersehen! Warum kann nicht schon Weihnachten sein? Naja, vermutlich, weil ich noch nicht alle Weihnachtsgeschenke habe. Aber wirklich. Es ist schon so lange her, dass ich ihn gesehen habe. So in Gedanken versunken merke ich nicht, wie ich von dem eigentlichen Weg abgekommen bin und mich jetzt irgendwo befinde. Ich seufze. Das hab ich ja wiedermal super hin gekriegt. Ich bin irgendwo, auf der Südseite des Schlosses. Der Korridor wirkt gemütlich, relativ niedrig. An den langen Fenstern, die aus kleinen, viereckigen Scheibenteilen bestehen ist an einer Ecke eine Bank angebracht. Ich lasse mich auf diese sinken und sehe hinaus auf den Hof. Er ist in fahl glitzerndes weiß gehüllt. Die Dächer sind wie zufällig verteilt und von Eis überzogen. Der Himmel ist schneegrau und leer. Was für eine einladende Atmosphäre. Merlin sei Dank ist heut kein Quidditchtraining. Aber nur noch zwei Wochen. Dann sehe ich Toby wieder. Zwei Mal fünf Schultage, einmal Vollmond, vierzehn Mal noch schlafen. Ich muss glucksen. Bald ist Weihnachten. Ich liebe Weihnachten, aber im Moment habe ich so viel um die Ohren, dass ich nicht mal mehr weiß, wo mir der Kopf steht. Naja gut, genug gejammert. Ich sollte mein Zeug in den Gemeinschaftsraum bringen und nicht meinen Nachmittag verplämpern. Oder zumindest das, was noch davon übrig ist. Ich erhebe mich und trabe schnell die Treppen, die ich zu viel gegangen bin hinunter und kämpfe mich bis zum Gryffindorturm hoch. Ich spüre, wie müde ich bin, als ich schließlich endlich ankomme. „Passwort?", fragt die Fette Dame gelangweilt. Die muss ja auch ein fades Leben haben. „Partimutabiale Strömungen", murmle ich. Wenigstens merk ich mir jetzt den Ausdruck, aber verdammt, der Schmarrn geht mir auf die Nerven. Vollkommen fertig durchquere ich den Gemeinschaftsraum und gehe in den Schlafsaal. Dort lasse ich meinen Rucksack zu Boden fallen und werfe mich auf mein Bett. Ich ziehe meine Vorhänge zu und versuche für einen Moment einfach alles auszublenden und loszulassen. Und einen Moment später sind auch schon meine Augen zugefallen.
„Emmi!", ruft jemand hektisch, „Emmi, wach auf! Jetzt!" Ich reiße meine Augen auf. Mein Puls ist innerhalb von Sekundenbruchteile auf tausend. Adrenalin rauscht durch meine Adern. Mein Blut dröhnt in meinen Ohren. „Was ist passiert?", meine Stimme ist scharf. Ich sehe in Alice geschocktes Gesicht. Und da merke ich, dass ich nicht überreagiert habe, weil mein Traum unruhig war. Es ist etwas passiert. „Alice", meine Stimme wird ruhiger, aber mir wird kalt vor Angst. Mein Magen krampft sich zusammen. „Was ist los?" „Es gab einen Anschlag", sagt sie mit zitternder Stimme. „Fuck", bringe ich hervor. „Wer? Was?" Ihre Augen beginnen zu schwimmen, als sie flüstert: „Ein kleiner Junge. Muggelstämmig. Ich- ich weiß nicht was passiert ist. Also genau. Aber da war überall Blut-" Vor meinem inneren Auge blitzt es rot auf. Flecken an einer Wand, Tropfen, die zu Boden fallen und sich wie ein Rinnsal über den Boden ausbreiten. „Und dann haben sie Heiler geholt." Schritte, die den Boden erschüttern. Aufgeregte Stimmen. Unruhe. Angst. Jemand der im Schatten verschwindet. „Und alle waren so aufgebracht und so verunsichert. Sie suchen jetzt das Schloss ab. Ich wollte dir eigentlich sagen, dass das Abendessen in den Gemeinschaftsraum verlegt wurde." „Okay", bringe ich heiser hervor. Ein leichtes Zittern hat meinen Körper erfasst. Alice geht einige Schritte von meinem Bett weg: „Ich bin wieder unten, ja?" „Ist gut", sage ich. Sie wendet sich zum Gehen und ich frage hinterher: „Alice?" Sie bleibt stehen. „Ja?" „Wie geht es den Jungen?" Sie atmet tief ein und sagt tonlos: „Sie wissen nicht ob er die Nacht übersteht." Mein Magen dreht sich vor Grauen um. „Kommst du dann nach?" „Jaja", sage ich, „ich komm dann." Sie geht wieder hinunter. Ich lasse mich zurück in die Laken fallen und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Ich merke erst jetzt wie nass es ist. Und dass kalte Schweißperlen meinen Nacken benetzen. Scheiße. Dieser Traum. Das war kein Traum. Ich versuche mein Zittern unter Kontrolle zu bringen. Und der Junge. Das war der Junge von vorgestern. Der mit dem Papierflieger, der durch den Gemeinschaftsraum gesegelt ist. Merlin, er war noch so jung. Und jetzt sags mir, Morsira! War seine Zeit auch abgelaufen? Dann hat er am Ende doch verloren. Sein Papierflieger ist ins Licht gesegelt.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top