114. Kapitel
Eleanor
Der Sommer mit April an unserer Seite war wunderschön. Mit jeden Tag der verging wurde sie aktiver und neugieriger. Als unsere Tochter im vierten Monat war fing sie an nach ihren Spielsachen in Reichweite zu greifen. Louis und ich waren ganz aus dem Häuschen, als sie sich dann wirklich vorwärtsbewegte. Zum Glück hatten wir zu diesen Zeitpunkt keinen zu Besuch und das Haus groß genug, um unserer Freude Platz zu machen. April hatte uns nur mit ihren großen und süßen Augen angesehen, während wir wie zwei Kleinkinder durch das Wohnzimmer gehüpft sind und sie ermutigt haben ihre winzigen Arme noch einmal auszustrecken.
Es war Mitte Oktober, als April sich nun zielsicher von der Rückenlage auf den Bauch drehte und wieder zurück. Durch schlangenartigen Bewegungen, kam sie sogar ein paar Zentimeter vorwärts, um ihr begehrtes Spielzeug zu bekommen. Doch die meiste Zeit schob sie sich mit ihren Armen zurück, sodass sie sich nur noch mehr entfernte. Den frustrierten Laut den sie dann ausstieß, war einfach nur zuckersüß.
Seit ihrer Geburt führte ich regelmäßig ein Tagebuch über April und trug ihre Erfolge mit einem Foto von ihr ein. So wussten wir auch noch in ein paar Jahren, was sie alles in ihrer ersten Lebenswoche getan hatte – vielleicht auch interessierte sie sich später selbst dafür, was sie in ihren ersten Monaten alles gelernt und entdeckt hatte, mal sehen...
Louis fing in der Zwischenzeit wieder an, an ein paar Liedern zu schreiben. Ich sehe die Freude in seinen Augen, wenn er mit einem Block und den Stift zwischen den Lippen auf den Boden sitzt und unserer Tochter zuschaut, wie sie ihre Umwelt entdeckte.
Ab und zu sahen die Jungs vorbei, tauschten sich über ihre Projekte aus oder saßen einfach nur zusammen. Ich ließ sie meistens alleine, ging mit April und einen der Bodyguard an unserer Seite spazieren oder traf mich mit meinen Freundinnen. Es war eine relativ entspannte Zeit, wenn man die wirkliche Realität außer Acht ließ. Aber sie holte uns schneller ein als wir wollten...
Doch der Sommer ging vorbei, die Tage wurden wieder kürzer und die Kälte schlich sich langsam aber stetig durch das Land. Nach unserer Hochzeit im Juni war Jay ins University College Hospital in London eingeliefert worden. Dort erhielt sie von professionellen Fachärztin die medizinische Versorgung, die sie brauchte, um gegen den Krebs anzukämpfen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie gewinnen würde, sehr gering war...
Dadurch dass sie in London war, konnten wir sie so oft besuchen, wie wir konnten und durften. Des Öfteren waren wir nur zu viert in dem Krankenhauszimmer, Jay hatte meistens April im Arm, doch manchmal reiste die ganze Familie aus Doncaster samt Großeltern an. Dann wurde es richtig voll, doch so waren die Tomlinson – laut, fröhlich und dennoch in ihrer eigenen Art ruhig.
Im November wurde Johanna dann ins Royal Hallamshire Hospital in Sheffield verlegt. Jay wollte näher bei ihrer Familie sein, sodass sie nicht immer so einen langen Anfahrtsweg hatten und näher an der Stadt sein, wo sie aufgewachsen war. Je näher der Winter rückte, umso müder und abgekämpfter sah sie aus. Jay versuchte es vor ihren Kindern zu verbergen, doch ich glaubte sie bekamen mehr mit, als sie es vor ihr zeigten.
„El, ich kann das nicht mehr", ich sah von meinem Buch auf, was ich gerade gelesen hatte und blickte ihn direkt in die Augen. Louis kam die Treppe zu mir herunter, April auf dem Arm. Die Sorge um seine Mutter war ihm deutlich an zu sehen. Jede Nacht hörte ich ihn, wie er sich leise in den Schlaf weinte. Sein Gesicht ins Kissen gepresst, um seine schmerzvollen Schluchzer zu ersticken. Doch ich spürte es jedes Mal – auch wenn er sich aus unserem Schlafzimmer schlich, um April und mich nicht zu wecken. Ich ging Louis nach ein paar Minuten hinterher, nur um zu sehen, ob er etwas brauchte. Doch meistens war es nur die Nähe, die er sich wünschte, sich aber nicht traute auszusprechen, aus Angst mir oder jemand anders zur Last zu fallen. Sagen tat ich jedes Mal nichts, wenn ich ihm im Arm hielt, ihn einfach nur fest hielt und für ihn da war. Auch wenn mich sein Schmerz jedes Mal aufs Neue mit sich zog, versuchte ich für ihn stark zu sein. Es war seine Mutter die im Sterben lag und man förmlich mit zusah, wie der Krebs sich durch ihren Körper fraß, und immer mehr zerstörte.
Häufig hörte ich Louis: „Nein, nein, nein!" oder „Das kann doch nicht sein", verzweifelt flüstern und jedes Mal erfasste ihn wieder eine Welle an Schmerz die ihn zusammenkrümmen ließ. Es war eine Schutzreaktion des Körpers. Er versuchte sich selber zu halten, damit ihn der Schmerz nicht auffraß und dennoch konnte die Qual nicht aufgehalten werden – sie musste raus...
„Ich kann keine hundertsiebenundsechzig Meilen von meiner Mutter entfernt sein, wenn sie im Krankenhaus liegt. Ich kann das nicht. Bitte lass uns nach Sheffield fahren", seine Stimme brach am Ende, auch wenn er es hasste.
„Natürlich", sagte ich mit sanfter Stimme, legte mein Buch zur Seite und stand auf. Es war der dreißigsten November, als wir ein paar Sachen einpackten und uns auf den Weg nach Sheffield machten. Mit Max hatten wir schon seit Jays rapider Gesundheitsverschlechterung gesprochen, dass er Bruce so lange nehmen würde, wie wir auf den Sprung sein mussten. Hunde und Tiere im Allgemeinen durften nicht mit ins Krankenhaus genommen werden, außer sie waren spezielle Therapietiere. Falls der Moment kommen sollte, dass wir so schnell wie möglich ins Krankenhaus mussten, wollten wir sichergehen, dass Bruce versorgt war und das tat zum Glück Max, denn auf ihn konnte man sich verlassen.
April war nun schon mehr als sieben Monate alt und wir hatten die Erfahrung gemacht, dass sie meistens schlief, wenn wir mit dem Auto fuhren. Somit hatten wir eine Sorge weniger, dass wir ihr zu viel zu muteten oder uns eine laute Fahrt bevorstand. Ich glaube, ich würde sagen, das April zu den ruhigen Babys gehörte, was nun ein Vorteil für uns in dieser Situation war.
„Wie es ihr wohl heute gehen wird?", Louis Finger schlossen sich um meine Hand und hielten sie fest. Er hatte sich nicht davon abbringen können selber zu fahren. Vielleicht wollte er sich mit den englischen Verkehr ablenken, doch anscheinend kreisten seine Gedanken dennoch um seine Mutter.
„Wir werden es sehen, wenn wir da sind. Bitte, Louis...", ich sah ihn von der Seite an und kurz streifte sein Blick meinen, ehe er sich wieder auf die Straße richtete. Ich konnte ihn nicht leiden sehen. Es zerriss mich förmlich von innen.
„Ich weiß, wie sehr du sie vor dem Krebs bewahren möchtest und wie hart das jetzt auch klingt, aber du kannst sie nicht retten", meine Stimme klang viel zu laut in dem ruhigen Auto. Ich sah Louis Reaktion auf meine Worte und bereute meinen Mund aufgemacht zu haben. Noch bevor ich reagieren konnte, hatte er den Blinker gesetzt und fuhr auf den Standstreifen. Über sein Gesicht liefen die Tränen, nur wenige Sekunden bevor ein Schluchzen über seine Lippen kommt.
Sofort drückte ich auf den Knopf der Warnblickanlage, schnallte mich ab und zog Louis so gut es in dem Auto ging an mich. Er vergrub seinen Kopf in meinen Haaren und weinte.
„Ich weiß, ich weiß es doch, Love", es war kaum ein Hauch, was über seine Lippen kam, dennoch konnte ich ihn verstehen.
„Ich habe nur heute so ein komisches Gefühl...", Louis Stimme brach am Ende und wieder erschütterte seinen Körper unter den Schluchzern und Tränen. In mir zog sich alles zusammen.
„...Als wäre sie bald erlöst...", er drückte mich noch fester an seine Brust, hielt sich wie ein Ertrinkender fest und doch wusste ich, dass es nichts gegen den Schmerz in seinem Körper half. Er war da. Man kann ihn nicht lokalisieren. Der Schmerz war überall.
Eine Weile saßen wir so da, bis ich zu nervös wurde. Denn die Aktion die wir gerade machten, dass Auto an einer viel befahrenen Straße am Seitenstreifen einfach anzuhalten, war verdammt gefährlich. Es konnte jeder Zeit ein Auto in unseres rasen.
„Lass mich bitte das letzte Stück fahren", flüsterte ich meinen Mann ins Ohr, ehe ich ihn sachte von mir weg schob, um ihn in die Augen sehen zu können. Bevor ich ebenfalls noch zu weinen beginne, wandte ich mich zur Autotür und öffnete sie, als er mir kaum merklich zunickte.
So schnell wie wir konnten, hatten wir die Seiten getauscht und ich gab Gas Richtung Sheffield. Immer wieder schaute ich abwechselnd zu April und zu Louis, um zu sehen wie es ihnen ging. Ich wusste nicht so ganz, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Erst in den letzten Wochen war Louis Zustand so wie er heute war. Seine momentane Verfassung kam, als das Krankenhaus angerufen hatte, um uns mitzuteilen, dass sich Johannas Gesundheitszustand verschlechtert hatte. Seitdem an trauerte er, auch wenn seine Mutter noch lebte. Der Schmerz war schon da. Das man jeder Zeit eine über alles geliebte Person verlieren konnte und man nichts dagegen tun konnte, war uns da erst wirklich klar geworden.
Unsere Tochter wachte pünktlich auf, als wir in die Stadt reinfuhren. Louis hatte seinen Kopf auf seinen Arm abgelegt und schaute aus dem Fenster. Das einzige was mich davon abhielt, eine Pulskontrolle durchzuführen, war das stetige streicheln seines Daumen auf meinem Oberschenkel. Ansonsten zeigte er keinerlei Regung.
Mein Herz fühlte sich so schmerzvoll an, so leer und gleichzeitig viel zu voll für alle Emotionen, wenn ich Louis einfach nur ansah. Er saß zusammengesunken da und schaute in die Ferne. Seine Augen waren noch rotgerändert, doch die Haut hatte sich anscheinend in der letzten halben Stunde erholen können.
„Wir sind da", ich musste mich kurz räuspern, damit man mich überhaupt hören konnte. Meine Stimme klang dennoch eigenartig.
„Okay, danke...fürs fahren", Louis Stimme klang belegt und er brauchte zwei Anläufe bis er die paar Worte über die Lippen bekommen hatte. In meiner Brust zog sich alles zusammen. Es tat mir so leid, dass er und seine Familie das durch machen mussten. Wieso musste es solche Krankheiten geben? Wer hatte sich das nur ausgedacht?!
Wir beide schnallten uns ab, als ich das Auto geparkt hatte. Louis hob April mit samt den Kindersitz aus dem Wagen und griff dann nach meiner Hand. Auch wenn mein Mann sehr in sich gekehrt wirkte und nach außen hin fast abwesend, so war es dennoch ein wundervolles Gefühl, dass er meine Hand hielt. Es war schön, etwas wie ein Anker, ein sicherer Hafen für ihn zu sein. Jemanden an den er sich festhalten konnte, falls er zu abrutschen drohte.
Wir gingen die langen sterilen Flure des großen Krankenhauses entlang. Wir kannten den Weg schon in und auswendig, auch wenn wir leider noch nicht allzu oft hier gewesen waren. Der Geruch, die paar Farbtüpfelchen, es war alles irgendwie eigenartig und gleichzeitig auf verquerte Art einprägsam.
Mein Blick glitt immer wieder zu Louis rüber. Seine Augen waren nach vorne gerichtet – auf unser Ziel. Die Rötung war kaum noch zu sehen, dennoch würde Jay ihren Sohn sehr wahrscheinlich darauf ansprechen. Sie sah alles und in letzter Zeit war sie noch aufmerksamer als sonst auch schon. Ich glaubte, sie wollte einfach nichts mehr verpassen und sich alle Gesichter, Gestiegen und Mimiken ihrer Familie und Freunde genau einprägen, ehe sie für immer ging.
Als wir ihr Zimmer endlich erreichten, blieb Louis vor der Tür stehen. Sein Blick hing auf der Türklinke, ehe er zu mir schaute. Ich sah wie er tief durchatmete und mir kaum merklich zu nickte. In der einen Hand trug er immer noch April und meine wollte er nicht loslassen...
Ich wusste, welche Gedanken ihm durch den Kopf schossen, als ich langsam die Tür öffnete, nachdem ich geklopft hatte. Wie würde sie wohl heute aussehen und in welcher Verfassung würden wir sie vorfinden?
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