Kapitel 10

Die Nacht ohne chi'darro zu überstehen war die Hölle, schlimmer als alles was Gwen je erlebt hatte.

Gwen merkte, dass sie zitterte, obwohl es in ihrem Zimmer gar nicht kalt war. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Teller Kalbsfilet zurück der ihr ein paar Stunden nachdem sie ihren Vater im Esszimmer allein gelassen hatte gebracht worden war. Sie hatte den Teller gleich in ihr Zimmer gebracht, den Inhalt in ein altes Schmuckkästchen in ihrem Schrank gestopft und den Teller auf den Steinstufen vor ihrem Zimmer abgestellt.

Während der nun folgenden Stunde schien es als ob sie an nichts anderes außer an das kalte Kalbfleisch denken konnte, das in dem Schmuckkästchen in ihrem Schrank verstaut war. Egal wie sehr sie versuchte sich abzulenken, sie erwischte sich immer dabei wie ihre Gedanken zu dem mit Kräuter bedeckten Essen wanderten, das weniger als vier Schritte von ihrem Bett entfernt auf sie wartete.

Schließlich hielt sie es nicht mehr länger aus, ging zu ihrem Schrank, holte das Schmuckkästchen heraus... und schleuderte es aus dem Fenster.

Obwohl der Fall des Kästchens von einigen Büschen gebremst wurde, schlug das hölzerne Kästchen immer noch hart genug auf, dass es in Stücke zersprang. Gwen kniff die Augen zusammen und meinte ein Stück Kalbfleisch ausmachen zu können.

Nachdem sie es losgeworden war, starrte sie noch fast zehn Minuten hinunter auf das kleine, aufgebrochene Kästchen bevor ihr klar wurde, was sie da tat.

Und so ging Gwen wieder zu ihrem Bett, atmete tief ein... und fing an über die winzigen blau-grünen Flecken der Kräutersoße nachzudenken, die noch auf dem Teller klebten der vor ihrer Tür stand.

Es verlangte ihr all ihre Willenskraft ab sich selbst davon abzuhalten einfach die Tür aufzumachen und nachzusehen, ob der Teller noch da war. Ab und zu versuchte sie sich einzureden, dass sie bloß kurz hinausschauen würde um sicher zu gehen, dass er vom Personal weggeräumt worden war.

Tief in ihrem inneren kannte sie jedoch den wahren Grund, warum sie in Versuchung war die Tür aufzumachen… diese kleinen Reste der Kräutersoße, die auf sie warteten.

Und so zwang sie sich dazu auf ihrem Bett liegen zu bleiben, die Decke anzustarren, mit all ihrer Macht an etwas -irgendetwas- anderes zu denken, bloß nicht daran, wie sehr sie die Tür öffnen, sich den Teller schnappen und ihn ablecken wollte.

Als sie schließlich einen der Diener die Treppe heraufkommen und leise das Tablett wegräumen hörte, brach sie in Tränen aus… aber nur aus Erleichterung.

Obwohl sie erschöpft war, schien es als könnte sie nicht mehr als fünf Minuten am Stück schlafen, denn jedes Mal wenn sie wegdöste hatte sie solch intensive, ekelerregende Alpträume, dass sie mit rasendem Herzen hochschreckte. Groteske, missgebildete Monster erschienen in diesen Träumen aus den dunkelsten Winkeln ihres Geistes und jagten sie vor sich her, während sie lachend ihren Namen riefen.

Manche verwandelten sich in wolfsähnliche Kreaturen die sie irgendwie an Anifall erinnerten, knurrende mit borstigem Fell bedeckte Missgeburten. Andere brachen plötzlich in sich zusammen und ihre Haut begann zu rauchen und schreckliche Blasen zu werfen, während sie vor Schmerz brüllten.

Ab und zu verwandelten sie sich in Leute, die Gwen aus Versehen während ihrer Kindheit verletzt hatte. Und manchmal wurden sie zu winselnden Welpen, die sie mit verzweifelten und bittenden Augen ansahen, während sie brannten und Rauch von ihnen aufstieg.

Das war Gwens erste Nacht ganz ohne chi’darro, und es war die Hölle gewesen.

Der folgende Morgen war noch schlimmer.

Gwen hatte dunkle Ringe unter den Augen als sie aus dem Bett stieg. Sie fühlte sich so schwach und schwindelig, dass sie anfing sich zu wundern ob sie sich am Vortag eine Erkältung eingefangen hatte. Ihr Hals war leicht geschwollen und sie bemerkte, dass sie einen seltsamen Ausschlag entwickelt hatte, oben an ihren Armen, in der Nähe der Schultern.

Es kostete Gwen fast eine Stunde sich anzuziehen. Zuerst dachte sie, dass irgendetwas mit ihren Kleidern nicht stimmte, denn immer, wenn sie etwas anprobiere, schien es ihr am ganzen Körper wehzutun. Sogar ihre fein gewebte Seidenbluse kratzte auf ihrer nackten Haut wie Sackleinen.

Zaghaft und vorsichtig ging sie die Treppe des Turms hinunter. Ihre Beine zitterten fast so schlimm wie die eines erkälteten Neugeborenen. Als sie die Treppe sicher hinter sich gebracht hatte, machte sich Gwen auf den Weg zur Küche und teilte dem Koch mit wackeliger Stimme mit, dass sie ihr Frühstück gern in ihr Zimmer hochgeschickt haben würde, weil sie sich krank fühlte.

Der Ausdruck auf dem Gesicht des Kochs als er sie ansah machte ihr klar, dass er ihr das mit der Krankheit aufs Wort glaubte. Er scheuchte sie förmlich aus der Küche hinaus mit einem halben Laib Roggenbrot und einer Tasse warmer Sahne und Honig, die, wie er ihr versicherte, ihren Magen beruhigen und sehr gut für sie sein würden.

Dankbar dafür, dass der Koch darauf verzichtet hatte die Sachen mit Kräutern zu würzen, nahm sie das ihr angebotene Essen an, bedankte sich und machte sich auf den unendlich langen Weg zurück in ihr Bettgemach.

Ihre Beine verkrampften sich mehrere Male als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hoch stieg und zwangen sie dadurch regelmäßig stehen zu bleiben. Schließlich erreichte sie außer Atem ihre Schlafzimmertür und kämpfte darum wach zu bleiben. Jeder einzelne Teil von ihr wollte sich hinlegen und ruhen.

Gwen stolperte in ihr Zimmer und verschüttete fast den Inhalt ihrer Tasse als sie versuchte das Gefäß und das Brot auf einen nah gelegenen Hocker zu legen. Dann fiel sie in ihr Bett - das Brot und die Tasse waren vergessen. Diesmal schlief sie, anders als am Vorabend, im dem Moment ein, in dem ihr Kopf das Kissen berührte.

Und dann begannen ihre Alpträume von Neuem, allerdings heftiger und beängstigender als zuvor.

Jede neue Traumlandschaft, die in ihrem Kopf erschien bot ihr neuen Schrecken aus den tiefsten Tiefen ihrer Seele.

Riesige Spinnen mit Kronen auf ihrer Stirn krabbelten aus der Dunkelheit einer Kerkerzelle auf sie zu während Speichel von ihren Beiszangen tropfte und ihre vielen Beine vor eifriger Vorfreude zitterten. Entsetzliche Wölfe mit hohlen, blutenden Augen stürzten sich knurrend und bellend und mit Schaum vor dem Mund aus einem Wäldchen neben dem Apfelgarten auf sie. Halb vergessenes Spielzeug und Puppen aus ihrer Kindheit zerfielen bei Gwens Berührung oder fingen an zu bluten und kreischten sie solle aufhören. Traurige Menschen beobachteten sie in den labyrinthähnlichen Gängen eines dunklen, düsteren Schlosses, während sie ihr Spiegel entgegen hielten, in die Gwen nie lang hinein schauen konnte. Ihre Spiegelbilder waren immer leichen- oder schlangenähnlich oder von irgendeiner anderen entsetzlichen Gestalt.

In einem der Spiegel sah sie aus wie ihr Vater.

Ihr unruhiger Schlaf war wie immer tief. Als die Bilder und Geräusche ihres Albtraums endlich ausreichten um sie aus dem Schlaf zu schrecken war erschien das fast wie eine Barmherzigkeit. Sie lag lange unkontrollierbar zitternd und schluchzend in ihrem Bett.

Nach einer Weile erhob Gwen sich langsam. Mit wunden und tauben Muskeln trottete sie zum Fenster und versuchte die Uhrzeit abzuschätzen. Der Sonne nach zu urteilen war es erst Vormittag.

Ein ganzer Tag vorüber, vier waren noch übrig.

Als Gwen die Schlafzimmertür öffnete, entdeckte sie, dass noch ein großes Tablett mit Frühstück vor die Tür gestellt worden war. Da waren pochierte Eier, eine dicke Scheibe Schinken und eine kleine Ecke Käse - alles übergossen mit einer blau-grünen Kräutersoße, die ihr bekannt vorkam.

Lange stand sie einfach nur so da und beobachtete das Tablett mit dem Essen. Aus irgendeinem Grund erfüllte schon der Gedanke so nahe an dem Kraut zu sein sie mit Angst und Schrecken, als ob sie nicht in der Lage sein würde zu wiederstehen wenn sie noch näher an das Tablett heran ging.

Es vergingen fast fünf Minuten bis sie den Mut aufbrachte sich zu bewegen - und dann versetzte sie dem Tablett abrupt einen Tritt und schickte es polternd das Treppenhaus hinunter. Fast augenblicklich begann sie ihre Entscheidung zu bereuen, da ihr Vater möglicherweise davon hören würde, dass sie nicht hungrig gewesen war, oder dass sie sich krank fühlte. Sie wollte ihn nicht sehen, nicht während sie diese Tortur durchstand.

Ihrem Essen einen Tritt zu verpassen würde aber vielleicht nur als kindischer Wutanfall angesehen werden, und dann war das kein Problem. Dennoch beschloss sie sicherzustellen, dass ihre nächste Mahlzeit ordnungsgemäß entsorgt wurde.

Sie schloss ihre Zimmertür und sah zu dem Essen hinüber das der Koch ihr vorhin mitgegeben hatte. In diesem Moment erkannte sie, dass sie einen Bärenhunger hatte. Sie verschlang den Honig und das Roggenbrot ohne einmal innehzuhalten, obwohl es viel fader schmeckte als das der Fall sein sollte, besonders in Anbetracht der Tatsache dass sie so hungrig war.

Trotzdem war sie schneller mit Essen fertig als sie es für möglich gehalten hätte und betete es würde ihren rebellierenden Magen beruhigen wie der Koch versprochen gesagt hatte.

Eine Stunde später hing sie aus ihrem Schlafzimmerfensterfenster. Würgende Geräusche entrangen sich ihrer Kehle während sie sich auf beiden Seiten am Fensterrahmen festhielt, um das Gleichgewicht zu wahren.

Sie hing dort gute 15 Minuten lang, abwechselnd speiend und nach Luft schnappend. Als die stärkste Übelkeit endlich vorüber war, stolperte Gwen zurück zu ihrem Bett, setzte sich und starrte ins Leere. Der Raum drehte sich ein wenig und dunkle Flecken erschienen von Zeit zu Zeit an den Rändern ihres Gesichtsfelds.

Sie hatte zwar keinen Hunger mehr, aber dafür fühlte sich ihr Magen an als wäre er mit Seilen zusammengeschnürt.

Ihre Kehle brannte und war ausgetrocknet.

Sie sah nach und stellte fest, dass ihr Wasserkrug fast leer war. Das war seltsam. Sie hatte ihn erst letzte Nacht neu aufgefüllt und konnte sich nicht erinnern, vor kurzem daraus getrunken zu haben.

Gwen nahm den Krug öffnete ihre Schlafzimmertür und wanderte langsam und vorsichtig wieder hinunter in die Küche. Irgendwie schaffte sie es für den Weg noch länger zu brauchen als am Morgen. Doch obwohl ihre Beine noch wackelig waren, gelang es ihr den nun vollen Krug, ein Brot und ein Stück Hartkäse die Treppe hinauf in ihr Zimmer zu schleppen.

Während selbst der Gedanke ans Essen für sie momentan noch widerwärtig war, erschien es ihr klug unvergiftete Vorräte für später zu sammeln.

Sobald sie das Essen in eine Decke gewickelt und im Schrank versteckt hatte, ging sie zurück zu ihrem Bett, setzte sich... und brach in Tränen aus.

Sie wusste nicht einmal, wieso genau sie weinte, aber sie konnte nicht aufhören. Es fühlte sich an als hätte sich ihre gesamte Welt plötzlich in einen leeren Raum verwandelt – und zwar in einen großen Raum der Trostlosigkeit und Verzweiflung.

Mehr Tränen strömten ihr Gesicht herab als je zuvor in ihrem Leben, und als sie endlich versiegten, bemerkte Gwen, dass ihre Kehle schon wieder staubtrocken war. Sie trank fast die Hälfte des Wasserkrugs aus, den sie nach oben mitgeschleppt hatte. Dann entschied sie sich auf ihr Bett zu legen und versuchte sich zu entspannen. Vielleicht, wenn sie nur an die Decke starrte und versuchte sich auf ihre Atmung zu konzentrieren und darauf, nur sie selbst zu sein, vielleicht würden die Albträume aufhören.

Sie nahm einen tiefen Atemzug und dann noch einen...

Und plötzlich war es spät abends. Ihr ganzes Zimmer war dunkel. Ratlos setzte sich Gwen in ihrem Bett auf, oder versuchte es zumindest. Ihre Arme fühlten sich wackelig und nicht in der Lage sie zu stützen an. Stöhnend rollte sie sich auf eine Seite des Betts und tat ihr Bestes, um die Krämpfe, die ihre Waden und Oberschenkel plagten sowie das schreckliche Jucken das sie überall an Schultern und Oberarme verspürte zu ignorieren.

Sie hatte nicht geschlafen, oder? Sie hatte auf jeden Fall nicht das Gefühl, dass sie geschlafen hatte, so viel war sicher. Ihre Augen fühlten sich trocken und kratzig an. Nach ein paar Versuchen gelang es ihr aufrecht stehen zu bleiben und sie zündete eine Lampe auf ihrer Kommode an. Langsam schlürfte sie zur Tür. Es fühlte sich an, als hätte sie dafür 100 Jahre gebraucht. Als sie die Tür öffnete sah sie eine Schüssel voll Eintopf und ein mit Butter beschmiertes Brötchen zum Abendessen auf der obersten Stufe liegend. Der Eintopf war schon vor langer Zeit kalt geworden und sah leicht fettig aus.

Der Geruch von chi'darro und Eintopf traf sie ohne Vorwarnung und brachte ihren Magen dazu unangenehm zu rumoren. Gwen konnte nicht sagen ob der Geruch sie hungrig oder krank machte, aber das war auch egal. Hastig bedeckte sie Mund und Nase mit der Hand und entfernte sich von der Tür.

Knapp eine Minute später befand sie sich erneut am Fenster, damit beschäftigt ihren Magen zu entleeren. Glücklicherweise war anscheinend nicht mehr viel da gewesen, das ihren Magen hätte verlassen können.

Als Gwen sich vom Fenster abwandte schmerzten ihre Muskeln sehr, vor allem, wenn sie versuchte gerade zu stehen. Vornübergebeugt ging sie zurück zur geöffneten Tür, während sie sich Mund und Nase wieder mit der Hand zuhielt.

Eine Weile später durchsuchte sie den Schrank nach einem Kleid oder einem anderen Kleidungsstück aus dem sie schon herausgewachsen war – eines, das nicht vermisst werden würde. Als sie etwas gefunden hatte, ging sie damit zur Tür, warf es über die Schüssel, band alles zu einem Bündel zusammen, wankte zur Fensterbank und warf das Kleid und den Eintopf gemeinsam in die Nachtluft.

Sie konnte nicht sehen, was mit der Eintopfschüssel passierte, aber sie hörte Porzellan splittern als sie auf den Stein der Burgmauer traf und abprallte. Wahrscheinlich war sie irgendwo zwischen Mauer und Graben gelandet. Nicht viele Leute gingen in den Bereich zwischen der Wand und dem Graben, also würde sie wahrscheinlich nicht bemerkt werden.

Eine fehlende Schüssel jedoch vielleicht schon!

Gwen fluchte leise vor sich hin. Warum hatte sie das eben getan? Sie hatte nicht gerade sehr schlau gehandelt. Bis vor einem Moment war es ihr vorgekommen, als gäbe es nichts wichtigeres auf der Welt als das Essen aus ihrem Zimmer zu bekommen. Sie war in Panik geraten. Warum machte der bloße Gedanke an die Lebensmittel sie so unruhig? Warum war sie plötzlich so ängstlich?

Nun, vielleicht sollte sie versuchen jetzt ein wenig zu entspannen. Ja, wenn man bedachte, wie spät es war, sollte sie vielleicht sogar versuchen etwas zu schlafen. Es fühlte sich wirklich so an, als ob sie es nötig hätte.

Obwohl sie wieder erschöpft war, verbrachte sie einen Großteil ihres Abends damit sich im Bett herumzuwälzen. Sie konnte keine bequeme Position finden, und das Jucken, das sie zunächst nur auf ihren Schultern verspürt hatte, war nun bis zum unteren Rücken und zu ihren Beinen vorgedrungen. Jedes Mal, wenn sie gerade glaubte einzunicken, überfiel sie plötzlich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können und sie setzte kerzengerade im Bett auf, verzweifelt nach Luft schnappend.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden wurde Gwen plötzlich von einem Gefühl der Angst und Furcht gepackt, das sie praktisch ersticken ließ und ihr die seltsamsten Gedanken durch den Kopf trieb.

Sie brauchte Honig. Oder Marmelade. Sofort. Sonst würden schlimme Dinge passieren.

Ohne sich darum zu scheren wie schwach ihre Glieder sich anfühlten, sprang Gwen aus dem Bett, öffnete ihre Tür und rannte die Treppe hinunter, zwei Stufen auf einmal nehmend. Ihr Herz hämmerte schnell und sie fühlte sich nur wenige Zentimeter vom Tod entfernt.

Als sie die Treppe schon halb hinunter war, fiel ihr auf, dass sie plötzlich den Grund vergessen hatte, aus dem sie ihr Schlafzimmer verlassen hatte. Das dringende Verlangen hatte sie eben so schnell verlassen wie es gekommen war.

Verwirrt und mehr als nur ein wenig ängstlich über das was mit ihr passierte stieg sie die Treppe wieder hinauf, quälend langsam, einen Fuß vor den anderen. Schließlich erreichte sie ihr Zimmer.

Ihr kurzer Sprint und die plötzliche Angst machten sie noch müder, als sie ohnehin schon gewesen war und sie schaffte es nicht einmal ganz bis zum Bett, sondern brach an der Tür in sich zusammen und stürtzte zu Boden Ihr Herz, das nur einen Moment zuvor noch gerast hatte, fühlte sich an, als würde es kaum noch schlagen.

Sie war eingeschlafen, ehe sie einen Muskel bewegen konnte.

Wenn dies überhaupt möglich war, so waren die Albträume dieses Mal sogar noch schlimmer. Diesmal erschien ihr alles größer, dunkler, schneller, alles drang plötzlich auf sie ein, erschreckte und verwirrte sie.

Stundenlang wurde sie lebendig gefressen, in Stücke geschnitten, zu Asche verbrannt und ertränkt. Augen starrten sie an, Lippen schoben sich zurück und präsentierten viel zu viele Reihen scharfer, glänzender Zähne. Ein Paar leuchtend gelber Vipern hatte irgendwie einen Weg in ihre Brust gefunden und versuchte verzweifelt sich in jede mögliche Richtung zu drehen und zu wenden um heraus zu kommen.

Ein lautes Klopfen an der Tür rüttelte Gwen wach und sie konnte ein junges Mädchen mit ängstlicher Stimme rufen hören. Sie bemerkte, dass es Morgen war. Sie bemerkte auch einen aus Schatten geformten Drachen vor ihrer Kommode und handtellergroße Spinnen an den Steinmauern ihres Schlafzimmers.

Ihre Albträume hatten sie sogar bis in die reale Welt verfolgt.

Das Klopfen an der Tür ertönte erneut, diesmal eindringlicher und Gwen konnte die Worte „Fühlt Ihr Euch gut?“, heraushören.

Gwen beschloss den Schatten-Drachen, der sie jetzt anzischte und dabei aus den Augen blutete, mit Verachtung zu strafen. Sie öffnete ihren Mund und versuchte die Worte „Mir geht’s gut, danke!“, zu formen.

Ein heiseres Keuchen war aber alles, was sie herausbekam. Sie hustete mehrmals, bevor sie es erneut versuchte, und dies mal war es ein halb gekrächztes „Gut“, das ihren Mund verließ. Ihre Stimme hörte sich mehr wie die eines Raben als wie die eines jungen Mädchens an.

Sie musste die Kontrolle behalten, erkannte sie. Das alles war nur ein Teil von dem, was mit ihr geschah – nur eine momentane Qual, die sie noch ein paar Tage länger ertragen musste.

Sie stützte sich mit den Händen auf dem kalten Boden auf und schaffte es so, von der horizontalen in eine kniende Position zu kommen. Schweiß rann ihr die Stirn herunter von der Anstrengung, doch Gwen machte weiter und zwang sich die albtraumhaften Gestalten die ihr Zimmer bevölkerten zu ignorieren, und sich stattdessen aufs Denken zu konzentrieren.

Es war früh am Morgen, dachte sie, also war das Mädchen an der Tür wahrscheinlich gekommen, um ihr ihr Frühstück zu bringen. Wenn dies der Fall war, musste sie es unbedingt loswerden.

Gwen kroch langsam zur Tür, biss die Zähne zusammen und streckte die Hand aus, wobei sie verzweifelt versuchte die Tatsache zu ignorieren dass der Türgriff eine Masse von sich windenden Schlangen war. Sie packte ihn, drehte ihr Handgelenk und zog langsam die Tür auf.

Eine Schüssel Brei stand vor ihr, Kakerlaken und anderes Ungeziefer krabbelten über ihn hinweg und machten dabei Geräusche bei denen sich Gwen der Magen umdrehte. Daneben stand ein Glas sprudelndes Blut auf im Flur, nur ein paar Meter von ihr entfernt.

Sie nahm sich zusammen und streckte die Hand aus, um die flache Schüssel in beide Hände zu nehmen, aber sie konnte ihre Hand nicht schließen, es fühlte sich an, als wären ihre Finger eingeschlafen. Noch immer auf Knien versuchte sie mehrmals die Schüssel anzuheben. Sie tat ihr Bestes nicht darüber frustriert zu sein, dass plötzlich selbst diese einfache Handlung für sie unmöglich zu sein schien. Schließlich entschied sie sich dafür, die Schüssel auf dem Boden in ihr Zimmer zu schieben. Sie schaffte es fast fünf Meter weit, bevor der Boden der Schüssel sich in einer Delle des rauen Steinbodens verfing und deren halber Inhalt sich auf die Steine ergoss.

Gwen war zu müde, um sich aufzuregen, sie konnte sich ja später mit dem Durcheinander auseinandersetzen. Im Moment plagten sie ihre albtraumhaften Visionen, jeder Versuch aufzuräumen wäre vollkommen sinnlos. Der Brei war nicht mehr draußen vor der Tür und sie hatte nichts davon gegessen, das war das wichtigste.

Mit quälender Langsamkeit kroch sie zu ihrem Bett und zog die Laken von der mit Baumwolle gefüllten Matratze herunter, sodass sie sich selbst in sie wickeln konnte. Sie brach auf dem Boden zusammen und begann sofort zu zittern. Sie bemerkte, dass ihre Schlafzimmertür noch offen war, aber plötzlich war sie zu müde, um sich darum zu kümmern.

Es machte keinen Unterschied ob ihre Augen geöffnet oder geschlossen waren, die albtraumhaften Visionen tänzelten immerzu um sie herum. Ihre Erschöpfung schien zumindest einen gewissen Schutz vor den Albträumen zu bieten: Es war schwer, sich über Schlangen, Wölfe und Drachen Sorgen zu machen, wenn man zu müde war, um richtig Angst vor ihnen zu haben.

Auf diese Weise vergingen Stunden in denen sie die schrecklichen und bösartigsten Dinge beobachtete musste, die ihr Vorstellungsvermögen zu bieten hatte. Nach einer Weile erkannte sie, dass sie einige der Erscheinungen auch hören konnte. Eine von ihnen machten ein Geräusch wie der Schrei eines Mädchens. Außerdem dachte sie, sie könnte eine schroffe und wütende Stimme Flüche ausspucken hören. Sie fing ein Wort auf, dass wie „Brei“ klang und ein anderes, das sich wie „Fiasko“ anhörte. Raue lederne Krallen packten ihre Haut durch die Decke und rollten sie auf den Rücken. Gwen versuchte zu schreien. Jetzt das sie auf dem Rücken lag öffnete sie halb die Augen und schaute sich benommen im Zimmer um.

Es war dunkel. Ein Murmeltier in der Größe eines großen Hundes stand zitternd an der Tür. Vor ihr stand ein bedrohlich aussehender schwarzer Löwe mit wilder Mähne, auf dessen Stirn eine eine altertümliche Krone ruhte.

Sie erkannte ihn als ihren Vater.

Gwen versuchte schnell zu lächeln und zu sagen, dass sie sich nur ein bisschen krank fühlte, aber ihre Stimme wollte einfach nicht kooperieren.

Mit sich weitenden Augen verwandelte sich der schwarze Löwe in einen knurrenden Bären, der dann nach unten griff und an einer Ecke ihrer wohlig warmen Decke zog. Sofort krabbelte eine Horde eisig kalter Spinnen über die Bodenfliesen und begannen in ihren Arm zu beißen, die eisige Kälte brachte sie vor Angst zum Schreien.

„Gott! Ihre Arme!“, hörte sie die Stimme ihres Vaters keuchen. „Du! Hol Hauptmann Anifail, sofort!“

Das Murmeltier verbeugte sich und eilte weg.

Fluchend und leise vor sich hin murmelnd wickelte der schwarze Bär den Rest der Decke um sie, hob sie mit seinen behandschuhten Pfoten hoch und legte sie grob auf ihrem Bett ab.

Er sah zum Brei auf dem Boden und dann wieder zurück zu ihr.

„Was im Namen der sieben Höllen hast du dir nur dabei gedacht?“, brüllte die Stimme ihres Vaters.

Gwen protestierte schwach und versuchte zu sagen, dass es ihr gut ging... aber sie wusste nicht ob wirklich Worte aus ihrem Mund kamen. Eigentlich wollte sie nur schlafen... Das war alles, was sie in dem Moment wollte. Schlaf und Ruhe.

Sie spürte einen harten Schlag ins Gesicht.

„Nein, das wirst du nicht!“, knurrte die Stimme ihres Vaters. „Anifail!“

„Eure Majestät?“

„Diese Göre hat nicht gegessen- Sie hat schon wieder diesen Ausschlag auf ihren Armen! Meine Unterlagen, Schreibtischschublade, unten links! Ein Lederbeutel mit einem roten Faden oben drum. Lauf!!“

Gwen versuchte den Kopf zu schütteln und es gelang ihr ein kleines Wimpern des Widerspruchs herauszubringen. Dann bemerkte sie, dass sie geschüttelt wurde und dass eine wütende Stimme sie anbrüllte wach zu bleiben. Ehe sie sich versah, zwangen zwei raue Hände Gwens Kiefer auf. Behandschuhte Finger packten ihre Mundwinkel und zogen sie zur Seite. Ein vertraut bitterer, kalkiger Geschmack überschwemmte ihre Sinne und plötzlich wurde ihr klar, was man ihr da einflößte.

Sie begann um sich zu schlagen und in Finger zu beißen während sie versuchte so viel chi'darro wie möglich auszuspucken. Sie hörte ein kurzes überraschtes Zischen und dann kurze Zeit später hörte sie das Geräusch eines Mannes, dem in die Finger gebissen worden war. Es klang sehr nach Anifail.

„Halt sie still! Wir müssen sie dazu bringen etwas davon zu essen!“, rief ihr Vater.

Kaltes Wasser wurde auf ihr Gesicht und ihre Lippen gegossen. Es geriet in ihren Mund, sie musste würgen und nach Atem ringen, und ohne es zu wollen schluckte sie einen Teil der Flüssigkeit. Innerhalb weniger Momente entstand ein warmes Gefühl in ihrem Magen, das sich bis zu ihren Schultern ausbreitete und sich dann langsam auf den Rest ihres Körpers verteilte.

Die albtraumhaften Visionen begannen zu verblassen.

Sie hatte versagt.

„In Ordnung. Das sollte genug sein“, murmelte ihr Vater. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf sie. Drohend ragte er über ihr auf während sie auf ihrem Bett lag, sein Gesicht war eine Maske des Zorns.

„Was im Namen aller Götter hast du dir dabei gedacht, Gwenwyn? Du hättest sterben können, du dummes Gör!“

Ein leises, schmerzerfülltes, durch zusammengebissene Zähne hervor gestoßenes Zischen konnte aus aus Richtung der Tür gehört werden.

Bryn sah zur Seite und runzelte die Stirn.

„Richtig. Hauptmann, gehen wir einen Blick auf die Hand werfen. Ich habe etwas in meiner Studierstube, das den Schmerz lindern und den Heilungsprozess beschleunigen sollte. Du! Wache! Niemand rein oder raus lassen, bis ich den Befehl gegeben habe. Verstanden?“

Ohne ihr auch nur einen Blick zuzuwerfen, trat der König von ihrem Bett fort und verließ das Zimmer.

Das warme Gefühl, das sie in ihrer Brust verspürte wurde immer stärker und euphorische Glückseligkeit schien in Gwen aufzusteigen. Ein Gefühl das Glück, Wärme und Sicherheit versprach.

Trotz dieses durchdringendes Gefühls von Wohlbefinden drehte sich Gwen auf ihre Seite und begann leise in ihr Kissen zu weinen..

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Hallo, da sind wir wieder mit unserer Übersetzung. Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, aber das letzte Kapitel an dem ich gearbeitet habe war so voller Fehler, dass ich es selbst noch einmal komplett neu übersetzen musste. Tut mir leid :( Ich hoffe, das nächste Kapitel geht schneller :)

LG
Robert

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