Wie jedes Jahr war die Kirche zum Brechen voll. Die vorderen Reihen waren bereits alle besetzt, weswegen wir uns zu einer fremden Familie im hinteren Bereich quetschen mussten.
Deren kleiner Sohn musterte uns mit argwöhnischem Blick.
Offensichtlich war er nicht gerade glücklich darüber, dass er die Bank nun mit uns teilen musste.
Ich konnte ihn verstehen. Mir ging es genauso.
Obwohl Weihnachten angeblich das Fest der Liebe war, interessierte sich jeder doch bloß für sich und seine eigenen Bedürfnisse. Dies war eine weitere der hundert Lügen, denen wir aufgesessen waren.
Ich versuchte meine negativen Gedanken zu verjagen, indem ich mir die Kirche genauer ansah.
Auf dem Altar hatt der Pfarrer zuvor vier große Kerzen platziert, die alle angezündet waren. Vermutlich um zu symbolisieren, dass der vierte Advent bereits stattgefunden hatte.
Links daneben war ein pompöser Weihnachtsbaum aufgestellt, der mit übertrieben vielen Lichterketten bestückt war. Die weiß leuchtenden Lichter blendeten mich so sehr, dass ich reflexartig die Augen zukniff.
An einer riesigen Tafel, die den Eindruck machte, als sei sie aus altertümlichen Steinen erbaut worden, waren die Nummern der Lieder aufgelistet, die wir heute zu unseren Leidwesen würden singen müssen.
Die roten Gesangsbücher lagen unheilvoll vor uns und warteten nur darauf, an den entsprechenden Seiten aufgeschlagen zu werden.
Mama nahm sich eines der Bücher, um zu überprüfen, ob es sich bei den Liedern um bekannte Werke handelte.
Ich schüttelte nur verständnislos den Kopf, da es doch sowieso jedes Jahr die selben Kamellen waren, die die Menschen in Weihnachtsstimmung bringen sollten.
Ich wusste nicht, wie es den Anderen ging, aber bei mir lösten diese Lieder nichts als Brechreiz aus.
Als der Pfarrer nach einer gefühlten Ewigkeit endlich zum Altar herantrat, während er von völlig übertriebener Orgelmusik begleitet wurde, bemerkte ich plötzlich etwas in meinem Augenwinkel.
Wenn ich es definieren müsste, würde ich sagen dass es sich um eine Art Schatten handelte.
Doch dieser Schatten war unfassbar schnell unterwegs gewesen. Ich hatte nicht einmal Zeit, irgendeine Kontur zu erkennen.
Naja, möglicherweise hatte mir meine Wahrnehmung auch bloß einen Streich gespielt. Immerhin war die Beleuchtung hier wirklich seltsam und mein Gehirn langweilte sich vermutlich zu Tode, weswegen es sich diesen kleinen Spaß erlaubt hatte.
"Es geht los", zischte Mike mir völlig unvermittelt zu.
Wahrscheinlich wollte er damit andeuten, dass ich doch endlich das Gesangbuch aufschlagen sollte.
Um meinen Bruder zufrieden zu stellen, schlug ich das Buch an der besagten Stelle auf. Mitsingen würde ich jedoch nur über meine Leiche.
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