86. Kapitel
Louis
Ein sehr guter Treffer in die Magengrube hätte nicht so weh getan, wie den imaginier Schlag, den ich abbekam, als Mom die Worte aussprach, die ich nie aus ihren Mund oder sonst einer Person hören wollte. Es tat weh, war kein Ausdruck für die Gefühle, die durch meinen ganzen Körper schossen. Einen klaren Gedanken konnte ich nicht fassen. Nur der unendliche Schmerz, der tief in meinen Herzen pulsierte und nie mehr aufhören würde. Mein Magen zog sich qualvoll zusammen. Die Luft in meinen Lungen wurde knapp. Das Atmen fiel mir schwer.
Meine Geschwister waren bei diesem Gespräch mit meiner Mutter nicht dabei gewesen. Die Kleinsten wussten es noch nicht einmal. Sie sollten die Trauer und den Schmerz noch nicht spüren. Ich hatte sofort meiner Mom zugestimmt. Sie würden es noch gar nicht begreifen. In diesem Alter sollten sie es überhaupt nicht erleben. Keiner sollte solch eine Erfahrung machen müssen...
Wir waren alleine. Nur wir zwei saßen auf dem Sofa mit den fantastischen Ausblick auf den Garten. Doch an die Schönheit dieser Welt konnte ich nicht denken. Nicht mit dem Wissen, dass die eigentliche Kostbarkeit direkt vor mir saß.
Wie viel Zeit würde ihr noch bleiben? Wie viel Augenblicke hatten wir noch mit ihr? Wie viel durfte sie noch sehen? Wie viel konnte sie noch entdecken?
Als die Worte über ihre Lippen kamen, die sie mir nicht am Telefon sagen wollte, hatte ich einfach nur geweint. Es war die pure Fassungslosigkeit und der urplötzliche Schock, der meine Gefühle komplett über den Haufen warf.
Ich konnte meine Emotionen nicht beschreiben. Sie waren zu viele in meinem Körper, als dass ich alle benennen konnte. Es war als würde sich alles im Inneren zusammenziehen. Alles lechzte danach, den Schmerz aus dem Körper loszuwerden, doch es haftete wie Harz an der Haut. So sehr man sich auch anstrengte, er würde immer dort bleiben.
Schlussendlich weinten wir beide und lagen uns in den Armen. So hatten wir das Leben nicht vorgestellt. Es war voller Trauer. Doch wir durften die Freunde, das Glück und die Liebe nicht vergessen.
Sie hatte sieben wundervolle und gesunde Kinder. Sie hatte einen Ehemann, der sie über alles liebte. Sie hatte Freunde und sie hatte Familie, die immer hinter ihr stehen würde. Doch das war keine Rechtfertigung, für das was passieren würde.
„Ich liebe dich, Mom", flüsterte ich ihr mit bebender Stimme ins Ohr. Zu hören, dass seine eigene Mutter, die selber erst ungefähr die Hälfte ihres Lebens rum hatte, wegen einer aggressiven Form von Leukämie sterben musste, war unerträglich.
„Ich werde über euch wachen. Versprochen"
Die Sonne hatte mir ins Gesicht geschienen, als wir einige Zeit später, das Haus verlassen hatten. Dan war mit meinen Schwestern auf einen nahgelegenen Spielplatz gegangen, den wir nun auch ansteuerten. Die Gefahr, dass einer von den Zwillingen ins Haus hineingestürmt wäre und uns in der Verfassung gesehen hätte, wie wir gerade fühlten, hätte nur Fragen und noch mehr Tränen hervorgerufen.
Ich konnte es noch immer nicht begreifen. Die Person, die lächelnd neben mir in die Sonne blinzelte, würde bald dies nicht mehr tun können. Sie wäre nur noch ein Bild der Erinnerung, das tief in unseren Herzen eingeschlossen war. Dort würde sie immer bleiben. Eine Person die so viel liebte und unendlich geliebt wurde, konnte man nicht vergessen. Wenn wir unser Herz irgendwann öffneten, konnten wir uns die Bilder gemeinsam anschauen. Wir konnten gemeinsam darüber lachen, darüber weinen oder einfach nur genießen. Es lag an uns, wie wir sie in Erinnerung behielten, doch jetzt war es unsere Aufgabe, solche Bilder zu erleben.
Nun saß ich ein wenig abseits und beobachtete die Familienszene, die sich vor mir bot. Das Handy, womit ich Max angerufen hatte, um zu fragen wie es Eleanor ging, hatte ich immer noch in der Hand. Ich war froh, dass sie ihn hatte. Er konnte für sie da sein, wenn ich es nicht war. Das ich ohne sie gegangen war, war ein weiterer Schmerz, doch hatte ich das einzige Richtige für mich in diesen Moment getan.
Als Mom mir am Telefon gesagt hatte, dass sie mit mir dringend reden musste, war der Unterton mit dem sie die Worte ausgesprochen hatte, entscheidend gewesen. Es waren die Angst, die Unsicherheit und die Hoffnung, deutlich hörbar gewesen.
Der einzige Gedanke, der mir da durch den Kopf geschossen war, war dass ich sofort zu ihr musste und das alleine. Auch wenn ich Eleanor über alles liebte, diesen Schritt musste ich alleine gehen. Dass sie jetzt herkam, fand ich mehr als beruhigen, auch wenn ich das vor ein paar Stunden nicht gedacht hätte.
Manchmal war man so dumm und meinte man musste es alleine ausstehen. Aber man war nicht alleine auf dieser Welt. Der Mensch war gesellig. Er braucht die näher anderer Leute. Eine Umarmung oder ein Gespräch waren so kostbar und von einem unschätzbaren Wert. Manchmal musste man das Gegenteil erleben, um dies rauszubekommen...
Der Gedanke, dass ich alleine sein musste, um mit der kommenden Situation klar zukommen, schien mir richtig. Doch nun vermisste ich El einfach nur. Ihr Geruch und ihre Nähe, würden die Schmerzen ein wenig dämpfen, wenn auch nicht verdrängen. Sie würd es leichter machen und zudem hatte sie auch das Recht zu wissen, was los war. Bald würde sie Teil meiner Familie sein – auch wenn sie das schon seit Anfang an war - so stand es in naher Zukunft auch auf dem Papier.
Eleanor würde frühestens in drei Stunden hier sein. Bis dahin musste ich mich wieder eingekriegt haben. Sie würde Fragen stellen. Nicht sofort, doch irgendwann würde sie es tun und dafür musste ich gewappnet sein.
Ich vertraute ihr. Sie kannte mich. Sie wusste wie ich fühlte – wie mein Wesen war. Doch wusste ich nicht, wie ich es ihr sagen sollte. Wie ich reagierte und wie sie sich verhielt. Jay und sie verstanden sich von der ersten Sekunde an sehr gut. Sie standen sich nahe. El traf es also auch. Zudem waren ihre Hormone, die die unterschiedlichsten Gefühle auslösen konnten, gerade unberechenbar. Ich konnte nur hoffen, dass ich sie irgendwie trösten werden können, ohne dass sie sich oder unseren Kind ausversehen schaden würde.
Mom bekam die Untersuchungsergebnisse morgen. Morgen würde sich also alles entscheiden. Wenn es so ausging, wie ihr Arzt es schon gesagt hatte, dann würden wir allen Familienmitgliedern Bescheid sagen. So war der Plan meiner Mutter, doch ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Nicht dass ich das Privileg dazu gehabt hätte, Einwände dagegen zu haben, doch mein Geist, machte sich dennoch gedanken.
Es hatten alle das Recht, zu erfahren, dass ein Familienmitglied nicht mehr lange da sein würde. Doch ist es klug mehrere Monate zuvor, diese Vorwarnung zu geben? Es gab einmal das Wissen, was einen fertig machte. Wäre man nicht informiert, hätte man nicht die Chance sich langwierig zu verabschieden. Denn es war eine Verabschiedung für immer.
Und genau dieses für immer, musste man erst einmal begreifen. War ein kurzer oder ein langer Abschied besser? Vielleicht glaubte ich meiner Mutter und gewährte den anderen, selbst zu entscheiden, wie sie mit der neuen Situation umgingen und was sie taten.
Ich war hin und hergerissen, ob wir es den Kleinen auch sagen sollten, oder sie in den falschen Glauben lassen sollten. Sie waren noch Kinder. Sie sollten die Zeit mit ihrer Mutter genießen und keinen Hintergedanken haben, dass es jede Zeit vorbei sein konnte. Zumal sie in diesen Alter noch gar nicht wirklich begreifen konnten, was es hieß Abschied zu nehmen.
Denn wenn wir es ihnen sagen würden, dann wäre es alles andere als ein Anruf, um jemanden zu einem Besuch einzuladen, oder etwas Freudiges zu verkünden. Es war eine Nachricht, wo man nicht wusste, wie man sie formulieren sollte. Wie erklärte man seiner Familie und seinen Freunden, dass man bald nicht mehr auf dieser Welt leben würde?
Wenn der Arzt Recht behielt, würde Mom nur noch ein knappes Jahr bleiben. Das war viel zu kurz! Viel zu kurz, um es zu begreifen und die restliche Zeit noch zu genießen.
Doch bevor meine Tränen einen Weg an die frische Luft antreten konnten, schluckte ich den dicken Klos herunter, steckte mein Handy ein und rannte mit einem Lächeln auf Phoebe und Daisy zu und knuddelte sie. Auch wenn es die schrecklichste Nachricht, die ich in meinen ganzen Leben bekommen hatte, gewesen war, so wollte ich nicht Jays Zeit mit einem traurigen Gesicht vergeuden. Sie hatte es mir gesagt, damit ich mich darauf einstellen konnte und es nutzte, anstatt die Zeit zu verschwenden.
Ich sah sie, wie sie mit ihren Mann beim Klettergerüst stand und ihren jüngsten Zwillingen dabei zusah, wie sie versuchten die nächste Stufe zu erreichen. Es war ein Bild, was sich ab jetzt in mein Kopf eingebrannt hatte. So würde ich sie in Erinnerung behalten. Lachend, Glücklich und im Kreise ihrer Liebsten.
Es war mittlerweile Abend geworden. Wir hatten das Haus vor einer guten Stunde wieder mit Stimmen gefüllt, die durcheinander redeten. Während die Kleinsten im Wohnzimmer spielten, deckten wir anderen den Abendbrottisch. Mein Blick schielte immer wieder zu der Uhr an der Wand. Wenn El in keinen Stau geraten war, müsste sie jeder Zeit hier auftauchen.
Auch wenn wir nur für einen halben Tag getrennt gewesen waren, so vermisste ich sie schrecklich. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich sie einfach so alleine in London gelassen hatte. Ihr Gesicht würde ich nicht vergessen, als ich sie hab stehen lassen. Leider waren der Schmerz und der Schock größer gewesen, als einen klaren Gedanken zufassen.
Auch jetzt war der Schmerz immer noch da. Aller zwei Minuten sah ich zu Mom, nur um mich zu versichern, dass sie noch da war. Ich wusste, dass ich paranoisch war, doch die Sorge um sie war seit dem Telefonat nicht verschwunden. Für sie und meiner Familie hatte ich eine Maske auf. Außen war ich so wie immer, doch in meinem inneren war alles zusammen gefallen...
Ich stellte gerade mehrere Gläser auf den Tisch, als ich das Motorengeräusch von Els Auto hörte. In diesen Moment war es erstaunlich ruhig im Haus gewesen. Ernest und Doris waren zu unsere Mom in die Küche gegangen und wurden da beschäftigt, sodass sie keine Zeit hatten um rum zu quieken.
Schnell stellte ich die Gläser ab und rannte zur Haustür. Noch bevor El aus ihrem Auto aussteigen konnte, hatte ich sie schon erreicht und nahm sie einfach nur in meine Arme. Tief sog ich ihren himmlischen Duft ein und schloss meine Augen.
„Es tut mir so unendlich leid. Ich habe dich so vermisst", flüsterte ich in Els Ohr. Sanft strich ich über ihren Rücken und spielte mit einer Haarsträhne. In diesen kurzen Moment war ich einfach nur glücklich, sie wieder in meinen Armen zu haben.
„Das muss es nicht", flüsterte sie ebenfalls und löste sich leicht von mir. Ihre Augen bohrten sich in meine. Es war die pure Liebe und Zuneigung, die mich empfang. Sie war für mich da, auch wenn ich sie von mir weggestoßen hatte. Sie war tatsächlich hier. Auch wenn sie nicht wusste, wieso ich nun so überstürzt nach Doncaster aufgebrochen war, stand sie immer noch hinter mir. Ich wusste nicht, wie ich sie verdient hatte. Sie war ein Engel auf Erden und meine Mom würde es bald im Himmel sein...
Els Wölbung, spürte ich deutlich an meinen Bauch, was mich daran erinnert, das ich noch jemanden begrüßen konnte. Mein kleines Mädchen, was ich schon jetzt über alles liebte. Würde Jay sie noch auf den Armen halten können?
„Danke", es war kaum ein Hauch, als das Wort über meine Lippen kam, doch verstand mich El trotzdem. Sie lächelte mich an und trat nun einen kleinen Schritt zurück. Auch wenn sie in diesen Moment glücklich wirkte, so sah ich die Sorge in ihren Blick. Sie war nicht ohne Grund hier her gefahren und ich war auch nicht ohne einen Anlass da.
Es brachte mich in die pure Realität zurück, was mir fast die Tränen in die Augen trieb. Doch ich wollte nicht an das, was wäre wenn, denken. Also beugte ich mich leicht nach unten und legte meine Hände vorsichtig an ihren warmen Bauch. Er wurde zwar von einer Jacke verdeckt, da es noch kalt war, doch hinderte es mich nicht daran unser Kind zu begrüßen.
„Eleanor", kam es plötzlich von der Haustür. Es war Jay mit Ernest und Doris, die hinter ihr her gelaufen kamen, als sie auf uns zu gelaufen war. Sie musste die aufgehende Haustür gehört haben und hatte aus der Küche geschaut, was los war.
„El, Liebes, Schön dich wieder zu sehen", sie breitete ihre Arme aus und begrüßte Eleanor herzlich. Es war alles so wie immer. Doch der niederschmetternde Gedanke im Hintergrund, trübte meine Stimmung.
„Mein Enkelkind wächst ja fleißig", es war die pure Freude und Glückseligkeit in ihren Gesicht zusehen, und dieser Ausdruck bewies mir, dass man fröhlich sein konnte, auch wenn einem etwas angst machte. Man musste die Emotionen zulassen und wenn man Glücklich war, auch wenn man eigentlich alles andere als fröhlich durch die Luft springen konnte, dann durfte man es auch fühlen.
Nur weil man den Abgrund, auf den man mit einen ungebremsten Zug zufuhr, schon sah, hieß es nicht, dass man die letzten Sekunden noch genießen konnte...
El strahlte mit meiner Mom um die Wette. Ihre Wangen hatten einen gesunden rosafarbenen Ton angenommen. Sie schien nicht nur von außen, sondern auch von innen heraus.
Sie öffnete ihre Jacke und legte eine Hand auf ihren Bauch. So wie sie es bei mir vor ungefähr einer Woche getan hatte, ergriff sie Jays Hand und legte sie auf die Stelle, wo unser Kind fröhlich vor sich hintrat.
Der Tag, wo die Tritte stärker wurden, bereitete mir sorgen. Irgendwann würden sie wehtun und dann wünschte ich, könnte ich ihr den Schmerz nehmen. Doch daran wollte ich jetzt noch nicht denken, ich genoss den Augenblick mit meiner Mom und meiner Verlobten.
Ich sah, wie sich in Jays Augen Tränen bildeten und wenige Sekunden später über ihre Wangen liefen.
„Nicht weinen", flüsterte ich ebenfalls den Tränen nah und trat auf sie zu. Auch wenn es vermutlich vor Freude war, so erinnerte es mich zu sehr an unser Gespräch.
„Ich bin einfach nur überwältigt. Dass ich das noch erleben darf, macht mich einfach nur überglücklich", ihre Worte trafen mich härter, als ich es erwartet hatte. Mein Herz raste, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Die Emotionen, die ich versucht hatte zu unterdrücken, kamen wieder hoch. Nun flossen bei mir nun endgültig wieder die Tränen. Fest schlang ich meine Arme um ihren Körper und hielt sie fest. Am liebste, wollte ich sie nie wieder los lassen.
Sie lebte. Sie lebte. Sie lebte. Immer wieder wiederholte ich den Satz in meinen Gedanken, bis ich mich ein wenig beruhigt hatte.
Auch ohne dass ich Eleanor sah, wusste ich, dass sie mich voller Sorge anschaute. Ich glaubte, so langsam ahnte sie, was passieren könnte. Ich war kein Typ, der nah am Wasser gebaut war, doch seit dem Gespräch hat sich einiges geändert.
Doch schlussendlich sah ich wieder hin. Die Flüssigkeit auf meinen Wangen war getrocknet. Mein Herz hatte sich halbwegs wieder beruhigt. Nur noch meine leicht geröteten Augen, gaben meinen kleinen Ausbruch preis.
Genau in diesen Moment entdeckte Jay, den Ring an Eleanors Finger, der in der untergehenden Sonne leicht funkelte und fing an zu quiekte, wie ich es von ihr noch nie gehört hatte.
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