28) Opfer
Eisige Kälte holte mich aus der Bewusstlosigkeit.
Mein ganzer Körper zitterte, sowohl vor Kälte als auch vor Anspannung. Rückblenden der Visionen durchzuckten meinen Kopf, der Nachhall der Schreie tobte in meinen Ohren, mein Brustkorb hob und senkte sich rapide. Ich schmeckte Blut, offenbar hatte ich mir unbemerkt auf die Zunge oder die Lippe gebissen, und mein verletzter Arm schmerzte stechend.
Doch das Schlimmste war das Gefühl. Das Gefühl des Todes. Das Gefühl, binnen weniger Sekunden unzählige Male Zeuge davon geworden zu sein, von ihm berührt, von ihm geküsst worden zu sein, wie Zayn es auszudrücken pflegte.
Irgendwie gelang es mir, die Augen aufzuschlagen und zum ersten Mal seit der Betäubung wirklich zu sehen. Dämmrige Finsternis umgab mich, doch die schwache Lichtquelle reichte dennoch aus, um das niedrige Deckengewölbe über mir zu beleuchten, als nächstes stachen mir die groben, wie von Hand geschlagenen Steinwände ins Auge.
Ein ... Felsenkeller? Existierte so etwas unter dem Hotel? Nicht, dass ich jemals davon gehört hätte.
Scheißegal.
Langsam bewegte ich meinen viel zu schweren Kopf zur Seite, in die Richtung, in der ich die lichtspendenden Kerzen vermutete. Den Ritualkreis. Nur langsam realisierte ich, dass ich nicht mehr in der Mitte davon lag, sondern daneben. Eine Linie aus feinem Staub umgab mich, offenbar mit großer Sorgfalt gezogen, und ich musste trotz meiner hämmernden Kopfschmerzen nicht lange überlegen, um zu erahnen, dass es sich um Eisensand handelte. Geweihten Eisensand, der die Seelen von mir abhielt.
Das Amulett, das Zayn mir gegeben hatte, lastete unter dem schweißnassen Shirt schwer auf meiner Brust. Warum man es mir nicht abgenommen hatte, blieb mir ein Rätsel. Immerhin hätte es den Zugang der Seelen doch blockieren oder wenigstens erschweren sollen, richtig?
Nun gut. Ganz offensichtlich hatte es das nicht. Zumindest nicht so stark, dass ich irgendetwas davon bemerkt hätte.
Dann erst, mit großer Verspätung, sickerte die Stimmen in meine Wahrnehmung. Kollektives Murmeln aus vielen Kehlen, wie ein Mantra an- und abschwellend. Lateinische Wörter, die ineinander verschwammen, aufeinander abgestimmte Töne, die einen tiefen Klangteppich erzeugten.
Es hätte tatsächlich angenehm sein können, würde der lateinische Text nicht so exzessiv von Mord und Totschlag handeln. Mein Latein aus Schulzeiten erfreute sich zwar bei Weitem nicht mehr der besten Qualität, aber es reichte aus, um mir die Lieblingswörter der Römer in Erinnerung zu rufen. Blut und Tod und Krieg gehörten definitiv dazu.
Ich wandte den Kopf noch weiter zur Seite, ignorierte das Ziehen in meinem Nacken und den Schwindel, der durch meine Schläfen wirbelte, und endlich gewann ich freien Blick auf das, was neben mir geschah.
Mehr als ein Dutzend Leute konnte ich ausmachen, die versetzt und mit etwas Abstand zueinander in Kreisformation im Kellergewölbe standen. Zwischen ihnen leuchteten unzählige Kerzen und glühende Fackeln, und auch in den Händen hielten sie Gefäße, aus denen goldenes Licht und Qualm hervordrangen. Die Kapuzen ihrer schweren, bodenlangen Kutten hielten sie sich tief ins Gesicht gezogen, die Köpfe gen Boden gesenkt.
Die Panik, die während meines Lagechecks ein wenig in den Hintergrund gerückt war, meldete sich wieder mit dumpfem Rumoren zu Wort.
Was befand sich im Zentrum des Kreises? Oder wer, wenn nicht ich? Hatte Zayn nicht gesagt, sie brauchten nur mein Blut, sonst nichts?
Beim Gedanken an mein Blut begann der Schnitt an meinem Arm wieder zu pochen, und als ich einen Blick darauf riskierte, musste ich unwillkürlich eine Grimasse ziehen. Die Verletzung blutete zwar nicht mehr, aber sie schien durchaus tief zu sein, angesichts dessen, wie abartig die Wundränder auseinanderklafften. Irgendjemand musste die Blutung gestillt haben, sonst wäre ich jetzt definitiv nicht bei Bewusstsein.
Eilig wandte ich die Augen ab, ehe mir womöglich übel werden konnte. Niemandem nützte es etwas, wenn ich jetzt kotzte. Am allerwenigsten mir selbst.
Wyatt.
Wie ein Blitzfeuer flammte sein Name in meinem Kopf auf. Er war ebenfalls hier gewesen. Ich hatte seine Stimme gehört, dann die Kampfgeräusche. Und dann die Stille.
Das schlechte Gefühl in meiner Magengegend verdreifachte sich. Was zum Henker war passiert? War Wyatt von der Betäubung aufgewacht und den Todesanbetern hierher gefolgt? Und vor allem: Was hatten sie mit ihm gemacht, um ihn zum Schweigen zu bringen? Unmöglich konnten sie jemanden frei herumlaufen lassen, der Zeuge eines Beschwörungsrituals geworden war und – wie ich Wyatt inzwischen einschätzte – ein paar nette Fotos davon geschossen hatte.
Blut und Tod.
Horrorszenarien flimmerten vor meinem inneren Auge auf, davon, was diese Todesanbeter mit unerwünschten Mitwissern taten.
Ein Frösteln durchlief meinen Körper und brachte meine Gedankengänge abrupt zum Erliegen. Die Temperaturen sanken rapide, und ich wusste mittlerweile, was das bedeutete.
Ich musste hier raus.
Prüfend bewegte ich erst meine Finger, dann meine Arme und schließlich meine Beine. Mit Erfolg. Abgesehen von dem hässlichen Schnitt am linken Unterarm schien ich keine weiteren Verletzungen davongetragen zu haben, die mich bei einer Flucht einschränken könnten.
Das einzige Problem stellte mein Kopf dar. Ich hatte mich kaum in eine sitzende Position emporgestemmt, langsam und vorsichtig, da legte er schon eine Drehung nach der anderen hin, ließ die Kerzenflammen wild tanzen und die vermummten Gestalten zu undeutlichen Flecken werden.
Mit verzerrtem Gesicht fasste ich mir an die Schläfen. Ich fühlte mich so ausgezehrt. Einerseits so voll und überfordert, andererseits entsetzlich taub – was nichts an der Tatsache änderte, dass ich wenigstens versuchen musste, diesem Horrortheater zu entkommen.
Nach mehreren, tiefen Atemzügen konnte ich mich schließlich dazu durchringen, die Beine anzuwinkeln, mich halb herumzudrehen und mich nach und nach in die Hocke zu stemmen – doch dann streiften meine Augen etwas links neben mir, und um ein Haar hätte ich wie am Spieß gekreischt. Gift und Galle drohten in mir aufzusteigen, nur im letzten Moment gelang es mir, meinen Magen im Schach zu halten.
Direkt neben mir, scheinbar sorgfältig an der Wand platziert, lag ein Mensch. Ein enorm lebloser Mensch, und noch dazu einer, den ich kannte.
Wyatt.
Fast hätte ich ihn nicht erkannt. Viel zu eingefallen und kreidebleich waren seine Wangen, viel zu unwirklich seine weit aufgerissenen, stumpfen Augen, sein normalerweise so kräftiger, nun in sich zusammengesackter Körper.
Er war tot.
Ich wusste es einfach. Ich spürte es.
Meine Kehle verengte sich binnen eines Wimpernschlags, zwang mich zu einem Würgen. Sie hatten ihn kaltblütig getötet. Einfach so.
Nein. Nicht einfach so.
Ich zwang mich dazu, näher hinzusehen, und stellte fest, dass er keine Wunden aufwies. Zumindest keine, die lebensbedrohlich sein könnten. Kein Blutfleck an seiner Kleidung, keine Schnitte an den Armen oder am Hals, nichts. Lediglich an seinem Kiefer prangte eine bläuliche Verfärbung, wie vermutlich von einem wohlplatzierten Faustschlag herrührte. Und dann waren da die aufgerissenen, verschleierten Augen. Sogar im Tod wirkten sie panisch, voller Furcht, als hätte er in den letzten Sekunden seines Lebens noch etwas gesehen, bei dem er sofort gewusst hatte, dass es sich tatsächlich um seine letzten Sekunden handelte.
Sie hatten ihn geopfert.
Wyatt Falconer, der nervige Fanboy und noch nervigere, sehr fragwürdige Stalker, war zu einem Lebendopfer degradiert worden, war den Seelen zum Fraß vorgeworfen worden, um ein Beschwörungsritual durchzuführen.
Mein Herz pochte so heftig gegen meinen Brustkorb, dass ich befürchtete, es könnte ihn brechen. Ich wollte in Tränen ausbrechen und hyperventilieren, und dann am besten umfallen und nie wieder aufstehen. Aber ...
Raus.
Jetzt umso mehr.
Taumelnd kam ich in gebückter Haltung auf die Beine. Mein Blickfeld schwamm mit meinem Kopf um die Wette, meine Beine kribbelten alarmierend und flehten mich geradezu an, mich wieder hinzusetzen, doch das kam nicht in die Tüte.
Raus!
Nur ... wo? Wohin? Musste ich auf dem Weg zum Ausgang, zu einer Treppe, quer durch den Ritualkreis stolpern?
Aufkeimendes Wispern zerrte an meinen Nerven, leichter Wind an meinem verschwitzten, blutigen T-Shirt, das Murmeln der Todesanbeter schwoll an.
Ich spürte den Tod. Ich spürte die erstarkende Präsenz der Seelen, wenn auch bei Weitem nicht so stark wie gewöhnlich. Aber warum ...
Der Kreis. Der geweihte Eisensandkreis. Er hielt die Seelen davon ab, sich auf mich zu stürzen. Womit schützten sich die Todesanbeter selbst? Stand jeder von ihnen ebenfalls in einem geweihten Kreis? Es war viel zu dämmrig, um auf dem Boden irgendetwas zu erkennen, schon gar keine feinen Linien aus winzigen, dunklen Körnern.
Fuck!
Wie sollte ich auch nur ansatzweise an eine Flucht denken, wenn ich mich nicht einmal von der Stelle bewegen konnte? Zumindest nicht, ohne in den Wahnsinn getrieben oder umgebracht zu werden, sobald ich einen Fuß über die geweihte Linie setzte?
Und wo zur verschissenen Hölle war Zayn? Wegen dem war ich doch überhaupt erst hierhergekommen.
Eine dunkle, schreckliche Vorahnung keimte in mir auf.
Was, wenn ...
Verbissen reckte ich mich, so weit, bis sämtliche meiner Muskeln brannten, doch es wollte mir einfach nicht gelingen, zwischen den Vermummten hindurch einen Blick auf das Zentrum des Kreises zu erhaschen.
Frustration und Verzweiflung ließen meinen Mund trocken werden. Wenn ich doch nur irgendetwas ausrichten könnte. Fanatisch tastete ich meine Taschen ab, doch natürlich hatte man mir mein Handy abgenommen und es in irgendeine Ecke verfrachtet, an die ich nicht so schnell gelangen würde. Vermutlich zusammen mit meiner Jacke, dir mir auch herzlich willkommen wäre. Ich stand kurz vor einem Kälteschock. Und auch allgemein vor einem Schock, wenn das hier nicht bald endete. In Wyatts Richtung durfte ich mich gar nicht wenden, wenn ich nicht kotzen wollte.
Ich erstarrte, als einer der Vermummten einen Schritt nach vorne aus der Formation trat. Wenn mich jetzt jemand sah, wie ich hier stand und Pläne schmiedete, war es aus.
Glücklicherweise drehte sich der Todesanbeter nicht um. Stattdessen reckte er die Hände empor, sein glühendes Glas in der einen, ein Kreuz in der anderen, ehe er auch die Stimme erhob. Ein Schwall lateinischer Beschwörungen schwappte über den Ritualkreis hinweg, so laut, dass er sogar das Mantra der anderen Anbeter übertönte.
Und nicht er. Sie. Es handelte sich ganz eindeutig um die Stimme einer Frau. Vielleicht die, auf deren Konto der Schnitt an meinem Arm ging? War sie womöglich die Anführerin dieses Wahnsinns?
Für weitere Überlegungen blieb mir keine Zeit mehr, denn in der nächsten Sekunde traten die Vermummten auf ein besonders lautes Wort hin gleichzeitig einen Schritt nach rechts – wodurch genau vor mir eine Lücke entstand. Eine Lücke, die mir perfekten Blick auf das Zentrum des Ritualkreises gewährte.
Wie befürchtet lag dort jemand. Von brennenden Kerzen und glühenden Kräutern in Gläsern umgeben, völlig reglos, die Hände auf dem Bauch gefaltet und ein rotbeflecktes Kreuz auf der Brust. Das Shirt war an der Nackenpartie eingerissen worden, vermutlich, damit das Kreuz auf der nackten Haut ruhen konnte.
Doch all das rückte rasend schnell in den Hintergrund, als mich die Erkenntnis traf. Die Erkenntnis, dass die Person, die offenbar als nächstes Opfer für diese Beschwörung dienen sollte, eine pinke Mütze trug, so pink, dass sie sogar in den dämmrigen Lichtverhältnissen irritierend neonfarben leuchtete.
Und ich kannte nur eine einzige, mir bekannte Person, die eine neonpinke Mütze trug – und der es darüber hinaus zuzutrauen war, sich in eine Lage zu manövrieren, die Todesanbeter, geweihten Eisensand und blutrünstige Seelen beinhaltete.
Zayn P-Malik.
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Sieht ganz so aus, als müsste diesmal Niall Zayn retten, nicht umgekehrt👀👀👀 Soll's auch mal geben😂
Dankeschön fürs Lesen & für eure Sternchen🥰🎉
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