Teil 20 | Blutendes Herz

Ich hatte keine Zeit mehr gehabt, um zum Sprint anzusetzen und mich in Sicherheit zu begeben. Der Wagen fuhr einfach zu schnell. Wahrscheinlich war der Fahrer komplett im Weihnachtsstress und hatte nur noch das Ziel vor Augen, rechtzeitig zum Festessen der Familie zu erscheinen.
Mit Fußgängern, die gerade aus dem sterbenslangweiligen Gottesdienst kamen, hatte er offensichtlich nicht gerechnet.

Zumindest konnte man davon ausgehen, wenn man sich sein überraschtes, panisches Gesicht ansah. Die paar Millisekunden, die mir noch bis zu dem unweigerlich bevorstehenden Knall blieben, nutze ich um mir das Gesicht des Kerls ganz genau einzuprägen.

Es war wichtig, dass ich das Gesicht beschreiben konnte, falls der Fahrer flüchten sollte und die Polizei mich danach fragte. Schließlich hatte jemand, der dermaßen schnell durch ein belebtes Dorf fuhr, eine saftige Strafe verdient.
Dass dieses Gesicht das Letzte war, das ich in meinem Leben sehen würde, hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht auf dem Schirm.

Die dicht aneinander liegenden Augen des Mannes waren so weit aufgerissen, dass ich dachte, sie würden jeden Moment aus ihren Höhlen ploppen. Der schmale Mund war weit geöffnet und gab den Blick in den Rachen des Mannes frei. Seine Haut war leichenblass. Und was war das da an seinen Augenbrauen?

Ich kam nicht mehr dazu, das Gesicht dieses Typen vollständig zu analysieren.
Ein dumpfer Knall folgte und dann wurde alles schwarz.

Die Fähigkeit, meinen Körper spüren zu können, war nicht mehr vorhanden.
Genauer gesagt konnte ich überhaupt nichts mehr spüren. Meine Sinne waren komplett ausgeschaltet. Es war, als würde ich in einem völlig abgedunkelten Raum schweben, in dem man die Gravitation ausgeschaltet hatte.

Das einzige, was ich noch wahrnahm, war das stetige Rauschen in meinen Ohren.
Zuerst war es verdammt laut gewesen, doch nach und nach ließ es andere Geräusche aus der Umgebung zu mir durchdringen.

Ich erkannte die Stimme meiner Mutter.
Immer wieder schrie sie meinen Namen. Ich wollte ihr antworten, doch so sehr ich mich auch bemühte, es kamen einfach keine Worte aus meinem Mund. Wie gerne hätte ich ihr gesagt, dass ich sie hören konnte.

Nach einigen verzweifelten Schreien meiner Mama, gesellte sich die Stimme meines Bruders dazu. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich ihn jemals so laut weinen gehört hatte. Es brach mir das Herz, ihn so tieftraurig zu erleben.
Offensichtlich lag ihm viel mehr an mir, als ich bisher angenommen hatte.

„Sie ist doch nicht tot, oder?“, hörte ich ihn Mama fragen.

Obwohl ich sie in diesem Moment nicht sah, konnte ich mir bildlich vorstellen, wie Mama innehielt und sich ihre Tränen aus dem Gesicht wischte. Sie wollte Mike durch ihre Reaktion keine Angst machen.

„So ein Quatsch. In ein paar Tagen wird sie wieder fit sein.“

Tatsächlich klang Mamas Stimme nun schon wesentlich gefasster. Trotzdem war mir das unterschwellige Beben nicht entgangen.
Sie glaubte nicht an das, was sie sagte.

„Worauf warten Sie?! Rufen Sie endlich den Krankenwagen!“, brüllte Mama dann in die Richtung des Fahrers.

„Es...es tut mir so leid, ich hab sie zu spät gesehen...“, war die Antwort des Kerls, dessen Gesicht ich mir so gut eingeprägt hatte, dass ich ihn nun deutlich vor mir sehen konnte.

„Machen Sie schon!“, rief Mama nun sogar noch lauter als zuvor.

Währenddessen hörte Mike nicht auf zu schluchzen. Es war herzzerreißend.
Wie gerne hätte ich den Beiden ein Lebenszeichen gegeben. Einfach, damit sie etwas Hoffnung schöpfen und trotz alledem das Weihnachtsfest wenigstens ein bisschen genießen konnten.

Doch es ging nicht.
Ich konnte mich ihnen nicht mitteilen.
Und dann verschwand die Geräuschkulisse auf einmal so abrupt, als hätte jemand den Stumm-Knopf an der Fernbedienung betätigt. Ich befand mich in völliger Stille.
Bis ich nach schließlich in einem tiefen Schlaf fiel.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top