Kapitel 03

Gwen versicherte sich, dass ihre Arme wirklich ausreichend bedeckt waren bevor sie zum Abendessen ging.

Nach ihrem ausgiebigen Spaziergang mit Rhosyn hatte sie sich ihrer Reitkleidung entledigt und stattdessen ein langes Kleid angezogen. Das Kleid hatte einen hoch geschlossenen Kragen und lange Ärmel, die in kleinen Schlaufen endeten durch die man seinen Mittelfinger stecken konnte. Die Ärmel waren wirklich sehr lang. Ihre Hände verschwanden fast darin.

Dann, obwohl sie nicht wirklich zum Kleid passten, hatte sie ihre dünnen grauen Handschuhe übergestreift, nur um ganz sicher zu gehen.

Gwen hatte den König seit ihrer Begegnung im Turmzimmer nicht mehr gesehen und es gab keine Möglichkeit vorherzusagen was für Nichtigkeiten wärend des Abendessens seinen Zorn erregen könnten.  Vorsicht war besser als Nachsicht.

Sie glaubte jetzt gefasster zu sein als vorher. Entweder das, oder sie hatte heute schon zu viel geweint und es war keine einzige Träne mehr übrig. Da war der Vorfall mit der Dienstmagd, der Streit mit ihrem Vater und schließlich der Unfall mit Rosyn. Sie hatte in letzter Zeit viel geweint, so viel war sicher. Vielleicht war sie einfach dehydriert. 

Und ausgehungert erst! Ihr todbringender Fluch war schon eine komische Sache: An Tagen an denen sie ihren Vater kaum sah, erwischte sie sich selber dabei wie sie sehr zurückhaltend aß und manchmal versuchte die Mahlzeiten ganz auszulassen. Aber an Tagen an denen sie weinen musste und traurig war, fühlte sie sich als könnte sie ein ganzes geräuchertes Wildschwein allein verschlingen, mit Kastanienfüllung und allem Drum und Dran! Auch wenn es mit diesem furchtbaren Kraut bestreut war, das ihr Vater sie verspeisen ließ.

Das Kraut hatte noch einige weitere seltsame Eingenschaften. Normalerweise schmeckte es wie Kreide gemischt mit ranziger Butter, aber sie hatte herausgefunden, dass sie an wirklich schlimmen Tagen den Geschmack nicht wirklich bemerkte, oder er sie einfach nicht störte. An den wenigen schönen Tagen in ihrem Leben jedoch hasste sie das Zeug. 

Wie jetzt.

Gwen war in Gedanken versunken als sie ihre Handschuhe zurechtrückte. Sie wünschte sie könnte mehr über dieses seltsame blaue Kraut herausfinden. Was passierte mit einem wenn man es aß? Könnte man seine Auswirkungen rückgängigmachen? Wie hieß das Zeug überhaupt? Es fiel ihr schon nicht leicht heimlich zu recherchieren, aber nach etwas zu suchen, dessen Namen sie noch nicht einmal kannte? So gut wie unmöglich! 

Sie überprüfte sich kurz im Schlafzimmerspiegel, drehte sich zur Seite um sicher zu gehen, dass sie die Schnüre an ihrem Rücken auch ordentlich gebunden hatte, atmete einmal tief durch und trat dann die lange Wanderung zum Speisesaal an. 

Nachdem sie die vier Treppen hinunter geschritten und in den Hauptgang der Burg gelangt war, fiel Gwen etwas auf. Die meist unbekannten Diener denen sie begegnete, betrachteten sie argwöhnisch als sie vorbeiging. 

Auch wenn sie versuchte jedem ein Lächeln oder ein Nicken zu schenken, wie sie es immer tat, bemerkte sie, dass die meisten jeglichen Augenkontakt vermieden.... Und die, die dies nicht taten, schnell ihren Blick von ihr abwandten. Sie betrachteten sie vorsichtig, ängstlich.

Sie hatten Angst und Gwen wusste nicht warum.

Mit jeder Begegnung fühlte sie sich unwohler und bald kam es ihr so vor als wäre das Lächeln das ihre Lippen zierte nichts weiter als eine Maske die auf ihrem Gesicht lag. Sie rannte praktisch durch die nächsten zwei Korridore und wünschte sich nichts mehr als die zahlreichen angsterfüllten Blicke und getuschelten Gerüchte einfach hinter sich zu lassen.

Eine weitere unerfreuliche Überraschung erwartete sie im Speisesaal. An die Wand neben dem Kamin gelehnt, die Arme verschränkt, locker und entspannt, stand Anifail, Hauptmann der königlichen Garde. 

Er beäugte Gwen als sie eintrat, während sein welliges blondes Haar sein Gesicht teilweise überschattete. Er stand nicht stramm oder salutierte vor ihr, wie es andere Gardemitglieder getan hätten. Er tat dies nie, nicht einmal für ihren Vater. Immer wenn sie ihn ansah kam er ihr vor wie ein Wiesel, das um einen Hühnerstall schleicht.

"Hauptmann Anifail. Wie ich sehe seid Ihr zurückgekehrt! Habt Ihr einen schön anstrengenden Tag mit dem Bedrohen von braven Bürgern verbracht? Darf ich annehmen, das Ihr meinen Vater und mich heute Abend mit eurer Anwesenheit beehrt?" fragte sie gelassen, ihre Stimme praktisch triefend vor Arroganz und Gelassenheit. Gwen benutzte diese besondere Stimme sehr selten bei Schlossbewohnern, aber immer wenn sie mit Anifail eine Unterhaltung führte, war es die einzige Stimme die sie zustande brachte. 

Mit einem leichten Grinsen nickte er auf ihre Frage.

"Na dann, ich denke, dass mein Vater bald eintreffen wird. Vielleicht möchtet Ihr während wir warten Eure Positionierung ändern", sagte Gwen, mit einer Handbewegung in Richtung einer entfernten Ecke. "Vielleicht könntet Ihr ein wenig nach rechts gehen, zur anderen Seite des Kamins."

Anifail warf ihr einen verwirrten Blick zu. 

"Nun, wisst Ihr, Vaters Zielfähigkeit hat in letzter Zeit nachgelassen, und wenn er Knochen und Abfälle hinter sich wirft landen sie in letzter Zeit immer dort drüben." Gwen zeigte ein weiteres Mal auf die Ecke. "Wenn Ihr als der Schoßhund meines Vaters also euer Fresschen wollt solltet Ihr euch richtig hinstellen."

Es war faszinierend wie ausdrucksstark Anifails Augen sein konnten. Zuerst kam ein wutentbranntes Aufblitzen, gefolgt von einem Funken schwelender Wut vermischt mit lässiger Belustigung und Verachtung. Schließlich stahl sich auch ein Quäntchen Grausamkeit in diese Mixtur hinein. 

"Ach je, was soll ich nur tun? Die Prinzessin ist mir nicht länger zugetan, und macht sich mit grausamen Worten lustig über mich! Ach so grausame Worte, die schärfer sind als es ein Schwert je sein könnte. Ich werde heute Nacht kein Auge zu tun. Aber immerhin bin ich lieber ein Schoßhund für einen König", sagte Anifail gedehnt, während er seine Daumen in seinen Gürtel einhakte und Gwen mit einem schmallippigen Lächeln bedachte, "als ein Welpe für eine Prinzessin."

Er hatte offensichtlich mit ihrem Vater gesprochen. 

Gwen versuchte nicht auf diese Worte zu reagieren, und beließ es stattdessen bei Augenkontakt und ihrem Versuch königlich auszusehen. Sie löste ihre Zähne voneinander, nachdem sie bemerkte das sie sie zusammengebissen hatte. Anifail blieb in seiner ruhigen, gelassenen Pose und sah sehr selbstgefällig aus. Er warf ihr ein Lächeln zu auf das sie am liebsten Steine geworfen hätte.

"Anifail", rief Bryn als er durch die Tür trat. In der Hand hielt er einen Stapel Pergamente, den er eifrig durchblätterte. "Erinnerst du dich wie der Name dieses einen Kerls gelautet hat? Der, von dem wir wollten das er die Fallgatter repariert? Ich will das erledigt haben bevor... Nein warte, vergiss die Frage. Ich habs gefunden."

Er nahm ein Stück Pergament aus dem Stapel, faltete es und steckte es irgendwo in seine Robe, dann ging er zu seinem Stuhl und ließ den übriggebliebenen Stapel Pergament auf den Tisch rechts neben sich fallen. Mit einem 'Hmpf!' setzte er sich. 

"Soll ich nach ihm schicken lassen, Euer Hoheit?" fragte Anifail. Er blieb stehen wo er war, an die Wand gelehnt.

"Ja, und sag ihm er soll sein Werkzeug mitbringen. Ich will das repariert haben bevor unser Besucher hier eintrifft." Bryn bemerkte das erste Mal seine Tochter, die hinter ihrem eigenen Stuhl stand. "Tochter", sagte er und nickte ihr zu. 

Für einen Moment zog sie in Betracht den Vorfall an diesem Morgen nicht noch einmal anzusprechen, aber sie kam zu dem Schluss, dass es zu gefährlich war. Manchmal, wenn sie etwas getan hatte das ihn wütend machte, wartete er darauf, dass sie sich ein zweites Mal entschuldigte - und wenn sie es nicht tat, benutzte er das häufig als Vorwand um noch einen Wutanfall zu bekommen.

Natürlich wurde er auch manchmal wütend wenn sie ihn an ihren Fehltritt erinnerte, deshalb war es ein reines Glücksspiel.

“Majestät”, sagte sie und knickste leicht vor ihm, “Ich würde mich gerne dafür entschuldigen, dass ich Euch heute Morgen so in Rage versetzt habe. Ich habe über das was Ihr gesagt habt nachgedacht und meine Sommerkleidung Euren Wünschen angepasst.“

Er sah sie einen Moment in Verwirrung an, als ob er keine Ahnung hätte, wovon sie sprach. Dann sah er ihre langen Ärmel und schenkte ihr den Ansatz eines Lächelns.

“Oh, das. Nun, es ist kein bleibender Schaden entstanden, glaube ich... Das hat sich alles von alleine geregelt, nicht wahr? Vorerst musst du diese Ärmel tragen als vorübergehende Vorsichtsmaßnahme. Mit etwas Glück kannst du noch bevor der Herbst kommt einige richtige Sommerkleider tragen.“

Gwen stand einfach nur da, ein bisschen perplex. Kein Spott, keine Beleidigung oder irgendeine andere Art von Hohn... Nichts! Er hat nur ihre Entschuldigung akzeptiert, einfach so.

Was ging hier vor?

Sie untersuchte sein Gesicht. Sie brauchte einen Moment, um es heraus zu finden.

Er war glücklich.

“Das sind, ähm- gute Neuigkeiten, Majestät“, sagte Gwen während sie sich auf ihren Stuhl setzte.

“Allerdings. Nun, Anifail, ich habe mit dem Koch gesprochen und der gebratene Habicht wird in Kürze hier sein. Möchtest du bis dahin einige dieser Aufträge mit mir durchgehen? Alles organisieren?“ Bryn deutete auf den Huafen Pergament neben ihm.

“Natürlich“, sagte Anifail, stieß sich von der Wand ab und stolzierte zum Tischende des Königs, “Je früher wir anfangen, desto schneller sind wir fertig.“

“Hauptmann! Ich wusste gar nicht, dass Ihr so eifrig seid”, lachte Bryn.

Gwens Verwirrung steigerte sich.

Ihr Vater schien sich kein Bisschen mehr über das zu ärgern was an diesem Morgen geschehen war - höchst ungewöhnlich. Er sah entspannt aus und seine Mundwinkel hoben sich sogar von Zeit zu Zeit. Und zu allem Überfluss, hatte er eine Menge Arbeit zu erledigen - das erkannte man unschwer an der Höhe des Pergamentstapels - doch er schien sich nicht im Geringsten daran zu stören.

Wenn Anifail nicht den Welpen-Kommentar von sich gegeben hätte, dann hätte Gwen fast glauben können in einer magischen Welt gelandet zu sein, in der alles ins Gegenteil verkehrt war.

Sie saß einfach da und lauschte aufmerksam dem, was gesagt wurde. In der Hoffnung etwas darüber herauszufinden was da vor sich ging.

"So, das Fallgitter war das Letzte, was draußen noch erledigt werden musste, nicht wahr? Drinnen gibt es noch die Wimpel, die Kerzenhalter... Oh, und die Wandteppiche können endlich durch die im Lager ersetzt werden." Bryn kratzte sich am Kinn, den Blick auf das oberste Blatt geheftet. "War das alles?"

"Wir brauchen Edelholzfurnier über den Stützbalken, damit das Holzgebälk frischer aussieht", sagte Anifail, nahm eine Handvoll der Zettel und legte sie vor sich auf den Tisch.

"Ah ja! Danke Hauptmann", strahlte Bryn.

"Vater", sagte Gwen schließlich, unfähig ihre Neugierde zu unterdrücken, "Ihr seid an diesem Abend in Hochstimmung."

Sie schaffte es sich davon abzuhalten, die Wörter "Habt Ihr zu viel getrunken?" hinzuzufügen.

Der König sah sie über den Tisch an, die Fingerspitzen zusammengepresst und schwach lächelnd.

"Ja, ich  glaube das bin ich. Sogar in ausgeprochener Hochstimmung."

"Und gibt es dafür einen Grund?"

"Den gibt es allerdings. Und er ist so ungewöhnlich, dass er unbedingt erwähnt werden muss." Bryn lächelte sie fröhlich an. "Der Grund, werte Tochter, bist du."

"Ich?", Gwen wurde sofort misstrauisch.

"Siehst du? Ich habe doch gesagt, dass es ungewöhnlich ist! Ich meine, die meiste Zeit über bist du nur eine unglaublich langweilige, enttäuschende und schlecht erzogene Göre", lachte er.

Sie fühlte einen kleinen Anflug von Trauer. Jedoch war das, im Vergleich zu den ülichen Beleidigungen, gar nicht so schlimm.

"Nun Majestät, ich denke ich bin hocherfreut", sagte sie.

Bryns Augen leuchteten ein wenig auf. "Möchtest du wissen, warum du der Grund für meine gute Stimmung bist?"

Um ehrlich zu sein, gefiel ihr der Ausdruck in seinen Augen als er das sagte überhaupt nicht. Aber es schien keine gute Idee zu sein, seine Frage zu verneinen. Also nickte Gwen um ihn zum Weiterreden zu animieren.

"Nun, Tochter, es scheint so, als ob die Kunde von deiner Schönheit sich ans Ohr eines jungen Prinzes aus Bespir, nördlich unseres Königreichs, gelangt ist. Der Prinz hat einen Kurier geschickt um mir mitzuteilen, dass er ein Treffen wünscht. Es scheint als wolle er um deine Hand anhalten."

Jetzt verstand sie. Es war ein Scherz, eine Chance auf ihre Kosten lachen zu können. Kein Wunder, dass der König so gute Laune hatte - Gelegenheiten wie diese mussten selten sein. Gwen nahm mehrere langsame, tiefe Atemzüge bevor sie sprach.

"Tja, es freut mich, dass Ihr ein wenig Spaß auf meine Kosten habt", sagte sie, ihre Stimme bitter vor Sarkasmus, "Zweifellos wollt Ihr mir den Brief den ihr vorbereitet habt, um ihn über meinen 'Zustand' aufzuklären und ihn davon abzuhalten sich die Mühe zu machen, laut vorlesen. Ich habe heute zwar recht viel geweint, aber wer weiß? Vielleicht sind ja dennoch ein paar Tränen übrig."

Beide, Bryn und Anifail schienen einen Augenblick lang verwirrt über ihre Worte. Dann lachte der König ein dröhnendes Lachen, das von den Steinmauern widerhallte.

Anifail lachte nicht sondern saß einfach nur da und wartete geduldig darauf, dass Bryns Gelächter verebbte.

"Oh, Tochter", schaffte es Bryn etwa eine Minute später schnaufen, dann wischte er sich eine einsame Träne weg. "Oh, ich habe vergessen, wie unterhaltsam du manchmal sein kannst. 'Schick ihn weg', sagt sie. Oh, das war unbezahlbar! Ich wünschte, es gäbe noch ein paar Leute mehr, denen ich diesen Witz erzählen könnte." 

Verwirrt blickte Gwen ihren Vater an.

"Ihr werdet ihn nicht abweisen?"

"Gwenwyn, warum um alles in der Welt sollte ich das tun? Ganz besonders nachdem ich so viel Mühe und Geld ausgegeben habe, um Gerüchte über deine 'atemberaubende Schönheit' zu verbreiten?"

Gwen hatte bis gerade eben gedacht, sie hätte den Witz verstanden, jedoch kam es ihr plötzlich so vor, als ob die Pointe jenseits ihres Verständnisses lag.

"Warum würdet Ihr so etwas tun?", fragte sie, wirklich verwirrt.

"Nun, um die Aufmerksamkeit von schneidigen jungen Prinzen zu erregen, würde ich mal sagen." Seine Augen leuchteten vergnügt. Er amüsierte sich offensichtlich über Gwen's Verwirrung. "Und Tadaa - Es ist geschehen! Meine Tochter hat einen Verehrer." Bryn lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schnüffelte gekünstelt, als ob er zu Tränen gerührt wäre.

Anifail verdeckte seinen Mund mit der Rückseite seiner Faust, seine Schultern bebten ein wenig.

Gwen verstand es immer noch nicht. Oh, sie wusste, dass diese Umstände ein grausamer Scherz waren - so viel war klar. Sie sah einfach nur nicht, was so witzig daran war. Was übersah sie nur?

"Ihr wollt darauf warten, dass er hier her kommt, um es ihm zu erzählen? Oh, Ihr möchtet, dass ich seine Reaktion sehe, ist es das?"

Ihre Worte brachten Bryns Gelächter dazu, sich zu steigern. Er saß einfach nur da und schüttelte den Kopf, als ob er nicht glauben konnte was er da hörte.

"Oh, Tochter, wenn du so weitermachst, lache ich mich noch tot, ehrlich. Ich meine, warum um alles in der Welt sollte ich ihm überhaupt etwas von deinem Zustand sagen?"

Gwen starrte ihn an, perplex.

"Ich bin giftig, Vater! Er kann noch nicht einmal meinen Arm berühren! Warum würdet Ihr es ihm nicht sagen?"

"Oh, ich würde mal vermuten, dass er vorhat, mehr als nur deinen Arm zu berühren." Er lachte, verschränkte seine Finger und sah über sie hinweg Gwen an. "Er ist Berichten zufolge ein ziemlicher Draufgänger mit einem beachtlichen Ruf wenn es um junge Damen geht. Und du hast genug vom Aussehen deiner Mutter geerbt um ihn zu motivieren - Ich glaube sogar, dass es nicht schwer sein wird ihn davon zu überzeugen, dass es Zeit ist sich zur Ruhe zu setzen und dich zu heiraten."

Heiraten?

Gwen wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Sie saß einfach nur da, starrte ihn über den Tisch hinweg an und versuchte zu verstehen.

"Du verstehst es wirklich nicht, oder?", fragte Bryn schließlich und schüttelte seinen Kopf in gespielter Trauer. "Was denkst du, was ich all die Zeit geplant habe, hmm? Was denkst du, warum du denn, warum du hier bist? Dachtest du, ich habe mir die Mühe gemacht, die Besonderheiten eines tausend Jahre alten Märchens aufzuspüren, Stunden damit verbracht, über ein mysteriöses giftiges Kraut zu recherchieren, ein kleines Vermögen für das verdammte Zeug abgezweigt... und das alles nur um ein dummes Mädchen zu quälen? Bist du wirklich so dämlich?" Er lachte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Deine Berührung mag ja eindrucksvoll sein, meine Tochter, aber es ist deine Schönheit und dein Speichel die den von mir gewünschten Effekt erzielen werden."

"S-speichel?", stammelte Gwen.

"Genau. Ich werde deinen begrenzten Intellekt nicht überbelasten, indem ich versuche dir zu erklären was ein 'Neurotoxin' ist - lass dir einfach gesagt sein, dass du mit Gift voll gestopft bist. Du bist natürlich immun dagegen, aber für alle anderen bringt nur ein Tropfen deines Speichels Euphorie, Taubheit, Krämpfe und schließlich den Tod. Es braucht nur ganz wenig wenn es in den Mund gelangt oder auch die Lippen berührt." Er lächelte sie grausam an. "Wie zum Beisipel bei... einen Kuss?"

Gwen wurde plötzlich eiskalt.

Sie konnte spüren, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich und die Wörter ihres Vaters langsam einen schrecklichen Sinn ergaben.

"Ihr habt vor ihn zu töten?", fragte sie ungläubig.

“Wie kannst du es wagen, so etwas schreckliches zu behaupten, Tochter? Dies ist ein Gottgläubiger Haushalt und die heilige Lehre in diesem Fall ist sehr deutlich!“ Der König faltete die Hände  und betrachtete sie süffisant. "Ich habe das mit Pastor Rapaul ausführlich besprochen, kurz bevor er...  fortgerufen wurde. Nun, es ist keine Sünde sicherzustellen, dass die eigene Tochter sich mit einem anständigen jungen Mann verheiratet. Es ist auch keine Sünde, zu "vergessen", ihren eher unglücklichen Zustand vor ihrer Verlobung oder sogar danach zu erwähnen. Nein, Tochter, Ich töte niemanden."

Ein finsteres Lächeln umspielte seine Lippen.

Gwen wurde schlecht.

"Warum?", weinte sie, "Warum wollt Ihr so etwas tun? Einen Prinz eines anderen Königreiches töten? Habt Ihr vor, einen Krieg zu beginnen?!"

“Mein Gott, wie kurzlebig das Gedächtnis der Jugend von Heute doch ist! Ich habe es dir doch gerade eben gesagt, Tochter – ich werde niemanden umbringen! Meine Weste wird sauber bleiben. Ich werde weiterhin Eirene´s Segen erhalten, und so den Bewohnern meines Königreiches beweisen, dass ich keine Schuld in mir trage, ein reines Herz habe und weiterhin würdig bin König zu sein. Ob Eirene jedoch dich weiterhin segnen wird ist etwas anderes. Der Pfarrer wusste nicht genau was nach deiner fatalen Hochzeit geschehen würde. Er persönlich vermutet, dass sich dein Kristall verdunkeln wird und du aus Calderia verbannt wirst."

Er zuckte mit den Schultern.

"Oder aber du wirst zum Tode verurteilt  Die kirchlichen Gerichte sehen es nicht gerne wenn Königinnen ihre Ehemänner ermorden. Ich aber glaube, dass die Chancen gut stehen, dass Eirene dich weiterhin segnen wird. Immerhin ist es keine Sünde giftig zu sein, nicht wahr? Und dann könnte ich dich noch einmal an jemand anderen verheiraten! So oder so, es kommt ein gutes Eregebnis heraus."

"Aber warum tut Ihr das?", fragte Gwen anklagend. "Aus welchem Grund?"

"Ich tue es, weil Calderia ein unbedeutendes, jämmerlich kleines Königreich ist. Weil wir ein Land sind, das für nichts außer für Holz und Pelze bekannt ist. Weil der einzige Weg, diesen von der Göttin verlassen Ort jemals auf Vordermann zu bringen eine Heirats-Allianz mit einem benachbarten Königreich ist."

"Ein Bündnisvertrag?"

"Bündnisvertrag", spottete Bryn. "Es ist viel mehr als das. Eine Heiratsallianz verbindet zwei Königreiche mit Einverständnis beider Völker zu einer einzigen Nation durch eine gesegnete königliche Ehe - eine Prinzessin und ein Prinz werden zu König und Königin, junges Blut von beiden Ländern regieren gemeinsam das neue Land in einer Weise, die gewährleistet, dass beide ehemalige Länder gut vertreten sind. Wenn jedoch", er schenkte ihr ein öliges Lächeln, "wenn jedoch einem der Beiden etwas zustoßen sollte..."

Gwen konnte das Blut in ihren Ohren hämmern hören und ihr schwindelte. Jetzt begriff sie allmählich: Die Macht würde ihr zufallen. Ihr Vater würde dafür sorgen, dass sie die alleinige Herrscherin über zwei Reiche wurde.

"I- ich weiß doch gar nicht was man als Königin tun muss", protestierte Gwen.

Bryn lächelte sie geduldig an und sah sie über seine verschränkten Fingern an. Und plötzlich wusste sie mit schrecklicher Gewissheit was hier gespielt wurde.

Äonen vergingen, während sie dort saß und sprachlos auf den Tisch starrte.

Das war es, was er die ganze Zeit über geplant hatte. Sie sollte ein Werkzeug sein, der Dolch eines Mörders.... Ein tödlicher Strick aus Seide um den Hals des Mannes, mit dem ihr Vater sie vermählen würde.

Wenn Eirene sie hinterher weiterhin segnen würde, dann wäre sie ein Aushängeschild - eine Marionette deren Fäden ihr machthungriger Vater in Händen halten würde. Und wenn die Göttin das was sie getan hatte als Sünde ansehen würde - ihre Kristallkugel auf dem Tempel sich verdunkeln würde - dann wäre Gwen unwürdig zu regieren und ihr stünde die Verbannung bevor. Oder Schlimmeres.

Es war nicht sonderlich schwer zu erraten, wer an ihrer Stelle regieren würde.

Ihre Gesichtsmuskeln schmerzten bei dem Versuch, ein ausdrucksloses Gesicht zu wahren.

Irgendwann fingen Bryn und Hauptmann Anifail wieder an über die Angelegenheiten des Schlosses zu reden. Was immer sie sagten ging jedoch komplett an Gwen vorbei. Sie bemerkte kaum als das Essen endlich in den Speisesaal gebracht wurde und schaffte es noch nicht einmal sich bei dem Diener, der ihren Teller vor ihr abstellte zu bedanken - etwas was sie sonst eigentlich immer tat. Sie saß einfach nur da und starrte auf den Tisch, in dem Versuch, die Bruchstücke ihres Lebens in ihrem Kopf wieder zusammenzusetzen.

Schon in einem sehr jungen Alter hatte Gwen begriffen, dass sie für immer allein sein würde. Sie würde niemals die Zärtlichkeit eines Kusses kennen, niemals das Flattern von Schmetterlingen in ihrem Bauch verspüren, wenn ein gut aussehender junger Mann sich vorbeugte, um seine Lippen auf ihre zu pressen. Sie würde niemals eine Liebkosung ihren Arm hinaufwandern fühlen, die Wärme einer anderen Haut oder irgendeine der hundert anderen romantischen Möglichkeiten die Schriftsteller und Poeten so gerne beschrieben.

Nie würde sie die eine Sache, die die meisten Menschen für selbstverständlich hielten, kennen lernen. Jahrelang hatte sie es verstanden...

Sie war nur einfach nie in der Lage gewesen es zu akzeptieren.

Und nun hatte sie gelernt, was Grausamkeit war. Mit echter Grausamkeit nahm er das Einzige, was sie sich je gewünscht hatte, das Einzige, dass sie um alles in der Welt wollte, und beschmutzte es. Mit Grausamkeit riss man sie aus dem windgepeitschten Meer und rettete sie vor den sicheren Tod, nur, um sie ins Feuer zu werfen sodass sie lebendig verbrannt wurde.

Es kam ihr vor als ob jedes Märchen auf der Welt vor ihren Augen zerrissen und in Stücke gehackt  wurde. Es war wie ihr Vater, der ihr einen Welpen schenkte und lachte, als er starb.

Es war das Ende der Hoffnung.

Sie war schon immer traurig, einsam, verängstigt gewesen. Doch nie zuvor hatte sie sich so verlassen gefühlt.

So leer.

Gwen bemerkte, dass sie auf das kleine, unberührte Stück gebratenen Habichts starrte, das auf dem Teller vor ihr lag. Ihre Augen richteten sich auf das kleine, blasse Stück Fleisch, das mit kleinen grünlich-blauen Flecken übersät war - diese abscheulichen Kräuter, die für all ihre Schmerzen, für all ihr Elend verantwortlich waren. 

Durch den Nebel, der ihre Gedanken verhüllte, begriff Gwen, dass ihr schlecht wurde.

Ihr Stuhl quietschte leicht aus Protest, als sie ihn vom Tisch schob und aufstand. Die Bewegung zog die Aufmerksamkeit ihres Vaters und Anifails auf sie. Sie stellen ihre Unterhaltung ein und sahen sie an

"Ihr müsst mich entschuldigen", bat sie tonlos.

Bryn lächelte sie hämisch an, zuckte leicht mit den Schultern und entließ sie mit einer Handbewegung.

"Ja, geh. Ich will nicht, dass du mir noch meine gute Laune verdirbst. Ich muss sowieso noch einige wichtige Themen mit Hauptmann Anifail besprechen. Ich werde dir das Abendessen auf dein Zimmer bringen lassen."

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Pergament in seinen Händen.

Gwen kehrte ihnen den Rücken zu und ging auf die Tür zu die den Treppen am nächsten war. Sie konzentriert sich darauf, einen unsicheren Fuß vor den anderen zu setzen. Das elende Stück Habichtfleisch zu essen, war das Letzte was sie jetzt tun wollte, aber sie wusste, dass sie es bald vor ihrer Tür finden würde und nicht in der Lage sein würde, es zu ignorieren. Sie würde es  letztendlich doch essen.

"Oh, und Tochter?", rief ihr der König noch hinterher, eine Spur Häme in seiner Stimme. "Dein Prinz kommt in sechs Tagen hier an. Ich habe mir gedacht, dass du das vielleicht wissen möchtest."

Sechs Tage.

Gwen verlies lautlos den Saal. Sie wartete, bis sie aus dem Sichtfeld der beiden Männer verschwunden war, bevor sie die feuchten Tropfen wegwischte, die ihre Wangen hinab liefen.

Sie hatte nach Allem also doch noch ein paar Tränen übrig.

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Hi! Zuerst einmal wollte ich sagen: Vielen, vielen Dank für eure Unterstützung bisher! Wir haben die Übersetzer gefunden, die uns noch gefehlt haben, und dank eurer Stimmen und Kommentare hat es diese Übersetzung schon auf Platz 1 der Kategorie Fantasy geschafft.

Bitte macht weiter so, unser ganzes Übersetzerteam freut sich über die Unterstützung die unser Projekt erfährt :) :)

GLG

Robert

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