Kapitel 16

Zwei Tage nach dem Treffen mit König Alwyn und Prinz Gavin schwand Gwens anfängliche Hoffnung. Langsam kroch die Panik in ihr hoch. Keine der Ideen die ihr in den letzten Tagen gekommen waren, hatte Aussicht auf Erfolg, und die wenigen die zumindest sinnvoll waren trugen immense Risiken mit sich.

Und die Hochzeit war morgen...

Gwens erster Gedanke war, Gavin eine Nachricht zukommen zu lassen - etwas auf ein Pergament zu schreiben das ihren Zustand beschrieb. Oder, falls der Zauber der Meistersphäre sie daran hindern würde so etwas zu tun, ihm einfach eine kleine Notiz zu schicken die ihn dazu ermunterte die Hochzeit zu vergessen und zu seiner geheimen Liebe in Rhegar zurückzukehren.

Das Problem bei dieser Idee lag darin, dass sie sicherlich Spuren hinterlassen würde. Da Rhosyn nun fort war, gab es niemanden mehr, dem sie vertrauen konnte! Alle anderen Diener waren von Anifail oder Gwens Vater neu eingestellt worden, was bedeutete, dass sie ihnen auf keinen Fall eine so wichtige und heikle Nachricht anvertrauen dürfte. Außerdem hatten die meisten der neuen Diener weder Lesen noch Schreiben gelernt - wie sollte sie denen erklären was mit der Nachricht geschehen soll, da sie ja nicht sprechen konnte? Handzeichen? Wohl kaum.

Gwen hatte auch schon darüber nachgedacht, eine Nachricht zu schreiben und diese bei sich zu tragen, bis sie mit Prinz Gavin allein war und ihm den Zettel selbst überreichen konnte. Aber der Gedanke mit einer solchen Nachricht in der Tasche herumzulaufen machte ihr Angst. Was, wenn Anifail die Anweisung erteilen würde Gwen durchsuchen zu lassen und man die Notiz fand? Wenn ihr Vater herausfand, dass sie sich mit dem Prinzen verständigte oder auch nur eine einzige Nachricht an ihn übermittelt hatte, würde er sicherlich sofort erraten was sie vorhatte. Gwen schauderte. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was dann mit Rhosyn passieren würde.

Nach langem Nachdenken hatte Gwen schließlich eine Lösung für ihr Problem gefunden, die plausibel erschien. Sie hatte in einem der unzähligen Burgräume, die als Lager benutzt werden, einen kleinen, zusammengefalteten Fächer aus Papier gefunden, sowie ein winziges Stück Holzkohle, das für Zeichnungen benutzt werden konnte. Nachdem sie dieses Stück Kohle in einen Stofffetzen eingewickelt hatte, hatte sie es in eine Falte des Fächers gelegt. Das Papier des Fächers war leicht gelblich, aber es war gut genug um eine kurze Nachricht drauf zu schreiben wenn sie ihn ausfaltete und glattstrich. Das Beste war, dass diese Methode kein Aufsehen erregen würde. Alles was sie tun musste, war sich mit dem Prinz zu treffen, schnell eine Nachricht auf den Fächer zu schreiben, ihm zu zeigen, und den Fächer danach zu entsorgen. Das Entsorgen würde Gwen leicht fallen - fast jedes Zimmer in der Burg hatte Fackeln, Öllampen oder einen Kamin...

Natürlich würde ihr Plan nur klappen, wenn sie in die Nähe von Prinz Gavin kam.

Es kam ihr so vor, als ob er immer wusste wo sie war und sie absichtlich mied. Sobald eine Magd erwähnte, ihn in der Küche, dem Innenhof, oder dem Hauptgarten gesehen zu haben, rannte Gwen sofort dorthin, voller Hoffnungen ihn zu sehen – nur um herauszufinden, dass sie wieder einmal zu spät gekommen war. Und es kam ihr immer so vor als würde sie ihn nur um einige Momente verpassen.

Gwen versuchte auch unauffällig den Gerüchten die in der Küche umgingen zu lauschen, denn sie hoffte auf mehr Informationen die Freundin des Prinzen betreffend, wie zum Beispiel ihren Namen. Allerdings ging es in den meisten Gerüchten nicht um Gavins Freundin sondern den Prinzen selbst: diesen wunderschönen Jüngling, der nach Calderia gekommen war und unzählige Frauenherzen schneller schlagen ließ

. Gwen hatte die Beschreibung von Prinz Gavins berüchtigtem Grinsen öfter gehört als sie zählen konnte, obwohl sie ihn noch nicht einmal annähernd hatte lächeln sehen.

Viele der Gerüchte erzählten auch von seiner Höflichkeit, seinem guten Gedächtnis für die Namen der Diener und seiner freundlichen Art, bis hin zu seinem göttlichen Aussehen, wie perfekt seine Schultern und seine muskulöse Brust proportioniert waren und was für ein fantastischer Reiter er war. Angeblich kümmerte er sich sogar selbst um die Pferde und lehnte jede Form von Hilfe ab, egal wie groß oder klein die Verantwortung der Aufgabe war. Im allgemeinen schwärmte das gesamte Hofpersonal davon, dass er in jeder Hinsicht perfekt war, bis auf seine zukünftige Heirat mit diser ‘ungezogenen, verwöhnten Göre von Prinzessin, Gwenwyn‘.

Nun, bis auf das und auf seine Jagdkünste. Angeblich war Gavin ein miserabler Jäger. Die Diener erzählten sich, dass der Prinz bei dem Jagdausflug, den Anifail am Tag zuvor vorbereitet hat, einen Bock erblickt hätte, der in der Nähe der Jagdgruppe graste. Bevor Bryn auch nur den Hauch einer Chance hatte seinen Bogen zu spannen, hatte der Prinz seinen Pfeil bereits abgeschossen. Der Pfeil hatte den Bock komplett verfehlt, ihn jedoch aufgeschreckt in die Sicherheit des Waldes verjagt.

Obwohl noch zwei Rehe, mehrere Hasen, eine Gans und sogar eine Schwan gesichtet worden waren, schien sich Gavins Fähigkeit, mit Pfeil und Bogen umzugehen, nicht zu bessern. Als die Jagdgruppe niedergeschlagen nach Hause kam, hatte Gwens Vater angeblich angefangen leise vor sich hin zu fluchen sobald der Prinz außer Hörweite war. 

Bis auf die Geschichten über Prinz Gavin gab es keine Gerüchte. Kein Geschwätz über die heimliche Geliebte, oder andere Informationen die Gwen als hilfreich einschätzte. Es kam Gwen so vor, als ob jeder, der nicht über den Prinzen redete, über sie - die verwöhnte Göre die das Privileg hatte, den Prinzen zu heiraten - redete. Gwens Nachforschungen hatten zu nichts geführt außer Gwen in eine leichte Depression verfallen zu lassen.

Gwen sah sich in ihrem Gemach um. Sie hatte es satt, immer auf der gleichen Stelle zu hocken, ohne etwas zu Stande zu bringen.

Vielleicht würde ein Ortswechsel ihr ja ganz gut tun? 

Auf einmal hatte sie eine Idee.

Anifail hatte befohlen, das Gwen nicht durch das Schloss oder die Gärten laufen durfte, ohne eins der drei Kleider zu tragen, die für sie ausgewählt worden waren. Gwen glaubte, dass das einen guten Ruf aufbauen sollte, falls sie durch Zufall König Alwyn oder dem Prinzen begegnete. 

Aber Anifail hatte nicht erwähnt, was sie in den Pferdeställen tragen musste.

Natürlich konnte sie in einem Kleid nicht reiten, aber keiner hatte gesagt, dass sie das Kleid, nachdem sie aus dem Schloss heraus und in den Ställen war, nicht wechseln konnte, oder?

Sie stopfte die Reitkleidung und andere Kleidungsstücke in einen kleinen Wäschesack. Gwen verließ ihr Schlafzimmer und bahnte sich ihren Weg zum Dienstboteneingang. Sie nickte kaum merklich den Wachen zu, als sie die Burg verließ und versuchte so auszusehen, als sei sie auf dem Weg etwas wichtiges zu erledigen, und als gäbe es rein gar nichts ungewöhnliches daran, das sie einen Wäschesack trug.

Entweder funktionierte es, oder die Wachen interessierte es überhaupt erst gar nicht was sie tat. Keiner von ihnen machte sich die Mühe ihr Kopfnicken zu erwidern.

Sie behielt ein unbeschwertes, gemächliches Tempo bei, während sie zu den Ställen schlenderte und verbrachte einige Zeit damit, zu überlegen, wie die Dinge standen.

Ihr größtes Problem – das größte Hindernis für jeden Plan der ihr in den Sinn kam – war Rhosyns Situation. Je mehr sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es ihr, dass Rhosyn schon die ganze Zeit Teil der Pläne ihres Vaters gewesen war. Es machte verdammt viel Sinn, wirklich... ihr zu erlauben, eine starke Freundschaft mit einem anderen Mädchen einzugehen das fast so allein war wie sie, und sie ihr dann zu entreißen und sie als Druckmittel zu benutzen. Rhosyn war die einzige Person an der Gwen wirklich etwas lag, die einzige Person auf der Welt, die sie freundlich behandelte und ihr ein klein wenig das Gefühl gab, normal zu sein. Welchen besseren Weg könnten ihr Vater und Anifail haben, sie zu kontrollieren? Ohne Rhosyn war sie verzweifelt, einsam und...

Gwen schüttelte wütend den Kopf und verbannte diese traurigen Gedanken. Sie ermahnte sich, sich auf das Problem zu konzentrieren. Sie hatte genug Zeit damit verbracht sich selbst zu bemitleiden, und das war nicht das, wonach die Situation verlangte. Stattdessen sollte sie vielleicht einige der Ideen, die sie vor kurzem verworfen hatte, noch einmal überdenken. Vielleicht sah sie etwas, das sie übersehen hatte.

Sie hatte Anifail bereits damit gedroht ihn zu quälen, aber er hatte klargestellt, dass Rhosyn dafür büßen würde, also stand das außer Frage. Etwas ähnliches mit Ihrem Vater zu versuchen würde wahrscheinlich auch nicht funktionieren, da Anifail erwähnt hatte, das Bryn nicht einmal wusste wo Rhosyn gefangengehalten wurde. Also war diese Herangehensweise nutzlos.

Sie hatte ernsthaft darüber nachgedacht beide zu vergiften, aber es gab zahlreiche Probleme bei diesem Plan, nicht zuletzt die Tatsache, dass sie immer noch nicht wissen würde wo Rhosyn sich befand. Sicher, die beiden zu beseitigen bedeutete, dass sie nicht gezwungen war zu heiraten, aber Rhosyn würde verhungern. Und außerdem würde so etwas sie zum Mörder machen, und ihren Kristall dunkel verfärben. Nein, dieser Plan war nichts.

Gwen hatte kurz überlegt, mehr über die Meistersphären und wie sie funktionierten herauszufinden. Da diese Objekte Zwänge enthielten, die Menschen dazu zwangen etwas zu tun, könnte es vielleicht ja auch eine geben, die dafür sorgte, dass Menschen die Wahrheit sagten oder etwas taten, was ihnen gesagt wurde. Vielleicht konnte sie Rhosyn auf diese Weise befreien. Oder sie konnte einen Weg finden, sich aus dem Bann ihrer eigenen Meistersphäre zu befreien. Natürlich hatte sie nicht wirklich eine Ahnung davon, wo die Kugeln selbst herkamen, oder wer sie überhaupt herstellte oder verkaufte, also schien der Ansatz nicht sehr vielversprechend. Da dies der Tag vor der Hochzeit war, wäre wahrscheinlich sowieso nicht genug Zeit.

Früher als sie erwartet hatte kam Gwen an den Ställen an. Sie zog die Tasche mit einem Seufzer über ihre Schulter und machte sich dann auf den Weg zu Rhosyns Wohnräumen, damit sie ihre Reitkleidung anziehen konnte.

Nachdem sie sich umgezogen hatte, machte sich Gwen an die Arbeit.

Sie war sogar ziemlich stolz auf die Arbeit, die sie in letzter Zeit getan hatte – sich um die Pferde zu kümmern und die Ställe sauber und ordentlich zu halten, bis Rhosyn zurückkam. Es war eine Menge Arbeit, sogar ein bisschen mehr als sie ursprünglich gedachte hatte, aber sie hatte es geschafft. Sie hatte sogar ein paar Mal ausgemistet und das Stroh in den Ställen erneuert, etwas, das Rhosyn Gwen nicht beigebracht hatte. Gewiss, sie musste selbst herausfinden wie es ging, und sie machte vielleicht auch nicht alles ganz richtig, aber es war besser, als die Pferde sich selbst zu überlassen.

Rhosyn machte sich vermutlich wirklich Sorgen um die Pferde, begriff sie. Gefangen in einem dunklen Raum, ganz alleine, konnte sie vermutlich nicht viel anderes tun als herumzusitzen und sich Sorgen zu machen... nicht nur wegen ihrer eigenen Situation, sondern auch um die Dutzende von Tieren in ihrer Obhut. Das machte Gwen wütend – als ob von Anifail gefangen gehalten zu werden, nicht schon schlimm genug wäre!

Vielleicht könnte sie Anifail überreden, ihr eine Nachricht zu überbringen, und ihr möglicherweise ausrichten, dass Gwen sich um die Pferde kümmerte, während sie eingesperrt war?

Nein, auf keinen Fall. Sie würde ihn um rein gar nichts bitten. Er war ein gemeines Scheusal von einem Mann, und er würde mehr als wahrscheinlich die Geste in etwas anderes verdrehen, um ihr Leben nur noch mehr zur Folter zu machen. Entweder das, oder er wäre misstrauisch wegen ihrer Absichten und würde denken, dass sie etwas ausheckte. Am besten war es sich vollkommen von ihm fernzuhalten.

Gwen zog sich ein paar schwere, lederne Arbeitshandschuhe über, nahm ein paar Bürsten und einen Eimer, und verbrachte einige Zeit damit, die Pferde zu tränken und abzubürsten. Sie nahm sich bei jedem die Zeit nach Verletzungen zu suchen und stellte sicher, dass sie ihre Arbeit gründlich erledigte. Die Schramme an Dolivars Vorderbein heilte gut ab, stellte sie fest. Trotzdem war sie immer noch besonders vorsichtig als sie sein Bein anhob um es zu untersuchen. Nachdem sie den Verband entfernt hatte, reinigte Gwen das Vorderbein, nahm etwas Salbe mit einem Tuch auf, verteilte sie sanft auf dem wunden Bereich und umwickelte das Bein mit mehr Tüchern, als sie fertig war. Es war schwierig den Verband mit den dicken Lederhandschuhen, die sie gezwungen war zu tragen, vernünftig zu verknoten, aber sie schaffte es.

Gwen gab Dolivar einen Apfel und ein paar herzhafte Streicheleinheiten als sie fertig war. Sich einen Moment selbst vergessend, versuchte sie 'guter Junge' zu murmeln. Sie seufzte als keine Worte heraus kamen, insgeheim verärgert über die Tatsache, dass sie ihre magisch aufgezwungene Stummheit immer wieder vergaß.

Zeit für einen Ausritt, dachte sie. Das sorgte immer dafür, dass sie sich besser fühlte.

Sie beschloss Tambi zu satteln, eine gefleckte Stute, die Gwen immer besonders gefallen hatte und die vermutlich ewig nicht geritten worden war. Tambi benahm sich seit kurzem ein wenig angespannt, also war ein schneller Ritt vielleicht genau das was sie brauchte.

Sobald sie ihr Zaumzeug und Sattel angelegt hatte, schwang sich Gwen auf den Rücken der Stute und lenkte aus dem Stallhof, hinüber zu dem Feldweg, vorbei an den Toren und den Pfad herunter, den Gwen normalerweise immer nahm. Dort angekommen, schien Tambi genau zu wissen wo es hingehen sollte und beschleunigte ihr Tempo aufgeregt. Gwen entspannte sich, passte sich dem Rhythmus des Pferdes an und genoss die frische Luft.

Sie galoppierten eine Weile heftig, aber schon bald entspannte sich die Stute in einen einfachen Galopp und Gwen begann den Ritt in vollen Zügen zu genießen. Dies war schon immer eine ihrer Lieblingsmethoden gewesen, um sich zu entspannen und nachzudenken.

Wie hart das auch sein mochte, Gwenn erkannte, dass sie aufhören musste über Möglichkeiten nachzudenken Rhosyn zu finden, und damit anfangen musste, zu versuchen andere Wege aus diesem Schlamassel zu finden. Wenn sie die Hochzeit verhindern konnte, auf eine Art und Weise die es erscheinen ließ als hätte sie selbst damit nichts zu tun, bestand eine gute Chance, dass Rhosyn sowieso freigelassen würde.

Es schien fast so, als könnte König Alwyn ein Verbündeter sein. Sie hatte ihn vom ersten Augenblick an gemocht, wenn auch nur, weil es so schien, als wäre er überhaupt nicht wie ihr eigener Vater. Natürlich gab es da das Problem, dass der König wollte dass sein Sohn heiratete, und dass er ziemlich verlegen darüber erschien, als er gezwungen war, die Tatsache zu offenbaren, dass Prinz Gavin heimlich jemand anderen umworben hatte. Das letzte was er vermutlich tun würde, war seinen Sohn zu ermutigen, die Hochzeit abzusagen und nach Hause zurückzukehren.

Aber wie sollte sie sich die Tatsache zu Nutze machen, dass der Prinz bereits eine Geliebte hatte? Sie konnte nicht mit Gavin reden, nach ihr fragen, oder auf irgend eine Weise vorschlagen, dass er seinen Herzen folgen sollte. Sie konnte ihm nicht einmal einen Brief schreiben. Wenn sie das tat würde sie in einen Haufen Schwierigkeiten geraten, falls der Brief abgefangen werden sollte. Was sie wirklich brauchte war etwas, das die richtige Botschaft aussandte, ohne zu offensichtlich dabei zu sein. Etwas, das ihn an seine Geliebte daheim erinnerte.

Etwas wie ein Geschenk.

Er war immerhin ihr Verlobter... Niemand würde Einwände erheben, wenn sie ihm ein Geschenk schicken würde, oder? Ihr Vater wäre vielleicht sogar überglücklich darüber, in der Annahme, dass sie sich in ihr Schicksal ergeben hatte und aktiv versuchte, seine Pläne zu unterstützen. Sie musste nur sicherstellen, dass ihr Geschenk etwas war, das harmlos erschien, den Prinzen aber gleichzeitig veranlasste sich an seine Geliebte zu erinnern. Etwas wie...

Ein Buch! Ein Märchen oder eine Liebesgeschichte! Oh, sie wusste sogar die perfekte. Es war einer ihrer Lieblingsgeschichten, eine Geschichte über einen Bauernjungen, der sich in eine reiche Kaufmannstochter verliebte und drei goldene Federn aus dem Nest von Roch holen musste, um seinen Wert zu beweisen. In der Geschichte gab der junge Bauernsohn nie auf, hörte nie auf zu glauben, dass er eines Tages die Hand der Frau gewinnen würde, die er liebte.

Das Buch selbst war ebenfalls wunderschön – ein Einband aus geprägtem Leder, mit Blattgold verziert, und innen drin atemberaubende Aquarellbilder. Genau die Art von teuer aussehendem Geschenk, das man erwartete, wenn sich Mitglieder eines Königshauses gegenseitig beschenkten. Es war perfekt!

Freilich könnte es auch sein, dass Gavin von dem Geschenk ganz und gar ungerührt blieb. Am Ende würde er es womöglich so behandeln wie er sie bei ihrem ersten Treffen behandelt hatte: nur einen müden Blick darauf werfen und es dann vollständig ignorieren. Oder er könnte die Botschaft falsch verstehen und sich dadurch gewzungen fühlen, Gwen zu akzeptieren und das beste aus seiner Situation zu machen. Aber immerhin war dies etwas was sie tun konnte, und das sie vermutlich nicht in Schwierigkeiten bringen würde. Wenn auch nur die kleinste Aussicht auf Erfolg bestand war es besser als gar nichts!

Gwen zog ein wenig an den Zügeln, bis Tambi in ein gemächlicheres Schritttempo verfiel, und verbrachte einen Moment damit, darüber nach zu denken, was sie alles tun musste, um an das Buch zu kommen und es vorzeigbar zu machen. Sie überlegte, wo sie ein seidenes Tuch und ein Schleifenband herbekommen konnte um es als Geschenk zu verpacken, wie sie es aus der Bibliothek bekommen würde und solche Dinge. Nachdem sie in ihren Gedanken alles einigermaßen sortiert hatte, schaute sie sich um, um festzustellen wo sie war.

Der Weg war breiter geworden, bis er in eine kleine Wiese überging, die sie erkannte. Es war die gleiche Wiese, auf der Rhosyn ihre Verabredung mit Darin gehabt hatte, nach all dem an was sie sich von ihren früheren Gesprächen noch erinnerte. Es war der perfekte Ort für ein Stelldichein – eine üppige Hügellandschaft, umgeben von einer Fläche majestätischer blattgrüner Bäume. Im Herbst war es ein atemberaubender Anblick, aber auch im Sommer war er nicht zu verachten.

Tambi scharrte am Boden, und Gwen bemerkte, dass sie stehen geblieben waren. Nun, das war wohl auch gut so. Sie war etwa einen halbstündigen Ritt von den Ställen entfernt, was bedeutete, dass sie eine halbe Stunde zurück brauchen würde und eventuell noch eine halbe Stunde fürs Abbürsten der Stute.

Gwen schnalzte mit der Zunge, zog am rechten Zügel und drehte das Pferd langsam herum, damit sie nach Hause reiten konnten. Es war noch früh am Nachmittag, also gab es noch genug Zeit um das Buch zu holen. Es aus der Bibliothek zu holen war vermutlich einfach, wenn man bedachte wie beschäftigt alle anderen mit den Hochzeitsvorbereitungen waren.

Aber wie würde sie es schaffen das Buch Gavin zu übergeben, wenn sie es erst einmal hatte? Sie würde das keinem Dienstboten überlassen, selbst wenn sie hätte reden können. Vielleicht konnte sie sich den rhegarianischen Soldaten und Dienern nähern, auf das Geschenk deuten, lächeln, und ihre Wünsche auf diese Art zum Ausdruck bringen? Aber Gardisten wüssten wahrscheinlich gar nicht was sie mit einer stummen Prinzessin, die einfach nur dastand und etwas trug das wie ein Geschenk aussah, anstellen sollten und würden vermutlich den König holen, oder...

Plötzlich bäumte sich Tambi mit einem panischen Wiehern auf. Bevor Gwen reagieren konnte, flog sie rückwärts aus dem Sattel und durch die Luft. Die Zügel wurden ihr aus der Hand gerissen.

Trotz des Schocks war Gwen geistesgegenwärtig genug um ihre Ellbogen nach hinten zu bewegen, während sie fiel. Der Ruck des plötzlichen Aufpralls durchzuckte sie wie ein Blitz und die Luft wurde ihr aus der Lunge gepresst, als ein stechender Schmerz durch ihre Hüfte, Ellbogen und Schulter schoss.

Für ein paar Sekunden lag sie benommen auf dem Boden und versuchte sich zu erinnern wie man atmete. Der Klang von schnell galoppierenden Pferdehufen verschwand in der Ferne.

Gwen stützte sich leicht ab und hustete, was jedoch kaum zu hören war. Merkwürdig....sie hatte nicht bemerkt, dass man seine Stimme brauchte um richtig zu husten. Aber es machte vermutlich Sinn.

Stöhnend stand sie langsam auf und begann sich mürrisch nach Verletzungen abzutasten.

Es war ewig her, dass sie von einem Pferd geworfen worden war, und sie erinnerte sich jetzt wieder, warum sie es seitdem vermieden hatte. Selbst mit dem vergleichsweise weichen Boden der Wiese war ein Sturz aus dieser Höhe nicht gerade spaßig. Ihr Ellbogen schmerzte, wahrscheinlich hatte er eine Schramme oder so etwas abbekommen, und ihre Schulter fühlte sich an, als wäre sie beinahe ausgerenkt worden. Und ihr Allerwertester... nun, der würde vermutlich morgen einen großen großen blauen Fleck aufweisen.

Gwen schaute die Wiese hinunter, in die Richtung in der Tambi verschwunden war. Obwohl die Stute in letzter Zeit etwas nervös gewirkt hatte, war es nicht wirklich ihre Art, so etwas zu tun. Sie war die meiste Zeit über ziemlich ruhig und fügsam.

Sie seufzte, während sie sich ein wenig abbürstete und überlegte, was sie nun tun sollte. Tambi war kein selbstständiger Denker, also würde sie wahrscheinlich nicht weit laufen. Das, oder sie würde den ganzen Weg zurück zu den Ställen laufen, um bei den anderen Pferden zu sein, was bedeutete, dass Gwen einen langen, langen Weg vor sich hatte, von dem sie hoffte -

Aus dem Augenwinkel sah Gwen eine Bewegung.

Schwarze Schatten und graue Flecken von Gestein schienen sich vor ihren Augen zu bewegen und schlängelten sich zwischen den Stämmen von zwei Ulmen am Rand der Baumgrenze hindurch.

Riesige, alptraumhafte, bernsteinfarbene Augen betrachteten sie aus etwa 30 Metern Entfernung, und ein Paar Speichel triefender schwarzer Lippen zogen sich zurück, um zwei Reihen scharfer und bösartig wirkender Zähne zu entblößen.

Mit schrecklicher Gewissheit wusste sie genau, was die Stute erschreckt hatte.

Ein Schattenwolf.

Er war mindestens vier Fuß hoch, und er wog wahrscheinlich doppelt so viel wie sie. Vielleicht sogar mehr.

Er starrte sie aufmerksam an. Das grau-schwarze Monster stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus und Gwen fühlte sich plötzlich als hätte sich die ganze Welt verlangsamt...

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top