89. Kapitel

Louis

Ich saß kerzengerade im Bett. Die Sorge um Eleanor besaß meinen kompletten Körper. Blitzschnell schlug ich meinen Teil der Decke zurück und sprang aus dem Bett. Auch wenn es mitten in der Nacht war und man eigentlich noch an den Schlaf dachte, war ich hell wach. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper und ließ mich nicht mehr klar denken. Nur ein einziger Gedanke blieb klar und deutlich vor meinen Augen: Wie ging es Eleanor?

Als ich meine Verlobte fand, schloss ich leise hinter mir die Tür und setzte mich neben ihr hin. Die Kälte des Bodens, schreckte mich nicht ab und störte mich in diesen Moment überhaupt nicht. Das Kissen, wo Eleanor rein geschrien hatte, damit man sie nicht ganz so laut hörte, zerquetschte sie in ihren Armen. Die Beine hatte sie so nah wie möglich an ihren Bauch herangezogen. Ihre Tränen liefen stets über ihr schon gerötetes Gesicht. Ein paar feuchte Strähnen klebten ihr an der nassen Stirn. Sie sah so hilflos und verloren aus. In mir zog sich alles zusammen. Meine arme El. Wie konnte ich ihr nur den Schmerz erlassen?

Am liebsten würde ich sie jetzt in den Arm nehmen und einfach nur festhalten, doch ich wusste nicht ganz, was sie jetzt am besten möchte und brauchte. Wir waren in einer komplizierten Lage, wo wir selber nicht einschätzen konnten, was uns eventuell gut tun könnte. Wir waren in unseren Gefühlen gefangen.

„Sind noch welche wach geworden?", hörte ich eine zarte und leicht zitternde Stimme von links. Die Sorge, dass sie noch mehr um den Schlaf gebracht hatte, merkte ich deutlich an der Energie, die Eleanor umgab. Dafür brauchte ich nicht einmal zu ihr hinsehen. Es war mein Bauchgefühl und gleichzeitig würde ich genauso denken wie sie. Doch diese Sorge bereitete ihr nur noch mehr Schmerzen zu und das gefiel mir überhaupt nicht.

Ich drehte meinen Körper nun in ihre Richtung und konnte es mir nicht nehmen lassen, eine ihrer Hände vom Kissen zu befreien und festzuhalten. Ich musste sie in diesen Moment berühren. Es war ein dringendes Bedürfnis. Vielleicht half es ja...

„Nein, mach dir keine Sorgen darüber", sanft und leise kamen die Worte aus mir heraus. Ich hoffte so sehr, dass ich sie irgendwie beruhigen konnte. Ich sah meiner Liebe ins Gesicht, doch sie wich meinen Blick aus. Wie konnte ich ihr nur helfen? Dieser Gedanke zerriss mich förmlich im Inneren meines Körpers.

„Eigentlich müsste ich jetzt an deiner Stelle sein. Stattdessen spielst du den Starken", brachte sie nach einer Weile der Stille über die Lippen und ihre gerade getrockneten Wangen wurden wieder nass. Es waren immer wieder neue Schübe der Trauer, die sie zu übermannen drohten.

„Love...", ich seufzte, überbrückte schlussendlich die letzten Zentimeter und nahm sie in meine Arme. Ihre Hand ließ ich dabei nicht los. Sie war am Boden zerstört – genauso wie ich, genauso wie Jay und genauso wie Dan – und schaffte es ihre Trauer offen zu zeigen und anstatt sich ihren eigenen Gefühlen hinzugeben, machte sie sich sorgen um mich. Es war verrückt, wie selbstlos sie war.

Sie machte sich um jeden anderen Gedanken, doch ich habe es in den vergangen Jahren nicht geschafft, dass sie auch einmal an sich selber dachte. Sie wollte jeden Trösten, der sie in einer schlimmen Situation brauchte, doch wandte sie sich immer ab, wenn sie selber jemanden benötigte, der das Gleiche für sie tat.

Ich war so froh, dass ich sie gehört und gefunden hatte und ihr jetzt beistehen konnte – irgendwie, ich wünschte, ich wüsste es. Ich wollte ihr zeigen, dass ich jeder Zeit für sie da war. Eigentlich sollte sie das schon längst wissen, doch aller spätestens wenn wir heirateten und unser Ehegelübde vor unserer Familie und dem Pfarrer abgaben, sollte es endgültig sein. Sie war nicht nur für mich da, sondern ich auch für sie. Aus dem Drang heraus ihr das zu sagen, formulierte ich die Worte und sprach sie laut aus, sodass Eleanor sie hören konnte: „Denk doch einfach nur mal an dich. Du bist traurig und das ist in dieser Situation durchaus angemessen. Also lass dich fallen. Ich stehe unter dir und fang dich auf", es war nur ein Hauchen an ihrem Ohr, doch die Worte kamen bei ihr an. Ihre Tränen liefen wieder schneller über ihre Wangen. Sie versuchte, sie nicht mehr krampfhaft weg zu wischen oder sie gar zu unterdrücken. Sie ließ die Tränen laufen. In einem gewissen Rahmen beruhigte es mich, doch gleichzeitig wollte ich sie wieder glücklich sehen und sie sollte einfach ihr Leben genießen.

„Der Schrei war befreiend, oder?", fragte ich sie immer noch leise, aus Angst, sie zu stören, doch diese Information musste ich noch wissen. Ging es ihr wie mir?

„Ja...", mehr kam nicht von ihr. Sie schmiegte sich an meine Seite und vergrub ihren Kopf an meine Brust. Dort weinte sie einfach nur. Ihr Körper wurde durchgeschüttelt und Schluchzer verließen ihren Mund. Ich hielt sie so gut wie möglich fest und versuchte ihr somit den Halt zu geben, den sie in diesen Moment brauchte. Wir waren für einander da. Vielleicht ließ sie es nun zu und versuchte nicht den Kampf selber auszutragen.

In diesen Augenblick war ich erstaunlich ruhig und brach nicht selber in Tränen aus. Vielleicht merkte mein Herz, dass es für jemanden Geliebtes da sein musste und hielt seine eigene Trauer zurück. Nur so konnte ich mir mein brennendes Herz erklären. Doch dieses Mal war es nicht vor dem zerreißen der eigenen Trauer, sondern es war der bittere Schmerz der Sorge um El, was mich davon abhielt sie loszulassen.

Mit dem Blick auf ihren Kopf, strich ich gedankenverloren durch ihre weichen Haare. In einer gewissen Hinsicht beruhigte mich diese immer wiederholende Geste. Trotzdem schafften es meine Augenlider nicht sich zu schließen. In diesen Moment passte ich auf sie auf. Egal wie lange sie fallen möchte, ich würde immer unter ihr stehen und sie auffangen.

Somit verlor ich irgendwann das Zeitgefühl. Als Eleanor vorsichtig und langsam ihren Kopf wieder anhob und sich mit ihren immer noch leicht zitternden Händen über ihr Gesicht fuhr, nahm ich meine Arme von ihr und lockerte meine verspannten Muskeln. Nur dieser Aspekt zeigte mir, dass es nicht nur fünf Minuten gewesen sein konnten. Doch das war mir in diesen Moment total egal. Es zählte nur in welcher Verfassung El nun war und ob es ihr den Umständen entsprechend wieder gut ging. Ich fragte nicht nach ihrem befinden. So wie sie heute früh, war es einfach sinnlos, danach zu fragen.

Ich selber hätte auf die Frage auch keine Antwort gehabt und ich bezweifelte, dass Eleanor ihre Gefühle beschreiben konnte, denn die Antwort, dass es ihr gut ging, würde ich ihr nie abkaufen.

„Danke...", hauchte sie, griff dabei wieder nach meinen Händen und drückte sie zaghaft. Sie waren ein wenig feucht von ihren Tränen und zu meinem Erschrecken relativ kühl. Fror sie oder war ich Blutdruck zu niedrig? Ich zog sie etwas näher zu mir und versuchte sie zu wärmen.

„Nicht dafür...", murmelte ich und legte vorsichtig meine Stirn an ihre. Sie hatte ihre Augen wieder geschlossen und schüttelte minimal ihren Kopf.

Verunsichert sah sie nun in mein Gesicht und versuchte aus meinen Augen schlau zu werden. Verwirrt über ihre Miene, legte ich meine rechte Hand an ihre Wange und strich vorsichtig die letzten nassen Stellen weg.

Wir sagten nichts, schauten uns einfach nur an und dann sah ich, wie sich wieder die Tränen in ihren Augen bildeten. Panisch schüttelte sie ihren Kopf, als könnte sie ihre Trauer abschütteln und vergrub gleich darauf wieder ihr Gesicht in ihren Händen. Am liebsten hätte ich ihr den unerträglichen Schmerz abgenommen, doch ich konnte es beim besten Willen nicht. Denn nun kamen meine eigenen Gefühle wieder hoch. Krampfhaft versuchte ich sie zurück zu halten und für El weiter der Fels in der Brandung zu sein, doch ich schaffte es nicht ganz.

„Weinen hilft", brachte ich mit zitternder Stimme gerade so über meine Lippen und zog Eleanors Hände vorsichtig und langsam von ihrem Gesicht. Sie sollte sich nicht verstecken. Nicht vor mir.

Sie weinte. Ich weinte. Wir weinten und es war okay. Auch wenn die Situation beschießen war, so tat es gut. Es war ein befreiendes Gefühl – genauso wie das Schreien.

Doch wenn ich so im Hintergrund darüber nachdachte, war es wahrscheinlich nur ein Reflex, welches einen dazu verleitete, die eigenen übermannenden Gefühle vor anderen zu verstecken. Von Natur aus, müssen wir dem Anderen gegenüber Stärke beweisen. Wir hatten diese Angewohnheit anscheinend immer noch.

El sah mich unter ihren nassen Wimpern an. Ihre Mundwinkel zuckten leicht. Auch wenn es noch kein zaghaftes Lächeln bezeichnen konnte, war es zumindest ein Ansatz.

„Ja, es hilft. Doch löst es leider nicht die Trauer", flüsterte sie und sah mich dabei immer noch an. Ihre Tränen waren versiegt und die Wangen wurden wieder trockener. Ein letzter kleiner Tropfen rollte über meine Wange und stürzte in die Tiefe...

„Stimmt, doch genau dieses Gefühl zeigt uns, dass wir wirklich lieben können", Eleanor kuschelte sich wieder richtig an meine Seite und strich mit ihren Fingern sanft über meine Hand, die sie nicht los gelassen hatte.

„Mhmm", kam es fast lautlos über ihre Lippen und ich wusste, das der Kampf mit den Gefühlen vorrübergehend vorbei war. An den nächsten Ausbruch wollte ich in diesen Moment nicht denken.

Der nächste Morgen brach heran und wir schlüpften mit dem Aufstehen in unsere Rollen. Was in der Nacht passiert war, würde immer dort bleiben. Doch konnte ich mir die besorgten Blicke Richtung Eleanor nicht verkneifen. Der Schreck von vor ein paar Stunden lag noch tief in meinen Knochen. Auch, wenn ich für sie da gewesen war, kreisten meine Gedanken stets um sie.

Die Tage bis Samstag vergingen. Während ich noch bei meiner Familie blieb, musste El nach London zurück. Megan hatte schon ihren Flug gebucht, als wir beide überstürzt nach Doncaster aufgebrochen waren. Außerdem wäre umbuchen zu teuer für sie gewesen – auch wenn ich im Notfall eingesprungen wäre und ihr ohne wiederrede geholfen hätte. Doch vielleicht war es besser für Eleanor, wenn sie von der traurigen Nachricht ein wenig Abstand nahm und ihre Freundin sie ablenkte.

Man durfte Trauern, aber man durfte sich selber nicht verlieren. Ablenkung war das Beste in so einer Situation. Wenn man eine Freundin hatte mit der man reden konnte und gleichzeig wieder in Lachen ausbrechen konnte, war es die beste Heilung. Das Megan kam, machte mir Hoffnung und die Sorge um meine Liebste wurde ein wenig weniger, auch wenn sie nicht komplett verschwand.

Das Einzige was mich nun noch wurmte war, wie meine Verlobte sicher nach London kam. Ich wollte sie ungern in dieser Verfassung fahren lassen. Wer weiß, wann der nächste Schub sie überraschte. Sie waren unberechenbar. Eleanor auch zu verlieren, würde ich nicht überleben...

Da wir mit zwei Autos gekommen waren, hätte ich sie nicht einfach selber nach London fahren können. Denn was sollte ich mit zwei Autos hier. Sie brauchte ihr eigenen Wagen in London.

Als ich am Freitagabend fast am Verzweifeln war, da mir einfach keine passende Lösung einfiel und mir der Gedanke, doch klein bei zu geben und mit der Sorge für die drei Stunden umzugehen zu müssen, gewaltig gegen den Strich ging, meldete sich Lottie plötzlich zu Wort und meinte, das sie morgen ebenfalls nach London musste, da Lou sie brauchte. Ich wäre ihr am liebsten überglücklich um den Hals gefallen, doch ich ließ es schlussendlich doch und hielt meine Verlobte nun entspannter in meinen Armen.

Nun standen wir alle im Flur und verabschiedeten uns. Als die beiden Mädels ins Auto stiegen - Lottie fuhr – lehnte ich mich ans noch offene Autofenster und streckte meinen Kopf ins Innere, um El einen Abschiedskuss zu geben. Wann ich selber wieder in London war, wusste ich noch nicht. Mich graute es vor den Gedanken meine Mutter alleine zu lassen. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass Eleanor alleine in dem großen Haus war. Wer weiß, was alles plötzlich passieren konnte. Es war ein riesen Konflikt in meinen Kopf, den ich bis jetzt noch nicht lösen konnte.

„Ich weiß, dass du froh bist, dass ich nicht fahre", flüsterte Eleanor mir ins Ohr, lehnte sich danach leicht zurück und sah mir in die Augen.

„Ich habe nur Angst um dich – um euch", flüsterte ich ebenfalls und mein Blick huschte schnell zu ihren gewölbten Bauch. Auch wenn Lottie uns hören konnte, beschäftigte sie sich mit ihren Handy und tat so, als wäre sie taub.

Als Reaktion auf meine Worte, lehnte sich Eleanor wieder zu mir, schlang ihre Arme um meinen Hals und küsste mich auf die Lippen. Ein letztes Mal sog ich ihren himmlischen Duft ein. Mein Herz raste vom Kuss und am liebsten hätte ich sie aus den Wagen genommen und in meine Arme geschlossen. Doch sie mussten los.

„Tschüss Lottie. Passt auf euch auf", sagte ich, küsste meine Verlobte ein letztes Mal, streichelte über ihren Bauch und zog mich aus dem Auto zurück. Ich winkte solange, bis ich sie nicht mehr sehen konnte. Dann ging ich ins Haus zurück und erschreckte mich zugleich fast zu tote.

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