Teil 5 | Irritation
"Na sowas. Wieso habt ihr denn nicht schon mit dem Essen begonnen? Wollt ihr etwa riskieren, dass es kalt wird?"
Wieder stieß Papa sein seltsames Ho Ho Ho aus, das dieses Mal eher nach einem betrunkenen, statt einem freundlichen
Weihnachtsmann klang.
Er hatte sich in der kurzen Zeit, in der er verschwunden war, doch nicht etwa an seinen Schnapsvorräten bedient?
Verständlich wäre es. Ich konnte mir jedoch nur schwer vorstellen, dass Papa das Weihnachtsfest als genauso mühselig empfand, wie ich es tat.
"Natürlich nicht, Schatz. Wir würden doch niemals ohne dich anfangen. Schon gar nicht an Weihnachten."
Mama redete in einer Tonlage, die den Eindruck erweckte, dass sie gerade ein ungeschriebenes, aber sehr wichtiges Gesetz ausgesprochen hatte.
Papa ging langsam auf seinen Platz zu, während er zufrieden nickte.
"So kenne ich meine Familie", sagte er mehr zu sich selbst als zu uns.
Seine Hand berührte das Fleischmesser, das neben dem Braten auf seinen Einsatz wartete.
Ich wusste nicht woher das Gefühl kam, aber irgendetwas an diesem Satz bereitete mir Unbehagen.
"Können wir jetzt endlich essen? Die Geschenke warten bestimmt schon darauf, von mir ausgepackt zu werden", flötete Mike, der anscheinend gar nicht merkte, dass sich Papa seltsam verhielt.
Vielleicht interessierte es ihn auch einfach nicht, da er nur seine Geschenke im Sinn hatte.
Papa und Mama lachten kurz auf, dann begab sich Papa endlich daran, an der dampfenden Gans entlang zu schneiden.
Mike war der erste, der sich ein Stück auf seinen Teller geben ließ.
Ich hingegen ließ den Anderen den Vortritt. Mein Appetit hatte sich sowieso verflüchtigt, seitdem sich dieses ungute Gefühl in meinem Bauch spürte.
Als Papa mir am Ende das Stück Fleisch auf den Teller füllte, war ich etwas irritiert von der Hitze, die mir plötzlich ins Gesicht stieg.
Die Gans lag doch nun schon eine ganze Weile verzehrbereit auf dem festlich gedeckten Tisch.
War es wirklich möglich, dass sie so lange heiß blieb?
Papa schien meine Verunsicherung zu bemerken und wandte sich mir mit einem wohlwollenden Lächeln zu.
"Celina, was ist los? Stimmt etwas mit dem Fleisch nicht?"
Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich mich über die Temperatur des Fleisches wunderte. Schließlich war das doch eigentlich ein Grund, sich zu freuen, anstatt skeptisch zu sein.
"Nein, alles gut. Sieht sehr lecker aus", sagte ich, ohne wirklich überzeugt zu klingen.
Nachdem wir uns alle einen Guten Apettit gewünscht hatten -was ich übrigens schon immer als eine lästige Eigenart meiner Familie empfunden hatte- begaben wir uns endlich daran, den Braten zu verspeisen.
Je näher ich die Gabel an meinen Mund führte, desto deutlicher nahm ich einen bestimmten Geruch wahr, dem ich in meinem Leben schon häufiger ausgesetzt gewesen war.
Es war kein angenehmer Geruch.
Ich denke, am ehesten konnte man ihn mit faulen Eiern oder gewissen Darmgasen vergleichen.
Im Augenwinkel sah ich, dass Papa mich beobachtete.
Mike und Mama schien der Braten zu schmecken, da sie sich genüsslich darauf stürzten, als wäre dies ihre erste Mahlzeit nach einer sehr langen Zeit.
War es möglich, dass sie den Geruch bewusst ignorierten?
Oder war es bloß mein eigenes Stück Fleisch, das diese Gase absonderte?
Was auch immer die Erklärung dafür sein mochte, der Apettit war mir nun jedenfalls völlig vergangen.
Ich legte das Stück Fleisch wieder auf meinen Teller zurück.
Dann stand ich auf und entschuldigte mich mit den Worten, dass ich auf die Toilette müsste.
Meine Familie sagte nichts und schenkte mir auch sonst keine weitere Beachtung.
Es wirkte fast so, als hätte der Braten sie in seinen Bann gezogen.
Als ich mich zum Gehen bereit machte, bemerkte ich jedoch etwas sehr Sonderbares.
Es konnte auch am gedimmten Licht liegen, aber ich hätte schwören können, dass sich die Augen meines Vaters für den Bruchteil einer Sekunde in ein unbarmherziges, alles verschlingendes Schwarz verfärbt hatten.
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