85. Kapitel

Eleanor

Ich stand noch eine Weile an der geschlossenen Tür und bewegte mich nicht. Es war, als wäre mein Körper in eine starre verfallen. Immer wieder spielte mein Kopf die Bilder ab, doch begreifen tat ich sie nicht. Mir fehlten die Informationen die Louis erhalten hatte. Das einzige was ich sah, war die Reaktion darauf. Der entscheidende Punkt war der Ausdruck in Louis Augen gewesen. Denn in dieses Gesicht hatte ich noch nicht geblickt. Seine Sicht wurde von einem tiefen unerträglichen Schmerz getrübt und in seinem Inneren spürte er es noch Millionen mal stärker. Da war ich mir sicher.

Die Sorge, die er die ganze Zeit für jemanden empfand, in der wir uns angesehen hatten, machte ihn fertig. Ich habe es gesehen. Ich habe spürte es. Auch wenn ich nicht wusste worum es ging, fühlte ich mit seinen Schmerz.

Dazu kam noch, dass ich keine Idee hatte, was ich jetzt tun sollte. Um wenn ich mir mehr Sorgen machen musste? War es Louis, der nun alleine mit dem Auto fuhr, oder war es seine Familie, die gerade mit dem Schmerz fertig werden musste – was oder wer auch immer es war?

Und genau aus diesen Grund rief ich bei keinem an. Wenn ich es erfahren sollte, kontaktierten sie mich. Manchmal brauchte man die Zeit, um sich zu sammeln – um den Tatsachen ins Auge zu sehen und sie versuchten zu akzeptieren. Es war bei jeden anders. Manche wollten alleine sein und manche brauchten jemanden an ihrer Seite. Ich ließ ihnen die Wahl und mit Louis überstürzter Abfahrt, hatte er mir deutlich ein Zeichen gegeben. Doch eines war ich mir sicher: Wenn Louis sich nicht irgendwann meldete,– sei es in der nächsten Minute oder in ein paar Tagen – fuhr ich zu ihm und versuchte zu helfen oder wenigstens allen beizustehen, wenn sie es wollten...


Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, doch irgendwann fand ich mich auf dem Sofa wieder. Die Beine so weit wie möglich an meinen gewölbten Bauch gezogen und mit den Gedanken bei Louis und seiner Familie.

„El?", es war die Stimme von Max, der plötzlich im Zimmer stand und sobald er mich sah, auf mich zu gelaufen kam. Seine tröstenden Arme erreichten mich nur wenige Sekunden später. Er musste den Ersatzschlüssel genommen haben, doch damit brauchte ich mich nicht zu beschäftigen. Ich war froh, dass er hier war, auch wenn ich mir sehnlichst eine andere Person hier her wünschte. Wäre ich dann egoistisch? Denn, dass er zu seiner Familie fuhr, die ihn jetzt mehr brauchte als mich, zeigte mir, dass es mehr als egoistisch war und die Schuldgefühle übermannten mich mit so einer Wucht, dass ich mich noch mehr zusammenkrümmte.

„Was ist passiert? Louis klang ganz aufgebracht am Telefon und komplett neben der Spur. Ich dachte erst, euer Kind wäre geboren, doch dann fiel mir der Schmerz in seiner Stimme auf. Habt ihr euch gestritten? Ich bin so schnell wie möglich hier her gefahren. Das ich dich hier alleine vorfinde, hatte ich nicht gedacht", nur am Rande nahm ich war, wie er eine Decke über mich legte und mich wieder in seine Arme zog. Sein Tonfall klang besorgt und vorsichtig, als hätte er Angst irgendetwas Falsches zu sagen.

„Ich weiß nicht was passiert ist", bekam ich nach mehreren vergangenen Minuten über meine Lippen. Es war das erste Mal, dass ich wieder etwas sagte. Mein Hals fühlte sich trocken an. Die Stimme kratzte und klang brüchig. Ich wollte, dass alles wieder so war, wie noch vor ein paar Stunden, doch das würde nicht passieren. Es war die pure Realität in der ich mich befand und die Seifenblase in der wir in Amsterdam gelebt hatten, war schon lange und schlagartig zerplatzt.

„Zuerst schien alles in bester Ordnung zu sein. Jay hatte Louis angerufen und dann –", ich brach mitten im Satz ab und vergrub meinen Kopf in der Decke. Ich wollte nicht daran denken. Es war schon schlimm genug, dass ich hier einfach nur saß und Max die Ohren voll weinte, während Louis alleine mit seinen Gefühlen fertig werden musste. Ich war ein schrecklicher Mensch. Ich fühlte mich so mies.

Dennoch kreisten meine Gedanken nur um Louis und seiner Familie. Was war geschehen, dass Louis Hals über Kopf hier in London aufbrach und dabei sich selber vergaß?

Stumm liefen die ersten Tränen und sogen sich in Sekundenbruchteilen in die Decke. Was sollte ich nur tun? Louis hinterher fahren? Jay anrufen? Nichts tun und hier warten, bis ich etwas von ihnen höre? Ich wusste es nicht.

„Max, was soll ich nur tun?", voller Verzweiflung hob ich meinen Kopf und blickte zu meinen besten Freund, der immer noch nicht alles von den Vorfall wusste und somit ins eiskalte Wasser geschupst worden war, obwohl in keiner erklärt hatte, wie man am Leben blieb. Genauso fühlte ich mich auch. Ich wusste selber nicht mehr Informationen und ich bezweifelte, dass Louis mehr in seinem Telefonat mit Johanna in Erfahrung gebracht hatte. Denn unter den Schmerz, der in seinen Augen getobt hatte, lag die glühende Hoffnung.

„Hat Louis irgendetwas gesagt, was passiert sein könnte?", fragte Max mich, doch das trieb nur noch mehr der Tränen aus meinen Augen, die meinen Wangen in Sturzbäche hinunterliefen.

„Nein, er ist einfach –", meine Stimme löste sich in Luft auf und schlussendlich fand ich mich in einem Zusammenbruch wieder. Meine Tränen versiegten nicht, sondern fanden den Weg aus meinen Körper. Es fühlte sich so an, als würden sie meine Lebensenergie mit sich nehmen und nur eine Hülle aus Verzweiflung und Ratlosigkeit zurück lassen.

„El, auch wenn es unmöglich scheint...Du musst dich beruhigen", sanft strich er mir durchs Haar und hielt mich einfach nur fest in seinen Armen. Was anders konnte er auch nicht machen. Der Gedanke, wenn ich an Max Stelle machen würde, wenn er in der Situation wäre wie ich, überforderte mich mehr als alles andere.

„Louis wird anrufen, wenn es etwas Neues gibt oder er bereit ist, etwas preiszugeben. Er wollte bestimmt nicht, dass du dir seinetwegen sorgen machst und dich selber so fertig machst...", er flüsterte die Worte tröstend in mein Ohr, doch wurden sie fast von meinen eigenen Gedanken übertönt. Ich konnte Louis nicht alleine lassen. Was auch immer passiert war, ich hätte für ihn da sein sollen. Ich hätte ihn aufhalten sollen, als ich es noch gekonnt hätte und hätte darauf bestanden ihn zu begleiten. Doch ich stand einfach nur da und ließ ihn mit seinen überwältigenden Gefühlen alleine. Würde ihn irgendetwas Unvorhersehbares zustoßen, würde ich mir das nie verzeihen...

„Ruhe dich ein wenig aus und hole den Schlaf nach, den du durch die anstrengende Autofahrt verloren hast. Dein Körper braucht all seine Kraft", bestimmt, aber dennoch liebevoll half er mir aus meiner halb sitzenden, halb liegenden Position und ließ die Decke nicht von meinen Schultern rutschen. Während ich mich nach oben schleppte, versuchte Max so gut es ging mich zu stützen. Meine Energie, war mit einem Mal komplett verschwunden. Ich fühlte mich wie ein Schatten meiner Selbst.


Die Schwere überfiel meinen Körper, als wäre es eine Decke, die sich auf ihn legte und zog mich weiter unter Wasser, als ich es beabsichtigt hatte. Mein Schlaf war unruhig. Ob es an Louis Geruch lag, der an jedem Gegenstand und in der Luft hing oder allein daran, dass ich mich niedergeschmettert fühlte und mir Sorgen um jeden machte, wusste ich nicht.

Nur ganz langsam und mit der großen Hoffnung, dass alles nur ein Albtraum war und Louis neben mir liegen würde, öffnete ich meine Augen. Die Wucht, mit der die Realität mich traf, quälte mich. Ich wollte bei Louis sein und ihn beistehen – bei was auch immer, ich sollte stets an seiner Seite sein. Doch das war ich nicht....

Der Schlaf, so wie es Max prophezeit hatte, hatte mir nichts gebracht und ich fühlte mich alles andere als munter. Die Beschreibung, dass ein Lastwagen über mich gefahren wäre, beschrieb nicht einmal annähert wie ich mich tatsächlich fühlte. Denn wäre es in Wirklichkeit so, würden mir die Schuldgefühle und die Hilflosigkeit erspart geblieben.

Doch irgendwas musste mich aufgeweckt haben, denn als ich halbwegs wieder bei klaren Verstand war, hörte ich leise Max Stimme aus dem Flur. Er musste mit jemanden telefonieren. Wie sonst sollte ich mir seine Pausen und die Tatsache, dass wir beide alleine hier waren, erklären?

„Wisst ihr schon, wann ihr es bestätigt bekommt?", hörte ich Max mit äußerster Vorsicht fragen, als wäre es ein heikles Thema worüber man eigentlich nicht sprechen wollte, weil es alle Seiten verletzte. Der Eine, der darüber nachdenken musste und der andere, der sich um den einen Sorgen machte.

Alleine an der Fragestellung vermutete ich, dass es Louis war mit dem er telefonierte. Es entstand eine lange Pause, wo keiner von beiden etwas sagte und ich dachte einer von beiden hätte aufgelegt.

„Wissen es deine Geschwister schon?", folgte irgendwann leise eine weitere Frage von Max. Ich merkte, dass er sich gesträubt hatte, diese Frage zu stellen und somit das Thema so zu vertiefen, doch die Sorge überwog und kappte alle Hemmschwellen.

So leise wie möglich stieg ich langsam aus dem Bett. Ich musste mehr wissen. Ich konnte nicht länger mit der Ahnungslosigkeit leben. Wenn Louis es mir nicht persönlich sagen konnte, musste ich es eben auf anderen Wegen erfahren und vielleicht wollte er es sogar so.

Manchmal schaffte man es nicht die Worte zu formulieren, ohne daran fast zu zerbrechen und war froh, wenn es jemand anderes für einen tun konnte. Den hinter dieser Information konnte ein tiefer Schmerz stecken, denn man nach außen einfach nicht zeigen konnte...

„Ich weiß nicht was ich sagen soll, Louis. Es tut mir so unendlich leid. Für euch alle...", die Lautstärke seiner Stimme war noch leiser geworden, dass ich es kaum noch verstand und dann hielt ich mitten in meiner Bewegung inne.

Es war, als würde mich etwas treffen. Ich konnte nicht beschreiben wie es sich anfühlte. Es war mein Instinkt der mich leitete. Es war der Drang, der sich in meinen Körper ausbreitete. Würde ich ihn nicht nachgehen, würde ich es mir nie verzeihen.

Ich musste zu Louis und das so schnell wie möglich. Ich musste ihn beistehen. Nach Max Worten und Louis Reaktion vor ein paar Stunden, ließ mich ahnen, was passiert war.

Mein bester Freund wirbelte erschrocken herum, als ich zu ihm stürmte und ihm das Handy aus der Hand riss: „Louis?", fragte ich leicht außer Atem in die geöffnete Leitung.

„El?", seine Stimme klang so unendlich traurig und gleichzeitig voller Hoffnung. Er litt und sollte er nicht. Er sollte glücklich sein und mit seiner Familie lachen. Doch so wie es aussah, würde er das eine Zeit lang nicht mehr machen...

„Ich fahre zu dir", gab ich die Information an ihn weiter und reichte das Telefon wieder Max. Vielleicht brauchte er jetzt jemanden zum Reden, die nicht ich war.

„Könntest du bitte wieder Bruce nehmen. Ich weiß du hattest ihn schon so oft –", wandte ich mich noch einmal an Max und versuchte ihn zu überreden, doch das brauchte ich gar nicht. Er ließ mich nicht einmal ausreden, sondern unterbrach mich mitten im Satz: „Natürlich, fahr. Fahr zu ihm. Sei vorsichtig. Deine gepackte Tasche steht im Eingang", ich hatte keine Zeit ihn sprachlos anzustarren oder ihn dankend um den Hals zu fallen. Louis und seiner Familie ging es mehr als schlecht, nur dieser Gedanke hatte Platz in meinen Kopf.

„Danke", und schon stürmte ich die Treppen nach unten, schnappte mir die Sachen und ging zielstrebig auf mein Auto zu.

Was auch immer passiert war, ich ließ Louis und seine Familie nicht im Stich. Ich wollte helfen, auch wenn eventuell jede Hilfe nichts mehr brachte. Doch man konnte einem zeigen, dass man für einen da war...


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top