117. Kapitel
Louis
Sobald die Kinder draußen waren, fiel die Maske von Jays Gesicht. Sie wirkte so unendlich müde, erschöpft und nicht mehr ganz bei uns. Ich ging sofort zu dem frei gewordenen Platz an ihrer linken Seite. Mit zitternden Fingern nahm ich ihre Hand und umschloss sie mit meiner. Sie war warm. Fest drückte sie zu, doch ihr Kopf bewegte sie nicht mehr. Jay hatte ihre Augen geschlossen.
Ich holte tief Luft und dennoch erfasste ein Beben meinen Körper. Mom lag wirklich im Sterben und das zu begreifen war unmöglich. Ich schüttelte meinen Kopf immer und immer wieder, als könnte ich damit das Offensichtliche verdrängen. Es war die grauenvolle und brutale Realität.
„Lou", es war kaum mehr ein hauchen, da es aber im Raum sehr ruhig war, hörte ich sie dennoch. Wie als hätte mich ein Blitz getroffen, sprang ich auf und beugte mich zu meiner Mutter: „Ja? Ich bin hier", ich flüsterte ebenfalls aus Angst zu laut zu sprechen. Aus Angst, ich könnte ihr mit einem zu lauten Ton Schmerzen zufügen.
„Präsentiere es der Welt, bitte. Habe keine Angst davor. Sie werden es lieben, denn ich liebe es", schwach aber deutlich vernahm ich ihre Stimme an mein Ohr.
„Mom", meine Stimme klang eigenartig. Als würde ich mich selber ganz weit weg hören. Jay konnte nur 'Just Hold On' meinen. Ich hatte ihr das Lied einmal vorgesungen, als ich sie alleine besucht hatte. Sie liebte dieses Lied auf Anhieb. Als ich ihr gebeichtet hatte, dass sie die Erste war die dieses Lied hörte, hatte sie die Augen zusammen gekniffen und mich mit schräg gelegten Kopf angesehen. Diesen Blick würde ich nie vergessen. Der Grund wieso ich es bis jetzt noch nicht veröffentlicht hatte, war meine Unsicherheit, wie die Welt darauf reagieren würde. Es würde mein erstes Lied sein, was ich als Solosänger präsentieren würde. Das hieß die ganze Aufmerksamkeit würde darauf liegen und das war ungewohnt.
„Zeige der Welt was in dir steckt. Just hold on, Louis. Ich liebe Dich", Jay drehte leicht ihren Kopf und küsste mich liebevoll auf die Wange. Da ich immer noch zu ihr gebeugt war, konnte ich die Geste ohne Probleme erwidern.
„Ich verspreche es dir"
„Gut, denn es ist für dich", sanft strich ich meiner Mutter über die Wange und setzte mich dann wieder an ihr Bettrand damit sich Dan und meine Geschwister von Ihr verabschieden konnten.
Ich atmete tief durch, bevor ich mich zu meiner Frau drehte, die mit unserer Tochter auf dem Arm am Fenster stand. Ihre Augen waren auf mich gerichtet. Ihr Blick ging mir durch Mark und Bein. Er steckte so voller Liebe und Zuneigung. Kein Fünkchen Mitleid, was mir hätte den Rest gegeben, denn El litt ebenfalls. Ich sah es ihr an und dennoch zeigte sie mir nicht alles. Sie versuchte die Starke zu spielen damit ich fallen konnte und sie mich auffangen konnte.
Widerstrebend löste ich mich von meiner Mutter und machte Platz für meine Geschwister, während ich zu meiner kleinen Familie ging.
Ich wusste nicht wie spät es war. Die Uhr, die auf den Beistelltisch stand mied ich. Ich wollte nicht sehen, wie die Zeit verstrich, denn Jay wurde mit jeder Minute schwächer. Ihre Augen waren wieder geschlossen. Sie hatte sie schon eine Weile nicht mehr geöffnet. Nur ihren leisen und schwachen Atem hörte man in der Stille.
Wir saßen alle um ihr Bett. Jeder hielt abwechselnd ihre Hand, murmelte ab und zu ein paar Worte oder hörte einfach nur ihr beim Einatmen und Ausatmen zu.
April wurde nach einiger Zeit unruhig. Während ich meine Mutter ins Gesicht sah und ihre kaum hörbaren Atemzüge zählte, spürte ich Els zarte Hände auf meinen Bauch. Sie umarmte mich von hinten und legte ihre Lippen sachte an mein Ohr: „Ich gehe mit April ein wenig spazieren damit sie einschläft und ich bin so schnell wie möglich zurück", ich nickte kaum merklich. Die Angst meinen Blick von meiner Mutter abzuwenden war zu groß.
„Danke", ich drückte kurz ihre linke Hand, ehe sich Eleanor erhob und mit unserer den Raum verließ. Es war ein komisches Gefühl, als sich die Tür schloss. Doch ich wurde von einem Schluchzen welches von Fizzy kam, abgelenkt. Ich löste meinen Blick langsam von Jay und blickte zu meiner Schwester. Sie hockte vor mir und hielt die Hand unserer Mutter. Fizzy hatte ihr Gesicht in die Matratze gedrückt und wiegte ihren Kopf hin und her.
„Hey...", sanft nahm ich sie in meine Arme und hielt sie einfach nur fest. Mein Blick schweifte kurz zu Dan und Lottie, die zu uns rüber sahen, ehe ich wieder zu meiner kleinen Schwester schaute.
„Ich will sie nicht verlieren", Fizzy sah mich mit verweinten Augen an und mir zerriss es das Herz. Der Schmerz saß bei mir ebenfalls tief, doch ich versuchte für meine Geschwister da zu sein. Ich versuchte es und dennoch würde ich es nicht schaffen.
Mir liefen stumm die Tränen über mein Gesicht und ich drückte meine kleine Schwester fest an meinen Körper: „Mom wird immer in unserem Herzen bleiben. Wir können sie vielleicht nicht mehr sehen, nicht mehr mit ihr Angesicht zu Angesicht sprechen, aber wir können sie uns vorstellen, wir können mit ihr Reden – auch wenn wir keine Antwort bekommen werden – wir lassen sie in unserem Herzen weiterleben...", ich stoppte, weil mich meine Gefühle übermannten und ich ein Schluchzen unterdrücken musste: „Aber noch ist sie nicht von uns gegangen. Mom ist noch da. Sprich mit ihr. Halte sie fest, tue das, was dir gut tut, denn das würde sie wollen", ich wiederholte zum Teil die Wörter, die El mir vor ein paar Stunden am Telefon gesagt hatte, denn sie hatten bei mir geholfen und ich hoffte sie halfen auch meiner Schwester.
Fizzy nickte kaum merklich, löste sich langsam aus unserer Umklammerung und wandte sich wieder zu unserer Mutter um. Mom hatte ihre Position nicht geändert. Ihre Augen waren noch immer geschlossen, aber sie atmete noch. Das einzige Lebenszeichen, welches wir noch erhielten...
Irgendwann kam Eleanor mit einer schlafenden April wieder in das Zimmer meiner Mutter rein. So langsam wurde der Himmel wieder in ein sanftes Blau getaucht. Die Sonne würde in einer knappen Stunde aufgehen und die Nacht vertreiben. Mein Blick wandte sich wieder zu meiner Mom. Sie hatte sich in den Stunden kaum bewegt.
Einmal wirkte es so als hätte sie versucht ihre Augen zu öffnen, doch der Moment war schnell vorbei. Es hatte so gewirkt, als hätte sie alle nochmal sehen wollen. Ich wusste nicht, ob Mom ihr Ziel geschafft hatte, denn sie reagierte nicht mehr, wenn man sie ansprach...
Lottie und Fizzy waren kurz eingeschlafen und auch El hatte für kurze Zeit ihre Augen wie April geschlossen. Doch es gab einen Moment, da waren alle wieder wach. Ich wusste nicht, was sich geändert hatte, ob sich überhaupt etwas geändert hatte aber unsere alle Blicke waren auf die Frau in dem Krankenhausbett geheftet.
Mein Herz raste. Ich traute mich kaum zu atmen. Der Schmerz wuchs in meinem Körper an. Die Angst übermannte mich kaum merklich. Meine Hände fingen an zu schwitzen. Kalter Schweiß trat mir aus den Poren und mein Körper wurde von einem zittern erfasst. Mein Magen krampfte sich zusammen und ich hatte das Gefühl, dass meine Beine mich bald nicht mehr tragen würden...
Ich achtete auf Jays Atmen, hörte wie sie einatmete und wieder ausatmete und irgendwann war es still.
Frieden...Mom wurde von ihren Qualen erlöst.
Nichts erfüllte mehr dem Raum. Die minimalen Bewegungen die von Jay kamen, waren vorbei. Die Decke hob sich nicht mehr, weil darunter keine Lunge mehr arbeitete. Ihre Augenlider zuckten nicht mehr, denn die Augen konnten nichts mehr sehen. Ihr Griff um unseren Händen wurde lockerer. Noch waren ihre Finger warm, doch es würde nicht mehr lange dauern und sie wurden kalt, weil ihr Herz aufgehört hat zu schlagen.
Es vergingen Sekunden bis wir diese Veränderungen bemerkten - es wirklich registrierten, dass unsere Mutter nicht mehr atmete.
Und dann gab es eine Stelle, einen Moment wo wir es begreifen mussten. Das war der Punkt, wo ich vornüber kippte und mein Gesicht in die Bettdecke vergrabe. Meine Arme schlangen sich um meinen Körper, um irgendwie den Schmerz zu ertragen und nicht auseinander zu brechen.
Wir weinten alle. Ich wimmerte, kniff meine Augenlieder zusammen und machte mich so klein wie möglich. Der Schmerz durchfuhr meinen Körper wie ein gewaltiger Stromschlag. Er war unerträglich und unbeschreibbar. Es tat so weh und gleichzeitig fühlte ich rein gar nichts, da war nur die Leere, dieses kalte Gefühl, als würde mein eigenes Herz nicht mehr schlagen.
Im Inneren fiel ich. Ich stürzte in ein tiefes Nichts, nahm kaum noch meine Umgebung wahr und gleichzeitig hörte ich alles: „Meine alles geliebte Frau...Nein, nein, nein...Ich werde dich immer lieben...", Dans erstickte und vor Trauer verzerrte Stimme erreichte mein Ohr und mit ihr die Schluchzer und verzweifelten Schreie meiner Familie.
Ich schrie im Inneren, versuchte den Schmerz auszuhalten der mich auffraß – mich zerriss. Kaum merkte ich wie sich Eleanors Arme um mich schlangen und sie mich von hinten fest an ihren warmen Körper presste. Sie hielt mich in ihren Armen und trauerte mit mir.
Die Zeit war mir in diesen Moment so scheiß egal, alles war mir so egal, doch irgendwann mussten wir jemanden bescheid sagen. Es graute mir davor, den unscheinbaren Knopf zu drücken, der neben dem Bett lag.
Das Schlimme an dieser Art von Schmerz war, dass er nicht mit einem Mal weg war. Er kam immer wieder und wenn man glaubte es war vorbei kam ein neuer Schub. Ich wusste, der Schmerz würde immer bleiben, doch würde er hoffentlich irgendwann erträglich werden.
Während wir um unsere herzensliebe Mutter trauerten, lag sie in dem Bett, als würde sie schlafen. Doch das tat sie nicht und das zu begreifen war unvorstellbar. Sie sah so friedlich aus. Der Schmerz war aus ihrem Körper gewichen. Die ganze Anspannung war verschwunden und doch würde sie nie wieder uns in die Augen blicken, uns nie wieder anlächeln, nie wieder lachen, nie wieder ein Wort sagen...
Und auch wenn sie regungslos vor mir lag, glaubte ich zu denken, es würde sich gleich die Zimmertür öffnen und Mom würde mit einem strahlen hineinkommen. Doch das würde nie wieder passieren...
Jay starb mit unseren Händen in ihrer und im Kreise der Familie, auch wenn nicht alle Anwesend waren, waren doch alle in Gedanken bei ihr.
Lebe wohl...Pass auf dich auf, wo auch immer du bist und vergesse nie, dass wir dich immer lieben werden.
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