Epilog (1)
„Niall, fang!"
Nur dank eines erstaunlichen Reflexes schaffte ich es, den Dolch mit der geweihten Klinge aus der Luft zu greifen, den Zayn mir über die vorderste Bankreihe der Kirche hinweg zuwarf. Keine Sekunde zu früh. Mitsamt der Waffe wirbelte ich herum und stieß zu – und im nächsten Moment lösten sich die blau flimmernden Umrisse der bösartigen Seele, die mich so unbedingt töten wollte, in Luft auf. Wenigstens vorübergehend.
„Fuck." Schweratmend ließ ich den Dolch sinken, wischte mir mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn. „Das war knapp."
Zayn, noch immer mit dem Schallpegelmessgerät in einer Hand und seinem Reservedolch in der anderen, trat näher. Trotz der Beinahe-Katastrophe, die mit großer Sicherheit mit meinem Tod geendet hätte, wirkte er zufrieden mit meinem Einsatz.
„Nicht schlecht. Nur ..." Er warf einen vielsagenden Blick auf meinen eigenen Dolch, der in drei Metern Entfernung vor dem Altar lag. „Nur solltest du dir in Zukunft wirklich überlegen, welchen Seelen du vertraust und welchen nicht. Einige wollen offensichtlich gar nicht erlöst werden. Es grenzt an Selbstmord, einfach deine Waffen wegzuwerfen und dich zu ergeben, Niall."
Ich verdrehte die Augen und reichte ihm seinen Dolch zurück, ehe ich mich daran machte, mein eigenes Exemplar wieder einzusammeln. „Schon gut. Ich wollte es nur versuchen. Außerdem ist eine Erlösung sicherlich die angenehmere Option, eine Heimsuchung zu beenden."
„Angenehmer für uns oder für die Seele?"
„Für ... beide?"
Zayn seufzte. „Wenn ich bedenke, wie oft du seit Beginn der Ausbildung schon beinahe draufgegangen wärst, weil du mit einer rachsüchtigen Seele Hände schütteln wolltest, bezweifle ich das ganz stark."
„Komm schon, Zayn." Missmutig stieg ich über eine umgefallene Heiligenstatue hinweg. Ihr Kopf lag irgendwo fünf Meter weiter vorm Altar. „Wenn wir eine Heimsuchung brechen, indem wir das zugehörige Objekt bereinigen oder verbrennen oder was auch immer, muss das für die Seelen doch schrecklich sein, oder? Ich meine, letzten Endes können sie auch nichts dafür, dass sie umgebracht wurden."
Zayn beäugte mich von der Seite her, während er seine unzähligen Waffen wieder sorgsam in den zugehörigen Schlaufen und Taschen verstaute. „Ich werde dein Mitleid mit diesen Kreaturen nie zu hundert Prozent nachvollziehen können. Klar, sie können nichts dafür, ermordet worden zu sein, aber trotzdem sind sie in allererster Linie darauf aus, Menschen zu töten. Wenn ich sie stoppen kann, tue ich das." Argwöhnisch ließ er den Blick über die prunkvollen Verzierungen an den Wänden der Kirche wandern. „Gestoppt haben wir dieses Exemplar hier jedenfalls nicht. Wir haben noch immer die Quelle nicht ausfindig gemacht."
Ich verzichtete darauf, tiefer auf das Diskussionsthema Mitleid mit Seelen einzugehen. „Wie ist der Pfarrer nochmal gestorben?", fragte ich stattdessen. „Es war doch der Pfarrer, oder?"
„Richtig. Erschlagen mit der Monstranz. Vom Messner, der das Opfergeld stehlen wollte."
Ich verzog das Gesicht. „Heilige Hacke."
„Ja. Im wahrsten Sinne des Wortes." Zayn wandte sich mir zu, beide Augenbrauen erhoben. „Jetzt zurück zum Thema. Du sollst ja was lernen. Was kommt deiner Meinung nach als Quelle in Frage?"
„Na ja." Ich wies nach vorne in den Altarraum. „Die Monstranz."
„Stimmt. Was noch?" Angesichts meines ratlosen Blicks schüttelte er lächelnd den Kopf. „Wir hatten doch besprochen, dass nicht nur Gegenstände eine Quelle sein können, sondern auch ..."
Ich riss Mund und Augen auf. „Personen!"
„Richtig." Zufrieden klatschte er in die Hände. „Und wenn diese Personen nicht mehr leben, was leider sehr oft vorkommt, können es auch ihre sterblichen Überreste sein."
„Na toll." In einem Anflug von Ekel starrte ich die verschnörkelte Wand hinter dem Altar an, in deren Mitte sich der goldene Schrank der Monstranz befand. Oder als was auch immer man dieses Ding im Fachjargon bezeichnete. Garantiert nicht als Schrank. „Dann hoffen wir einfach mal, dass die Sache mit der Monstranz erledigt ist. Ich habe keinen Bock darauf, schon wieder ein Grab auszuheben."
„Schon wieder?" Zayn hatte sich bereits auf den Weg in den Altarraum gemacht, wobei er lässig die knallpinke Mütze auf seinem Kopf zurechtschob. Seine schwarzen Haare waren in den letzten Monaten ordentlich gewachsen und lugten nun deutlich unter dem Saum der Mütze hervor. Es kostete mich jedes Mal wieder meine ganze Kraft, nicht wie ein Spanner zu starren. Zayn P-Maliks tintenschwarze, voluminöse Haare waren unfassbar attraktiv.
Na ja, zugegeben: Nicht nur seine Haare. Der ganze Typ war unfassbar attraktiv.
Inzwischen war mir genug Zeit mit ihm vergönnt gewesen, um zu begreifen: Ich hatte einen gewaltigen Crush am Laufen. Fasziniert hatte er mich ja schon von der allerersten Sekunde an, als er mir im Schwimmbad die Seele vom Leib gehalten hatte, ungeachtet dessen, wie unfreundlich, abweisend und gönnerhaft mir gegenüber gewesen war. Aber jetzt, wo wir so gut wie jeden Tag miteinander verbrachten und einander immer besser kennenlernten, konnte ich es nicht mehr leugnen.
Ich war verknallt. Wie der letzte Teenager.
Wann immer mein Kollege und Mentor mir etwas zu nah auf die Pelle rückte, um mir etwas zu erklären oder meinen Körper in die korrekte Kampfstellung zu schieben, spielten meine Hormone verrückt, sorgten für Schweißausbrüche und peinliche Stotteranfälle. Der letzte Zwischenfall dieser Art hatte sich tatsächlich auf einem Friedhof ereignet, direkt an einem frisch ausgehobenen Grab, um die darin beerdigten Gebeine zu bergen und zusammen mit ein paar Kräutern zu verbrennen.
Ich hätte beinahe das falsche Kraut mit in den Brenneimer geworfen, und einzig und allein Zayns blitzschneller Griff nach meiner Hand hatte mich davon abgehalten. Seine Nase hatte dabei meine Wange berührt, woraufhin ich selbst vor Schock auch noch fast in das offene Grab gefallen wäre, mein Gesicht so heiß wie unser Knochenfeuer.
Dieses Vorkommnis in Kombination mit Zayns amüsiertem, verschmitztem Lächeln ... kurzum: Am liebsten wäre ich vor Scham zusammen mit der Knochenasche im Erdboden versunken.
Verstohlen musterte ich seine Rückseite, während ich hinter ihm her trottete. Aus der reinen Draufsicht schien er nicht besonders muskulös oder trainiert zu sein – er war zwar durchaus groß, besaß aber keine breiten Schultern oder einen kräftigen Körperbau, sondern wirkte vielmehr schmal und etwas schlaksig.
Beobachtete man ihm allerdings beim Kämpfen, war er alles andere als untrainiert oder schlaksig oder schmal. Wenn er kämpfte, glich er einer Maschine. Blitzschnelle, gezielte Reflexe, geschulter Rundumblick, beeindruckende, routinierte Kampfbewegungen. Jeder Gegenstand konnte in seinen Händen zur Waffe werden. Zayn Malik war ein verdammter Superheld.
Und all das versuchte er nun mir beizubringen.
Schon blöd, dass ich bei den Übungseinheiten eher auf sein hübsches Gesicht fixiert war, statt darauf zu achten, worauf ich eigentlich achten sollte.
„Niall." Zayn stand bereits vor dem goldenen Schrank, völlig entspannt, als wäre das hier nur eine Kirchenbesichtigung. Als hätte er nicht soeben einen dicken Kreis aus geweihtem Eisensand und Salz gestreut, um nachher die Monstranz darin zu platzieren. „Sollte es tatsächlich die Monstranz sein, wird die Seele gleich wieder auftauchen. Halt mir den Rücken frei."
Ich schluckte schwer. „Okay. Ich versuch's."
„Nicht sehr vertrauenerweckend, Fopp."
Fopp.
Der Spitzname blieb, doch inzwischen war er nicht mehr gehässig oder spöttisch, sondern liebevoll. Ich mochte ihn. Wobei Zayn Malik mich wohl alles nennen könnte, und ich würde es mögen.
„Versuch diesmal einfach, deinen Dolch nicht wegzuwerfen. Mit dem könntest du dich und mich verteidigen, weißt du."
Ich schnitt ihm eine Grimasse. „Ist notiert."
Er zwinkerte mir zu, ich erstickte fast vor Schock, und dann zog er mit einem Ruck die Schranktüren auf.
Einige Sekunden lang verharrten wir beide unbewegt in Position, den Blick wachsam auf unsere Umgebung gerichtet, die Ohren gespitzt, um das charakteristische, feine Zischen, mit dem sich Seelen gerne ankündigten, nicht zu überhören.
Je länger die Sekunden andauerten, desto mehr sackte mir das Herz in die Hose, nicht vor Angst, sondern vor bleierner Frustration Dann war es also doch der Körper des Mörders? Schon wieder ein Grab ausheben? Ernsthaft?
Doch gerade als ich meinen Unmut kundtun und meinen Dolch seufzend sinken lassen wollte, zuckte am Rande meines Blickfelds etwas empor – und dann flammte solcher Schmerz hinter meinen Schläfen auf, wie ich ihn schon lange nicht mehr verspürt hatte. Eigentlich schaffte ich es nach all dem knallharten Training mittlerweile, so gut wie alles auszublenden, was die Seelen mir vermitteln wollten. Kopfschmerzen waren nur noch selten drin, ebenso schwacher Tinnitus und ein paar wenige, nicht sehr intensive Albträume.
Diese Seele hier schien leider ein besonders hartnäckiges, besonders rachsüchtiges Exemplar zu sein.
Trotz allem schaffte ich es irgendwie, mir den Flammenwerfer von der Schulter zu reißen und auf die Silhouette zu richten, die sich Zayn rasend schnell näherte – der wiederum damit beschäftigt war, lauthals fluchend die Monstranz aus dem Schrank zu ziehen. Offenbar klemmte das Teil.
Ich betätigte den Abzug der Waffe, und im nächsten Moment schossen heiße Flammen daraus hervor, schlugen der mordlustigen Seele entgegen und hielten sie erfolgreich von ihrem Angriff ab. Das Flimmern verschwand.
Fragte sich nur, für wie lange.
„Zayn!" Gepeinigt griff ich mir an den Kopf. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich die Schemen zu Zayns anderer Seite erneut zu materialisieren begannen, und zögerte keine Sekunde, zum zweiten Mal den Abzug zu betätigen. Die Seele verflüchtigte sich ebenfalls wieder, aber auf Dauer würde das nichts nutzen. Feuer konnte eine Seele zwar für eine gewisse Zeit aufhalten, aber letzten Endes bekämpfte man damit nur das Symptom. An der Quelle, dieser beschissenen Monstranz, zerrte Zayn noch immer herum. „Mach schon!"
„Keine Panik, Fopp!" Sein Tonfall erzählte eine andere Geschichte. „Ich habe die Lage unter Ko..."
Mit einem Ruck löste sich die Monstranz aus ihrem Schrank und ließ Zayn, der nicht darauf vorbereitet gewesen war, rückwärts taumeln – natürlich genau durch den sorgfältig gestreuten Bannkreis. Sand und Salz spritzten davon, ließen den Kreis, der dafür gedacht gewesen war, die übernatürliche Energie der Quelle in Schach zu halten, lückenhaft zurück.
„Verdammte Scheiße!" Nun schien es auch mit Zayns Ruhe vorbei zu sein. Sein gehetzter Blick fiel auf etwas hinter mich, und seine Augen weiteten sich. „Niall, pass auf!"
Völlig überfordert wirbelte ich herum, traf die Seele nur durch Zufall mit der Klinge meines Dolchs, doch nun schien sie viel zu sehr in Rage – und in Existenzangst – zu sein, um sich davon sonderlich beeindrucken zu lassen. Die Flammen schafften es zum Glück schon eher, sie mir vom Hals zu halten.
Mein Kopf dröhnte, diesmal vor Panik.
„Fuck, Zayn, hast du es endlich?", brüllte ich über meine Schulter hinweg. „Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch aufhalten kann!"
„Sofort!"
Ein verdächtiges Zischen drang gefährlich nahe an meine Ohren und bewegte mich dazu, einen Satz zur Seite zu machen und den Flammenwerfer emporzureißen. Ich sah nur noch, wie die blauen Umrisse sich flackernd auflösten. Leider übersah ich gleichzeitig eine Falte in dem roten Teppich, der im Altarraum ausgebreitet lag, stolperte darüber und krachte dann mit voller Wucht gegen die Hocker der Ministranten und anschließend zu Boden. Irgendetwas schepperte und klingelte, offenbar hatten sich die Altarglocken auf einen Ausflug auf die Treppenstufen begeben.
Benommen fasste ich mir an die Stirn. Das Seelen-begründete Stechen hinter meinen Schläfen hatte nachgelassen, dafür pochte jetzt mein Hinterkopf umso mehr, was allerdings von dem unglücklichen Sturz herrührte. Vor meinen Augen tanzten Punkte.
Ich wusste, dass es die Seele noch immer auf mich abgesehen hatte. Natürlich hatte sie das. Wenn ich in den letzten Monaten meiner Ausbildung eine Sache gelernt hatte, dann diese: Es war völlig egal, wie viele andere Kollegen sich mit mir in einem übernatürlich verseuchten Gebäude herumtrieben, sie interessierten die Seelen einen feuchten Dreck. Sobald ich mich mit im Raum befand, war ich die oberste Priorität.
Die ersten Einsätze im Feld waren schrecklich gewesen. Damals hatte ich es noch nicht geschafft, mich von den Kommunikationsversuchen abzuschotten, und meine Missionen waren beendet, bevor sie überhaupt richtig beginnen konnten. Das klappte inzwischen glücklicherweise sehr gut. Meistens jedenfalls.
Das Opfer mit der Zielscheibe war ich trotzdem.
Panisch tastete ich nach dem Flammenwerfer, doch der schien mir beim Sturz entglitten und irgendwo zwischen die Stühle geschlittert zu sein. Stattdessen bekam ich den Griff meines geweihten Dolchs zu fassen und hielt ihn vor mich, als würde er noch irgendetwas nutzen.
Die flimmernde Silhouette kam näher, nun erstaunlich langsam. Meine Ohren begannen unangenehm zu summen, meine Hände zu kribbeln, und aus irgendeinem Grund wusste ich nun endgültig, dass der untote Pfarrer nicht hierher unterwegs war, um sich erlösen zu lassen, sondern einzig und allein, um mich zu töten. Der einzige Grund, warum er es noch nicht getan hatte, war wohl, dass meine tote Energie ihn irritierte. Bestimmt versuchte er gerade, mir seine Todesszene einzupflanzen, doch ich hielt verbissen dagegen. Diese Scheiße musste ich nicht unbedingt sehen, danke vielmals.
Unwillkürlich griff ich nach meinem Pentagrammanhänger. Dieser war zwar einer der besonderen, mehrfach präparierten Sorte, aber trotzdem lag es letzten Endes an mir, die Visionen von mir fernzuhalten.
Konzentration, bläute Zayn mir regelmäßig ein. Auf die Lebensenergie in dir. Sie ist stärker als die des Todes. Mach dir das zunutze.
Tat ich nun. Aber es war unfassbar anstrengend, vor allem nach einem ungemütlichen Sturz und einer unschönen Begegnung mit einer Stuhlkante. Bestimmt gab das mal wieder eine Platzwunde, die tagelang hässlich aussehen und meine Haare eklig orange färben würde. Ich sollte mir angewöhnen, bei Einsätzen grundsätzlich einen Skihelm zu tragen.
Wenn es denn noch weitere Einsätze für mich geben würde.
Ich sah förmlich den Och-scheiß-drauf-Moment, als der untote Pfarrer aufgab. Einen Wimpernschlag später stürzte er sich auf mich, und meine Panik schoss über ein Höchstmaß hinaus.
Nur noch ein hysterisches „Zayn!" verließ meinen Mund, während ich reflexartig die Arme hochriss und den Dolch warf, als könnte ich somit irgendetwas ausrichten, in dem Bewusstsein, dass ich genau jetzt sterben würde.
Ein Zischen erklang, gefolgt von einem Windhauch, der mir ins Gesicht schlug, und dann ...
Stille.
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Teil 2 kommt sofort :)
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