Kapitel 22
"Das ... geht es dir gut?!", stotterte Gavin während er hastig vom Bett aufstand. Seine Stimme war heiser. "Fühlst du dich unwohl?!"
"Ich bin ... das ... warum warst du -" Gwen schien keinen ihrer Gedanken zu Ende bringen zu können und ihre Stimme war so lange nicht benutzt worden, dass sie jetzt nur noch ein heiseres Flüstern war.
Die beiden starrten sich gegenseitig an, keiner von ihnen bewegte sich einen Zoll weit.
Er war unversehrt! Der Brand, die von dem Gift verursachten Blasen auf der Haut, erschienen immer unverzüglich, das wusste sie, aber seine Lippen, seine Haut ... alles sah unversehrt aus! Abgesehen von einem kleinen bisschen Rot um seine Augen sah er genauso aus wie vor ein paar Minuten.
Was ging hier vor sich?
Sie hatte ein wenig farbigen Lippenstift aufgetragen als sie sich für die Hochzeit fertig gemacht hatte - Gwen konnte noch immer eine Spur von weichem Wachs auf ihren Lippen spüren. Aber das konnte doch nicht genug gewesen sein um ihn vor ihr zu beschützen? Nein, bestimmt nicht.
Gavins Augen konzentrierten sich auf Gwens Mund, als ob seine Gedanken irgendwie ihre eigenen widerspiegeln würden, und sein Blick wurde noch verwirrter. Dann schaute er auf das Messer, das zu ihren Füßen lag.
"Warum hast du -", begann er.
"Was ist passiert?", platzte es aus ihr heraus "Du bist gefallen und ... Ich dachte-"
Gwen sah zu der Stelle, an der er eine Sekunde zuvor noch gelegen hatte. Ihr verwirrter Blick war vermutlich das Ebenbild des seinen.
Gavin folgte ihrem Blick zum Bett und schaute dann zurück zu ihr.
„Ich war ... Es tut mir leid. Ich habe nur-" Er blickte erneut zum Bett und wischte sich mit seinem Handrücken eine Träne aus dem Augenwinkel. "Ich war... verzweifelt. Ich dachte etwas Schreckliches wäre geschehen. Aber du bist nicht ... ich meine, ich habe nicht ..."
Er sah für einen Augenblick verstört aus und seine Stimme verlor sich im Nichts.
Es herrschte wieder Stille im Raum als sie sich ansahen und Gwen, die nicht die Kraft hatte noch länger aufrecht zu stehen, ließ sich vorsichtig auf den nächsten Stuhl sinken und versuchte nachzudenken.
War er verletzt? Er sah nicht so aus. Er schien jedoch verwirrt. Kam das von dem Gift?
"Ich ... verstehe das nicht", krächzte Gwen. Sie runzelte die Stirn und versuchte ein paar Mal sich zu räuspern, was ihr einen besorgten Blick von Gavin einbrachte.
"Nein! Ich bin - ... du musst ...", stammelte er. Dann schloss er die Augen, gab ein frustriertes Knurren von sich und schaute zur Decke.
Was zum Teufel ging hier vor sich!? Er war plötzlich viel weniger gesprächig als vorhin - so hatte er sich nicht angehört, als er vorher mit ihr gesprochen hatte! Beeinflusste das Gift seine Fähigkeit zu sprechen?
"Ich bin ... es ist so, dass ich -", fuhr er fort, seine Worte waren halb gestottert, seine Stimme klang immer frustrierter. Schwerfällig setzte er sich auf das Bett und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, wie als ob er versuchen würde nachzudenken.
Gwen erkannte etwas Vertrautes in dem Zögern in seiner Stimme, wenn er sprach. Es klang wie ...
Ein Zwang? Ein Bann? Ein... Bannfluch?
In Gedanken versunken, schien Gavin etwas zu begreifen und wandte sich einen Moment später Gwen zu.
"Wünschst du, dass ich dir etwas über mich erzähle?", fragte Gavin. Seine Worte klangen vorsichtig. "Etwas. das ich dir schon immer sagen wollte?"
"Ja", stimmte sie augenblicklich zu und nickte.
"Nein!" Er brüllte fast und schlug seine Hände über dem Kopf zusammen. Dann beruhigte er sich wieder, richtete sich auf, holte tief Luft und warf ihr einen sehr direkten Blick zu. "Du wünschst, dass ich es dir erzähle", wiederholte er, ohne daraus eine Frage zu machen.
Verwirrt runzelte Gwen die Stirn.
"Ja, das tue ich", sagte sie langsam nickend.
Gavin warf ihr einen verzweifelten Blick zu und winkte mit der Hand, wie um sie zu ermutigen weiterzusprechen.
"Ich ... wünsche, dass du mir erzählst ... was du mir erzählen wolltest?" sagte sie schließlich zögerlich. Sie sah wahrscheinlich genauso verwirrt aus wie sie sich anhörte.
Gavin schloss seine Augen und ließ sich rückwärts auf das Bett fallen, mit einem lauten Stöhnen, als ob er zu Tode erschöpft wäre. Seine Hände bedeckten sein Gesicht. Zuerst dachte Gwen er fühlte sich jetzt noch frustrierter war als zuvor, aber als er endlich seine Hände vom Gesicht wegnahm, sah sie, dass der Ausdruck auf seinem Gesicht pure Erleichterung war.
"Oh, der Göttin sei Dank!" Er keuchte fast und setzte sich auf. Er drehte sich zu ihr, seine Augen waren ernst und wachsam. "Also, hör zu, das ist schwer zu erklären, aber du bist in Gefahr. Du kannst das nicht noch einmal machen. Niemals!" Er blickte sie an, und es lag eine tiefe Einsamkeit in seinen Augen. "Obwohl ich mir wirklich wünschte, du würdest es wieder tun. Fühlst du dich nicht wohl? Ist dir schwindelig? Wir brauchen ein Handtuch oder... irgendetwas um deine Lippen abzuwischen, nur für den Fall-"
Seine Stimme verlor sich als seine Augen den Raum absuchten und schließlich auf der Tischdecke landeten. Im Handumdrehen sprang er vom Bett auf, rannte zu dem Tisch der neben ihr stand und riss das Tuch an sich, das darüber gebreitet lag. Essen und Tafelsilber fielen geräuschvoll zu Boden. Gwen saß währenddessen einfach nur still auf ihrem Stuhl und versuchte zu verstehen was gerade passierte.
"Hier, schnell", sagte er und hielt ihr das Tuch hin. "Hör zu, ich weiß, dies alles muss dir seltsam vorkommen, aber bitte... du musst deine Lippen abwischen! Und versuche sie dabei nicht mit deiner Zunge zu berühren. Oder zu schlucken – schlucke ja nicht, verstanden?!"
Sie starrte auf das Tuch, das er ihr hinhielt. Das Weiß des Tischtuchs war fast nicht von den weißen Offiziershandschuhen zu unterscheiden, die er während der Zeremonie getragen hatte ... die gleichen Handschuhe, die er aus irgendeinem Grund immer noch trug, was -
Plötzlich begriff sie, und auf einmal schien sich alles wie ein Puzzle in ihren Gedanken zusammenzufügen. Der Schock der Erkenntnis fühlte sich an, als hätte ihr jemand mit einem unsichtbaren Hammer auf den Schädel gehauen.
Er verhielt sich genauso wie sie es tun würde...
... wenn sie jemanden vergiftet hätte!
Und dann wurde Gwen schwindelig und benommen, wurde fortgetragen von einem Wirbelsturm aus Gedanken und und Erinnerungen, die endlich endlich einen Sinn ergaben. Die sonst immer angespannten Muskeln an ihrem Nacken und ihren Schultern entspannten sich plötzlich von allein, ein Ozean an Spannung verließ ihren Körper in Wellen und sie sank zurück in ihren Stuhl. Mit einem Mal wusste sie, auch wenn es unmöglich schien, warum er sich so verhalten hatte. Sie wusste warum er nicht gestorben war.
Gwen konnte sich nicht zurückhalten und fing an zu kichern.
Irgendwie schaffte Gavin es, noch verzweifelter auszusehen als zuvor und der Ausdruck auf seinem Gesicht veranlasste Gwen dazu, noch heftiger zu lachen.
„Euphorie! Schnell, reibe damit dein Gesicht ab!", sagte er "Und ... spucke aus! Du musst in das Tuch spucken! Ich besorge etwas Wasser, oder Wein ... etwas womit du deinem Mund ausspühlen kannst! Wir haben-"
Sie lachte nun so heftig, dass sich in ihren Augenwinkeln Tränen bildeten.
"Du bist vergiftet worden! Das ist eines der Symptome", bedrängte er sie. Noch immer hielt er ihr das Tuch hin. "Hör zu, das hört sich jetzt sehr seltsam an, aber ... mein Vater hat mich hier hin geschickt um dich zu töten. Er will die Macht über euer Königreich und möchte es mit unserem vereinigen und dann beide regieren. Das war schon immer sein Plan - die ganze Zeit über! Seit Jahren plant er das schon! Weißt du, seit ich ein kleiner Junge war, war ich gezwungen, etwas Bestimmtes zu mir zu nehmen, ein-"
"- abscheuliches blaugrünes Kraut", gelang es ihr zwischen ihren Glucksern herauszubringen. Sie wischte sich ein Auge mit ihrem Handrücken ab. "Es wurde dir jeden Tag mit deinem Essen verabreicht ..."
Sprachlos starrte Gavin sie an. Seine Augen traten fast aus den Höhlen. Sein komischer Gesichtsausdruck brachte Gwen dazu, wieder aufs Neue in einen Lachanfall auszubrechen, aber letzten Endes schaffte sie es ihre Heiterkeit unter Kontrolle zu bringen.
Das Lächeln auf ihrem Gesicht aber blieb.
"Ich-", begann Gavin und wandte seinen verblüfften und verständnislosen Blick nicht eine Sekunde von ihr ab. "Ich dachte - mein Vater hat gesagt, das Wissen darüber wird geheim gehalten! Du ... dein Volk kennt das Kraut? Habt ihr ein Gegengift? Seid ihr immun?“
"Das Kraut heißt chi'darro... was meiner Vermutung nach eine Art ausländisches Wort für 'schmeckt wie in ranzige Butter mit gebratener Kreide' ist, aber sicher bin ich mir da nicht", sagte sie und grinste ihn an. Ihre Fröhlichkeit ließ wahrscheinlich ein bisschen kindisch wirken, aber das kümmerte sie nicht wirklich. Sie war so ernst gewesen, so unglücklich für eine so lange Zeit ... ein bisschen Albernheit erschien ihr plötzlich wie Medizin.
Gavin blinzelte sie an.
"Du bist ... du ... woher kannst du wissen wie es schmeckt?", fragte er und sah dabei noch unsicherer und verblüffter aus. Dann sah man auf seinem Gesicht die Erkenntnis dämmern. "Du hast ... aber das kann nicht sein, oder? Nur ich, es bin nur- ..."
„Es wurde mir mein ganzes Leben lang verabreicht. Die Pläne meines Vaters klingen beinahe identisch mit denen deines Vaters - er ließ mich dich heiraten um dich zu vergiften und umzubringen. Ich wollte es nicht. Ich habe seine Pläne schon einmal durchkreuzt und es geschafft einen anderen Prinzen rechtzeitig zu warnen, aber er hat mehr als sichergestellt, dass ich dieses Mal nichts dagegen tun konnte", sagte sie. Gegen Ende ihrer kleinen Rede ähnelte ihre Stimme zunehmend einem heiseren Krächzen. Sie wedelte mit einer entschuldigenden Geste vor ihrem Hals herum, schluckte, und räusperte sich abermals. "Ich konnte wochenlang nicht reden, dank etwas was man Meistersphäre nennt, sonst hätte ich dich gewarnt."
Er sah sie aufmerksam an als sie sprach und nach einer Weile wurde sein verwirrter Blick nachdenklich und verständnisvoll und er schien sich selber zuzunicken. Dann sah Gwen ein winziges bisschen Misstrauen in seinen Augen aufblitzen. Er runzelte die Stirn.
"Du hast mich geküsst", warf er ihr vor. „Ist das hier eine Falle? Warum hättest du mich küssen wollen, wenn du mich nicht tot sehen willst? Und gerade eben hattest du ein Messer in der Hand! Was genau hattest du damit vor?“
Gwens Augen verengten sich bei dieser Schlussfolgerung, aber nach einigen Augenblicken wurde ihr Gesichtsausdruck wieder weicher. Diese Entwicklung war so ziemlich das letzte, das sie erwartet hätte - er war davon wahrscheinlich auch vollkommen überrumpelt worden und war nun lediglich vorsichtig. Das war mehr als verständlich, wenn man darüber nachdachte.
"Als du dachtest du hättest mich umgebracht, hattest du das Gefühl damit leben zu können, Gavin?", fragte sie mit leiser Stimme. Sie holte Luft. "Ich hatte das Messer in der Hand, weil ... weil ich ..."
Sie wusste nicht recht was sie sagen sollte, also zuckte sie nur mit den Schultern.
Seine Augen wurden eine bisschen weniger misstrauisch. "Und der Kuss? Warum hättest du mich küssen sollen, wenn -"
"Ich wollte dich nicht küssen – na ja, eigentlich ist das nicht wirklich wahr. Es war ein Zwang - ein Teil der Meistersphäre, die ich erwähnt habe. Der Zauber trat in Kraft als wir zu Mann und Frau erklärt wurden. Er, äh ... " Gwen fühlte sich ein wenig schüchtern und schaute kurz zur Seite, sie merkte wie ihre Wangen sich leicht rot färbten. „Er hat dafür gesorgt das ich... du weißt schon was wollte. Wirklich. Sehr.“
Skeptisch hob Gavin eine einzige Augenbraue und schaute nachdenklich. Nach einigen Sekunden grinste er sie an.
In diesem Moment verstand Gwen augenblicklich warum Gavins Lächeln das Gesprächsthema des Schlosses geworden war.
"Weißt du, ich beginne mich zu fragen, ob ich vielleicht von etwas Ähnlichem betroffen war", sagte er mit einem spielerischen Glitzern in den Augen. „Seit ich dich das erste Mal gesehen habe wollte ich dich auch wirklich gerne küssen..."
Gwen spürte wie ihre Wangen noch roter wurden. Dann erinnerte sie sich an etwas und ihre Augen verengten sich ein wenig als sie ihn ansah.
"Oh? Und was würde deine Liebste daheim denken?“, fragte sie mit einem Hauch von Schroffheit in ihrer Stimme.
Irgendwie schaffte Gavin es noch verwirrter auszusehen als ein paar Minuten zuvor.
"Was?!"
"Dein Vater hat schon allen von deiner Geliebten erzählt, die du zuhause zurückgelassen hast", sagte sie vielleicht ein wenig anschuldigend. "Er hat mir und meinem Vater alles darüber berichtet! Jemand besonderen in Rhegar, in den du verliebt bist. Was würde sie ..."
"Gwen?", unterbrach er sie, den Kopf schüttelnd. "Hast du einen Freund? Jemand Besonderen?"
"Nein, natürlich nicht...", sagte sie und schaute ihn an. "Ich kann nicht, weil ich ... ich -"
"Du bist wie ich", sagte Gavin und bückte sich, so dass er fast auf Augenhöhe mit ihr war bevor er erneut seinen Kopf schüttelte. "Nein ... zuhause wartet keine Geliebte auf mich. Mein Vater ist ein Schurke und ein Lügner. Eine Verschwendung von Haut und Knochen. Wie ich vorhin schon gesagt habe, hat er mich hierhergebracht um dich zu töten. Ich habe seine Pläne schon vor langer Zeit herausgefunden. Er war sehr aufgebracht darüber, dass ich nicht bei seinem 'großartigen Vorhaben' mitspielen wollte. Irgendwann musste er mir dann einen 'Wunsch'-Zwang auferlegen um mich unter Kontrolle zu halten. Ich versuche schon seit Jahren darum herumzukommen." Gavin atmete kurz ein bevor er weitersprach. "Obwohl ich genau an seine Wünsche gebunden war, habe ich alles versucht um seine Pläne zu vereiteln. Das Tragen meiner Reiterkleidung als wir uns das erste Mal getroffen haben, das distanzierte Verhalten, meine Weigerung dich anzusehen ... all das habe ich getan, damit du dich unbehaglich fühlst und deinen Vater bedrängst die Hochzeit abzusagen oder dich entscheidest wegzurennen statt eine arrangierte Ehe einzugehen."
Gwen saß verblüfft da. Es war fast als hätten sie identische Leben geführt!
„Was ich nicht verstehe... Wenn es dir darum ging um deinen Zwang herumzukommen, warum hast du dann als ich mir gewünscht habe-“
„Halt, stopp … Vorsicht! Bitte!“ sagte er schnell und streckte seine Hände nach ihr aus. „Benutze ja nicht dieses Wort, es ist immer noch wirksam. Ich muss wortwörtlich tun was mein Vater wünscht.“
„Aber … ich bin nicht dein Vater!“
„Ja, aber letzte Nacht war er sternhagelvoll und hat gefeiert. Ich denke nicht, dass er klar denken konnte. Er hat mich letzte Nacht in seine Gemächer gerufen und ist ziemlich betrunken noch einmal den Plan durchgegangen – er hat mir gesagt, er wünscht, dass ich ohne viel Aufhebens die Hochzeit durchziehe und dass ich, wenn das vorbei wäre, dich schnell zum Schlafzimmer bringen soll und ähm … Gavins Gesicht errötete leicht. „Er hat gesagt, er wünscht von mir, dass ich … die Dinge tue, ähm … von denen Bräute wollen, dass ihre Männer sie in der Hochzeitsnacht tun.“ Er atmete einmal tief ein. „Ich denke er meinte es als Scherz, oder er wollte mich noch weiter quälen, aber er hat tatsächlich das Wort 'wünschen' benutzt. Ich weiß nicht, ob er wusste, dass er es gesagt hat oder nicht, aber ich konnte es fühlen! Also habe ich mir gedacht, dass wenn ich dich dazu bringen könnte, dir etwas zu wünschen…“
„Warte… du hast versucht, mich dazu zu bringen zu wünschen, dass ich dich nie wieder sehe!“
Er nickte düster. „Ich wusste, dass wenn du das gesagt hättest, ich in der Lage gewesen wäre das Schloss zu verlassen. Ich wäre auf das erstbeste Pferd gesprungen und wäre davongeritten… irgendwohin. An irgendeinen Ort, weit, weit weg, wo mich niemand hätte finden können. Wahrscheinlich wäre ich letztendlich in irgendeinem Wald krepiert – Ich kann nicht sehr lange ohne das Kraut überleben. Ich habe einmal versucht es mir abzugewöhnen, aber nur dieses eine Mal. Es war ziemlich schrecklich.“ Gavin schaute sie an. „Aber wenigstens hättest du so am Leben bleiben können. Ich meine, du hast es nicht verdient zu sterben.“
Gwen dachte daran, wie verzweifelt, wie aufrichtig er sich bemüht hatte sie zu überzeugen ihn wegzuschicken. Und die ganze Zeit, während der er versucht hatte sie zu überreden, während der er versucht hatte ihr die Wörter aus dem Mund zu locken… wusste er, dass er sein eigenes Leben in Gefahr brachte.
Ein wilder Fluss aus Emotionen durchströmte sie, unzählige Gefühle in einem wilden Durcheinander.
„Wie auch immer, das Problem jetzt im Moment ist, dass wir das Puzzle nur halb gelöst haben“, fuhr er fort und strich sich die Haare aus der Stirn. Geste fing an, ihr vertraut vorzukommen. „Ich bin noch immer in der Gewalt meines Vaters… das spüre ich. Ich muss leider immer noch tun, was er wünscht. Ich muss wahrscheinlich auch tun was du wünschst, zumindest im Moment. Auf jeden Fall musst du vorerst vermeiden, das Wort „wünschen“ mir gegenüber zu gebrauchen, zumindest bis wir einen Weg finden um den Zauber zu-“
„Ich soll nicht das Wort 'wünschen' verwenden? Wie zum Beispiel wenn ich zu dir sagen würde… Ich wünsche, dass du den Wunsch-Zauber ignorierst?“, fragte sie.
„Nicht-“, begann er und streckte seine Arme aus, als ob er versuchen würde, sich zu schützen. Dann starrte er sie verblüfft an. Sein Blick wanderte zu seinen ausgestreckten Armen als wären sie ihm vollkommen unvertraut. Innerhalb einer Sekunde veränderte sein Gesichtsausdruck sich von besorgtem Unbehagen über Verblüffung bis hin zu Überraschung und dann letztendlich zu einem Ausdruck des Erstaunens.
"Hat es funktioniert?", fragte Gwen mit einer Spur von Selbstgefälligkeit in ihrer Stimme.
"Es ist... weg!", keuchte er während er Gwen anstarrte als ob sie gerade ein Wunder vollbracht hätte.
Der Ausdruck von äußerstem Erstaunen auf Gavins Gesicht war zu viel für Gwen – sie brach erneut in Kichern aus und ließ sich zurück in den Stuhl fallen. Dieses Mal brauchte sie fast eine ganze Minute, bis sie sich wieder beherrschen konnte.
Es fühlte sich gut an zu lachen, stellte Gwen fest. Sie hatte seit so langer, langer Zeit über nichts mehr gelacht.
Als sie schließlich aufhörte, sah sie wie Gavin immer noch einige Meter von ihr enfernt zusammengekauert auf dem Boden saß. Ab und zu untersuchte er seine Arme, als ob etwas Neues oder Ungewohntes an ihnen wäre. Dann schaute er Gwen an und lächelte beglückt und Gwen bekam den Eindruck, dass auch er nur wenige Momente davon entfernt war, laut loszulachen.
Dann, plötzlich, wurde sein Ausdruck ernst. Er erhob sich aus seiner kauernden Haltung.
"In Ordnung", sagte er in ernstem Ton. "Mein Vater hat Leute, die diesen Raum beobachten. Dein Vater wahrscheinlich auch. Wir wissen nicht, was auf uns wartet, aber wahrscheinlich haben wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Wir werden uns einen Plan zurechtlegen müssen. Ich hatte nicht die Möglichkeit, mir etwas auszudenken - ich war zu beschäftigt damit mir zu überlegen wie ich verhindern könnte dich zu töten.“ Seine wachsamen Augen erforschten das Zimmer und er runzelte die Stirn. „Vermutlich stehen uns als Ressourcen nur das zur Verfügung was sich hier in diesem Raum befindet... was auch immer wir davon irgendwie für unsere Zwecke benutzen können."
Seine Worte erinnerten sie daran, dass Rhosyn immer noch da draußen war, irgendwo, von Anifail als Geisel gehalten. Sie mussten definitiv etwas unternehmen. Erneut spürte sie das grausiges Gefühl der Angst, das ihr in letzter Zeit so vertraut geworden war, in ihrem Magen.
Und auf einmal war das Gefühl einfach wieder verschwunden.
Es gab viele Wege, wie sie ihre Ziele erreichen konnten, begriff sie. Gwen selbst hatte schon ein oder zwei Ideen, wie sie die Situation, in der sie und Gavin sich befanden, zu ihrem Vorteil wenden konnten. Sie waren beide nicht auf den Kopf gefallen und da sowohl Bryn als auch Alwyn ihre Pläne streng geheim gehalten hatten, war das Element der Überraschung mit Sicherheit auf ihrer Seite.
Die Tatsache, dass sie nun König und Königin waren, würde wahrscheinlich auch nicht schaden ...
Aber im Moment ...
Gwen merkte, dass sie Gavin aufmerksam betrachtete während er vor ihr auf und ab lief. Er sprach energisch über einige Möglichkeiten, denen sie nachgehen könnten und starrte dabei auf den Boden. Er schien in Gedanken versunken.
Sie begann ihre Handschuhe abzustreifen.
"... die Loyalität gilt der Krone, nicht meinem Vater als Person", sagte er und wedelte aufgeregt mit dem Zeigefinger. "Was uns natürlich helfen könnte. Das eigentliche Problem ist, dass die einzigen Befehle, die die Ritter meines Vaters akzeptieren, schriftliche Befehle sind. Ich glaube, dass dies die Art ist auf die mein Vater mich kontrollieren wollte - wie er weiter regieren wollte selbst nachdem er mich zum König gemacht hat. Ich wurde von Büchern jeder Art ferngehalten und es war mir verboten sie zu lesen, so dass ich was Gesetze betrifft-"
"Gavin?", sagte Gwen sanft.
„-völlig unwissend war. Er würde als einziger Gesetze erlassen können weil ich nicht lesen und schreiben kann.“ Für einen Moment hörte er damit auf, den Raum mit seinen Schritten zu durchmessen, als ob ihm gerade eine Erleuchtung gekommen wäre. „Aber du kannst lesen und schreiben! Und wir sind jetzt König und Königin! Unser Wort ist Gesetz... was bedeutet, dass-“
„Wir werden uns etwas einfallen lassen Gavin. Wir haben Zeit.“ Langsam erhob sich Gwen aus ihrem Stuhl.
„Ja, aber sobald wir ausgeklügelt haben wie wir das anstellen, können wir-“
„Gavin?“, wiederholte sie leise.
„Hmm... ja?“, fragte er, noch immer mit seinen Gedanken woanders. Langsam drehte er sich zu ihr um.
Als er sie dann erblickte sah er plötzlich überhaupt nicht mehr aus als wäre er mit seinen Gedanken woanders. Ganz im Gegenteil, er sah aus wie er am Altar ausgesehen hatte: er starrte sie an als sie auf ihn zukam, seine Augen so groß wie Untertassen.
Sie nahm die letzten paar Schritte die sie trennten langsam und bedächtig. Als sie anhielt, stand sie nur noch einen Fuß weit von ihm entfernt. Sie hielt eine Hand hoch, die Handfläche ihm zugewandt, die Finger ausgestreckt. Zuerst blickte sie ihm direkt in die Augen, dann wanderte ihr Blick zu seiner eigenen Hand. Sie sagte nichts.
Die beiden standen einfach nur da und sahen sich an.
Gavin schluckte. Langsam hob er seine Hand. Dann, als er bemerkte, dass er immer noch die weißen Offiziershandschuhe trug, zog er sie schnell von den Fingern bevor er ihr erneut seine Hand darbot... den Arm erhoben, die Finger gespreizt, ein Spiegelbild ihrer Geste.
Für ein paar Augenblicke blieben sie so stehen, die Hände nur ein paar Zoll voneinander entfernt. Gavins Unterlippe begann zu zittern, und Gwen verspürte eine seltsame Mischung aus Unsicherheit und freudiger Erwartung.
Ganz langsam führte Gwen ihre Hand nach vorne, der seinen entgegen. Sie bemerkte, dass Gavins Hände bebten.
Zögerlich, behutsam berührten sich ihre Fingerspitzen.
Und all die Schmetterlinge in Gwens Welt flogen auf einmal dem Himmel entgegen.
Gwen schloss die Augen und fühlte wie Tränen ihre Wangen hinabliefen. Ein Teil von ihr bemerkte, dass sie lächelte. Ihre Schultern bebten und es fühlte sich fast so an als ob sie zur gleichen Zeit lachte und weinte.
Berührung. Die Berührung eines anderen Menschen. Und nicht irgendeine flüchtige Berührung... nicht irgendjemand, der abrupt seinen Arm wegriss, nicht etwas auf das unerträgliche Schmerzensschreie folgten. Es war das Gefühl der Haut eines anderen die ihre Hand berührte, mit einem sanften aber nachdrücklichen Druck, gerade so, als ob er ihr versichern wollte, dass dieses Gefühl nicht einfach verschwinden würde. Eine Berührung, ohne Stoff oder Schutzkleidung zwischen ihnen. Tatsächliche Wärme unter ihren Fingerspitzen – das Gefühl war beinahe zu wundervoll um wirklich zu sein. Sie genoss es als ob es jeden Moment plötzlich verschwinden könnte.
Ein Zittern durchlief ihren Rücken und ihre Schultern, und es fiel ihr äußerst schwer das Zittern davon abzuhalten auch ihre Arme zu ergreifen.
Sie öffnete ihre Augen um Gavin anzusehen – und sah in seinem Ausdruck ihre Gefühle genau widergespiegelt. Den Mund halb geöffnet starrte er ihre gegeneinander gepressten Fingerspitzen an als ob er von dem Anblick verzaubert wäre. Auch seine Augen glänzten feucht.
Die Pläne ihres Vaters, die Pläne seines Vaters, die Pläne die sie beide sich würden ausdenken müssen... nichts von all dem zählte. Alles andere in der Welt löste sich in nichts auf in Vergleich mit dieser einen, einfachen Wahrheit:
Er war wie sie.
Sie konnten sich berühren.
Sie hatten jede Menge Zeit. Gwen wusste das jetzt. Sie wusste jetzt dass die Göttin der Weisheit doch nicht blind war – sie hatte genau gewusst was sie tat. Eirene hatte sie beide tatsächlich gesegnet. All das Reden und Pläneschmieden das vor ihnen lag konnte warten... zumindest für eine Weile. Im Moment jedoch zählte nur die Tatsache, dass sie allein in einem Zimmer war, zusammen mit jemandem der durch ihr Gift keinen Schaden nehmen konnte... vielleicht die einzige solche Person in der ganzen Welt. Jemand, der sie möglicherweise tatsächlich verstehen könnte, der verstehen konnte was sie ihr ganzes Leben lang hatte durchmachen müssen, auf eine Art und Weise wie sonst niemand.
Es fiel Gwen wie Schuppen von den Augen – Ihr Leben war doch keine Tragödie.
Es war ein Märchen.
Und sie hatte ihren Prinz gefunden...
Die beiden standen mehrere Minuten lang einfach nur so da, berührten sich mit den Fingerspitzen und genossen das Gefühl.
Auf einmal stieg Abenteuerlust in Gwen auf. Sie hob ihre andere Hand, und Gavin ahmte sie augenblicklich nach. Sie sah ihm in die Augen.
„Dieser Zauberbann den den dein Vater auf dich gelegt hat...“, wisperte sie. „Du weißt schon, der dich dazu zwingt alles zu tun was ich wünsche. Bist du dir sicher, dass er gebrochen ist?“
„Absolut sicher“, sagte er mit einer vor Gefühlen erstickten Stimme.
„Gavin?“, sagte sie, ein schüchternes Lächeln auf den Lippen. Sie ließ ihre Finger zwischen die seinen gleiten und ergriff seine Hand fest aber zärtlich. „Ich wünsche mir, dass du mich küsst.“
Einen Moment schien es so als könnte er kaum mehr Luft holen. Er starrte zu ihr hinab, und der Schock war klar auf sein Gesicht gezeichnet. Dann, als der Moment verging, breitete sich ein Lächeln auf seinen Zügen aus... und als sie dieses Lächeln erblickte begriff Gwen, dass sie jeden verbleibenden Moment ihres Lebens der Aufgabe widmen würde alles zu tun was in ihrer Macht stand um dieses Lächeln wieder und wieder und wieder auf sein Gesicht zu zaubern.
„Na ja“, murmelte er, seine Stimme kaum mehr als ein raues Flüstern. „Vielleicht ist der Bann doch noch nicht ganz gebrochen...“
Langsam senkte er sein Gesicht dem ihren entgegegen, langsam genug um sie Schmerzen der Sehnsucht spüren zu lassen.
Ihre Lippen berührten sich.
Gwens Innerstes erzitterte mit der Gewalt eines kleinen Erdbebens. Das Beben setzte sich fort bis es von ihren Fingern, ihrem ganzen Körper Besitz ergriffen hatte. Es war wie nichts von dem sie zuvor hatte träumen wagen. Es war die pure Wonne.
Diesmal packte sie nicht die Panik, diesmal wurde sie nicht von der schrecklichen Gewissheit überfallen jemanden ermordet zu haben, oder verletzt zu haben, oder irgend eines der vielen anderen Dinge vor denen sie sich ihr ganzes verfluchtes, freudloses Leben gefürchtet hatte.
Als der Kuss schließlich zu Ende ging, ließ er Gwen eingehüllt in ein Gefühl des Staunens und des Glücks zurück... und sie freute sich bereits auf den nächsten Kuss, war so begierig auf ihn, dass sie den Atem anhielt während sie wartete. Dann begriff sie, dass sie nicht zu warten brauchte, und sie ging sofort dazu über den Kuss zu erwidern.
Kurz darauf entdeckte Gwen, dass sie gleichzeitig küssen und lächeln konnte... und dass es wundervoll war.
Und obwohl sie bis zu diesem Tag kaum ein Wort miteinander gewechselt hatten sorgten die beiden in dieser Nacht dafür dass ihre Wünsche in Erfüllung gingen.
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