2. Schwimmbad des Todes
Nur so als Anmerkung vorweg: Ich legte mich nicht auf die Schnauze. Zumindest nicht vor laufender Kamera. Zu dem Zeitpunkt, als ich auf einen besonders großen Stein trat und tatsächlich zu Boden ging, hielt Liam diese nämlich gerade auf Louis gerichtet. Der Trottel ließ sich immer noch darüber aus, dass er nun ja völlig umsonst seine Schwimmsachen mitgenommen hatte, und das konnten wir unseren Zuschauern natürlich unmöglich vorenthalten. Dafür war sein Gelaber viel zu dumm.
„Niall, du bist so dumm."
Ich verdrehte die Augen, während ich mich aufrappelte und in übertriebener Gestik den Dreck von meiner dunklen Jeans klopfte. „Gleichfalls."
In diesem Zusammenhang sollte ich wohl erklären, dass wir einander nicht hassten, sondern nur fürchterlich gernze triezten.
„Hey." Liam ließ die Kamera sinken. „Bist du in Ordnung?"
„Natürlich ist er das", keifte Louis ungeduldig. „Es gibt hier nur eine Sache, die nicht in Ordnung ist, Payno: Nämlich, dass du den dramatischen Fall nicht auf Band hast!"
Liam prustete in einer Mischung aus Entsetzen und Fassungslosigkeit. „Bitte was? Er hätte sich den Knöchel brechen können, du unempathischer Sack!"
„Na und?"
Zähneknirschend wehrte ich Louis ab, der schon wieder den Arm um mich legen wollte – zweifelsohne, um einen weiteren Nouis-Schnappschuss in die unendlichen Weiten des Internets zu katapultieren.
„Tu doch nicht so, Payno", rief ich in Liams Richtung. „Wir alle wissen, dass es euch beiden vollkommen egal ist, ob ich mir irgendetwas breche."
„Ja, weil du dumm bist." Louis schien das Bedürfnis zu verspüren, diese Feststellung so oft wie möglich zu wiederholen.
„Und du brauchst Anti-Aggressions-Training." Ein Wunder, wie wir knapp eine Million Follower auf YouTube haben konnten. „Können wir weitermachen?"
„Selbstverständlich." Hochmutig hob Liam die Kamera wieder an. „Dann legt mal los mit eurem Bullshit."
Das Freizeitbad, das wir uns heute vornahmen, war zu seinen Blütezeiten der Renner gewesen. Seine ruhige Lage außerhalb der Stadt direkt neben einem kleinen Wäldchen und mit geräumigem Außenbereich hatte es zu einem vielbesuchten Erholungsort werden lassen. Die riesigen Fensterfronten des Hallenbads sowie die verglaste Kuppel im Zentrum des Gebäudes mussten damals majestätisch gewirkt haben, ebenso der weitläufige, von einem verschnörkelten Metallzaun eingefasste Parkplatz, auf dem wir gerade herumstanden.
Meiner Recherche nach war das Freizeitbad für lange Zeit der Stolz der Stadt gewesen, doch das hatte leider nicht ausgereicht, um es zu erhalten. Vor rund fünfundzwanzig Jahren musste es aufgrund fundamentaler Statikprobleme geschlossen werden, mit dem Vorhaben, die Probleme zu beheben und dann eine große Wiedereröffnung einzuleiten. Dazu war es am Ende jedoch nicht gekommen. Zu teuer wäre die Renovierung gewesen, zu groß die Konkurrenz neuer, modernerer Freizeit- und Badeanlagen im näheren Umkreis. Nicht einmal Zeit und Geld für einen fachgerechten Abriss hatte man sich genommen, sondern ließ einfach Wind und Wetter seinen Dienst tun.
Mit dem Resultat, dass über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg ein Lost Place vom Feinsten entstanden war.
Gut für uns.
Das vertraute, kribbelige Gefühl von Aufregung und Vorfreude drang bis in meine Fingerspitzen, während ich den Blick über das Gelände schweifen ließ. Die verwachsenen Pflastersteine des Parkplatzes, der verwucherte, schmiedeeiserne Zaun, die morsche Pforte an der Einfahrt. Die breite Eingangsfront des Hauptgebäudes mit der abblätternden, hellblauen Farbe und der zersplitterten Drehtür. Die Nischen links und rechts davon, in denen sich ursprünglich die Kartenautomaten befunden hatten. Die ebenso hellblaue Wendeltreppe an der rechten Seite des Gebäudes, die wohl als Notausgang gedient hatte. All das Laub und der Dreck auf der Glaskuppel, die verschmierten Fensterscheiben – und natürlich die monströse Silhouette der Röhrenrutsche, die hinter dem Gebäude in den dämmrigen Abendhimmel ragte.
„Wow." Louis' ehrfürchtiger Tonfall sprach mir aus der Seele. „Vielleicht ist der Schuppen doch ganz cool."
Liam hinter uns schluckte laut. „Bestimmt. Ähm ... wo wollt ihr denn eigentlich überall hin?"
„Wir können ja mal schauen, wie weit wir kommen." Ich bemühte mich um einen ruhigen, zuvorkommenden Tonfall. Wir sollten uns glücklich schätzen, Liam in unserem Team zu haben, statt ihn ständig zu piesacken. Da war ein wenig Rücksicht auf sein Unwohlsein das Mindeste, was wir tun konnten, auch wenn er es – meiner Meinung nach – manchmal ein wenig übertrieb. „Den Innenbereich wollen wir uns definitiv ansehen, richtig? Wegen der Kuppel. Und Liam, du wolltest doch auch noch ein Foto von der Rutsche draußen."
Liams Schultern sackten herab. „Ja. Leider."
„Dann holen wir uns besser mal Tickets."
„Moment." Liam hob die Kamera. „Sag das nochmal fürs Band. Louis, Hände aus den Hosentaschen. Das sieht im Hintergrund bescheuert aus. Wir befinden uns an einem verfluchten Ort, an dem Leute gestorben sind. Wir sind nicht gelangweilt oder cool."
Ja, richtig. Die toten Leute.
Ein winziges, eventuell relevantes Detail, das ebenfalls zur vorzeitigen Schließung der Schwimmbadanlage beigetragen hatte – vermutlich noch mehr als die Statikprobleme. Oder vielleicht waren die Todesfälle schlicht und ergreifend von den Statikproblemen hervorgerufen worden? Sicherlich eine plausible Erklärung. Ich meine, mehrere Todesfälle im gleichen Schwimmbad, noch dazu binnen weniger Jahre? Da musste doch irgendetwas schiefgegangen sein.
Im Internet hatte ich nicht besonders viele Einzelheiten zu den Toten herausfinden können, lediglich, dass es sich angeblich jedes Mal um einen tragischen Unfall gehandelt hatte. Ausgerutscht auf der Treppe der Rutsche. Beinkrampf im tiefsten Teil des Wellenbads. Zu wenig gesunder Menschenverstand im Springerbecken. Herzinfarkt auf der Liegewiese. Ein Sturz ins leere Becken.
Zugegebenermaßen eine recht bunt zusammengewürfelte Häufung an Gründen.
Liam glaubte fest daran, dass übernatürliche Kräfte im Spiel gewesen waren und hier immer noch ihr Unwesen trieben, und machte sich wie üblich in die Hose.
Louis hingegen stürzte sich einfach nur auf das Drama. Je blutiger die Hintergrundgeschichte eines Lost Place, desto besser. Unsere Zuschauer waren der gleichen Meinung, wobei ein Großteil der Leute es umso mehr feierte, wenn wir zusätzlich ein bisschen Drama veranstalteten. Zum Beispiel, indem wir so taten, als hörten wir merkwürdige Geräusche. Oder wir inszenierten einen kleinen Unfall. Oder das Verschwinden eines Teammitglieds.
Solche Dinge kamen in der Welt des Internets immer wieder gut an, auch wenn die meisten Zuschauer sehr wohl wussten, dass solche Situation nur gestellt waren. Diese Tatsache blendeten sie einfach aus. Im Großen und Ganzen war es eine Win-win-Situation: Wir lieferten ihnen Unterhaltungsstoff, wir hatten unseren Spaß. Und unser Geld.
So einfach war das.
Nach und nach legten wir den verwucherten Parkplatz zurück und steuerten auf den Eingang des Hauptgebäudes zu. Dort erzählte ich pflichtbewusst ein paar Details über die Eröffnung des Schwimmbads sowie dessen Geschichte, während Louis im Hintergrund mit wasserfestem Stift einen Penis auf die Drehtür zeichnete.
Liams biss sichtlich die Zähne zusammen, doch zu meiner unsäglichen Dankbarkeit brach er den Dreh nicht ab. Ich hätte absolut keinen Bock darauf gehabt, die ganzen Fakten nochmal abzuspulen, nachdem ich mich beim allerersten Versuch ausnahmsweise mal nicht verhaspelt hatte.
So nervig es war, brachte mir das Ganze hier aber ordentlich Übung. Übung für die Zeit nach dem Abschluss meines Kulturwissenschaft-Studiums, wenn ich irgendwo in einem Museum oder einer anderen kulturellen Stätte arbeitete. Bei Führungen musste man immerhin auch gut darin sein, Infos auszuspucken und sie dabei so zu verpacken, dass sie spannend klangen und Interesse weckten. Ich lernte hier sozusagen fürs Leben.
Meine Familie, bestehend aus meiner Tante und ihrem Ehemann, war da anderer Meinung, aber das interessierte ich nicht. Unsere Meinungen drifteten sowieso grundsätzlich auseinander, ganz egal, worum es ging. Bestes Beispiel: Mein Studium. In den Augen meiner Tante hätte ich mir lieber etwas Ordentliches suchen sollten. Jura. Wirtschaft. Lehramt. Ihretwegen auch etwas im sozialen Bereich. Irgendetwas, was die Welt brauchte.
Kulturwissenschaft? Pfui. Keiner brauchte ein solches Taxifahrerstudium.
Gleiches galt für den YouTube-Kanal. Der war schon zu Schulzeiten entstanden, damals noch unter dem Namen Lost Idiot mit der technischen Unterstützung von Harry.
Der Harry, der jetzt mit Louis zusammen war und es inzwischen bitter bereute, mir damals geholfen zu haben. Er hasste, was wir taten. Damals hatte er ja nicht ahnen können, wie sehr das Ganze ausarten würde. Er dachte wahrscheinlich, ich würde drei, höchstens vier amateurhafte Videos hochladen, mich von unseren Klassenkameraden auslachen lassen müssen und dann voller Scham wieder aufgeben.
Pustekuchen.
Mein erstes Video, peinlich und lediglich aus Melancholiegründen noch online, war damals im verlassenen Haus meiner verstorbenen Großeltern entstanden. Lächerlicherweise einen Tag, bevor mit dem Abriss begonnen worden war. Aber es hatte seinen Dienst als Startschuss für das, wo wir uns aktuell befanden, erfolgreich erfüllt.
Von da an ging es steil bergauf.
Geheimnisvollere Schauplätze, fundierteres Hintergrundwissen, besseres Equipment – und irgendwann natürlich Louis und Liam, worauf ich den Kanalnamen zu Lost Idiots umgeändert hatte.
Louis hatte ich auf einer Studentenparty aufgesammelt. Zwar hatte er nie studiert und wollte auch nie studieren, aber wenn es um Partys ging, nahm er grundsätzlich mit, was er konnte. Eigentlich war Louis Tomlinson ein Informatiker der Spitzenklasse. Eigentlich, wohlgemerkt, denn leider war er von seiner ehemaligen Firma hochkant hinausgeworfen worden, nachdem er das Tinder-Profil seines Vorgesetzten gehackt hatte. Woher das Bedürfnis gekommen war, genau das zu tun, warf mir bis heute Rätsel auf.
Durch mich hatte er schließlich Harry kennengelernt, und nach einigen Monaten des Sich-Umkreisens hatte es endlich gefunkt. Seither waren die beiden ein Paar. Ein ekelhaftes, putziges, nerviges und streitendes Paar, mit dem sich meistens eine bestimmte Person herumschlagen musste.
Richtig. Ich.
Die Kennenlerngeschichte zwischen Liam und mir war um Welten weniger chaotisch. Ihn kannte ich schlicht und ergreifend aus dem Studium. Als der eifrige Überflieger, der er eben war, hatte Liam Payne ganz am Anfang noch zwei Studiengänge gleichzeitig studiert, Kommunikationsdesign und Geschichte.
Warum? Weil er sich nicht für einen der beiden entscheiden konnte. In meinen Augen ein klarer Fall von Wahnsinn, aber nun gut. Jedenfalls waren wir in einem Seminar über regionale Geschichte zufälligerweise nebeneinander in der hintersten Reihe des Saals gelandet.
Ich, weil ich dort immer saß, um ungestört frühstücken zu können. Er, weil er die Katze seiner Mutter babysitten musste, die an jenem Morgen zuerst in sein Bett und dann vor die Tür gekotzt hatte, wodurch ihm sein Bus davongefahren und er zu spät zur Vorlesung gekommen war.
Ich hatte mein Frühstück mit ihm geteilt, um ihn zu trösten, und seitdem waren wir Freunde. Seltsam, weil wir charakterlich eigentlich so überhaupt nicht zusammenpassten, aber vielleicht konnten wir ja voneinander lernen. Wir alle drei.
Ich spähte zu Louis hinüber, der stolz den Penis an der Wand begutachtete.
Na gut.
Vielleicht blieb bei Louis der Lerneffekt doch aus.
„Louis, du bist ein ..." Liam vollendete seinen Satz nicht, viel zu sehr damit beschäftigt, die Drehtür zu passieren, ohne dabei das Geschlechtsorgan allzu fokussiert ins Bild zu nehmen. Als Louis dann auch noch versuchte, sich an ihm vorbei zuerst ins Innere des Gebäudes zu quetschen, stellte er ihm kurzerhand einen Fuß in den Weg. „Moment, Tomlinson. Der Kameramann zuerst."
Louis quengelte irgendetwas, doch wir ignorierten ihn gekonnt.
Brav wartete ich ab, bis Liam den ersten Rundumschwenk mit seiner Kamera beendet hatte, ehe ich hinter ihm durch die Drehtür trat. Das Ding sah aus, als wäre es von oben bis unten mit Spinnweben überzogen, so viele Risse und Sprünge prangten im Glas. Noch dazu quietschte es so fürchterlich, dass ich mich dazu entschloss, mit meinem Mini-Mikrofon, das für gewöhnlich am Kragen meines Shirts hing, schnell eine Aufnahme davon zu machen. Wer wusste schon, wofür man das Material noch brauchen konnte?
Schweigend durchquerten wir die Eingangshalle. Kreuz und quer lagen Sitzbänke herum, alte Flyer und Zeitschriften, in der Ecke sogar eine umgekippte Vitrine. Das Einzige, was noch halbwegs intakt wirkte, war der steinerne Brunnen in der Mitte des Raums. Natürlich floss darin kein Wasser mehr, aber das Fliesenmosaik, von dem das Wasserbecken ausgekleidet wurde, schien weitgehend unversehrt zu sein.
Im Gänsemarsch umrundeten wir den Brunnen, mussten nur kurz innehalten, als Liam ein Bild davon machte.
Louis stieß ihn an. „Ich will dich nicht drängen, Payno, aber solltest du nicht auch mal ein paar Filmchen drehen? Deshalb sind wir eigentlich hier."
Liam kaute auf seiner Unterlippe. „Aber dafür muss ich ja voran gehen."
„Genau." Louis grinste. „Oder ganz hinten, dann hättest du uns beide im Bild."
„Nein, muss er nicht", fuhr ich Louis über den Mund. „Du kannst auch von da aus filmen, wo du gerade bist."
Liam strahlte mich an.
Louis wandte sich glucksend ab, sagte jedoch nichts mehr.
Wir passierten eine breite Tür, deren wuchtige Flügel sperrangelweit offenstanden, umgeben von Glassplittern und diversem Abfall. Dazwischen lagen kreuz und quer Betonbrocken und Überreste von massiven Metallstangen herum, was mich darauf schließen ließ, dass sich hier früher wohl ebenfalls Drehkreuze befunden hatten – der Übergang in den Bereich der Umkleidekabinen.
Die bunt gemusterten Bodenfliesen waren unter all dem Dreck fast nicht mehr auszumachen, von den zersplitterten und teilweise deutlich von Menschenhand herausgeschlagenen Stellen ganz zu schweigen. Die Sohlen meiner Sneaker knirschten furchterregend, wann immer ich auf besonders grobkörnigen Dreck trat, und die Tatsache, dass Liam jedes Mal zusammenzuckte, hätte witzig sein können, hätte ich ihn nicht so bemitleidet.
Rechts erstreckte sich eine Reihe steinerner Waschbecken mit zahlreichen Stromanschlüssen und abstehenden Kabeln, nur hier und da noch mit einem schmutzigen Spiegel über den Wasserhahn. Der Rest lag in schmutzigen Glassplittern auf dem Boden. Aus meinen Recherchen wusste ich, dass sich hier auch Vorrichtungen zum Föhnen und Frisieren befunden hatten, doch von den Geräten an sich war nichts mehr zu erkennen. Entweder waren diese nach der Schließung abgebaut worden, oder ein paar zerstörungswütige Idioten hatten ihr Unheil getrieben und mitgenommen, was sie konnten.
Gedankenverloren ließ ich die Fingerkuppen am Rand eines Waschbeckens entlanggleiten. Teures Material in Steinoptik, damals in Kombination mit moderner, elektronischer Ausstattung, blitzblank geputzten Buntfliesen und geschmackvoller Dekoration.
Ein leises „Krass!" von Liam riss mich aus meinen Gedanken, und als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass er am Anfang der Waschbeckenreihe stehengeblieben war und meinen melancholischen Gang mitgefilmt hatte. Hinter ihm zeichnete Louis irgendetwas auf einen umgefallenen Tisch, doch ich vermied es, Liam darauf aufmerksam zu machen. Sicherlich handelte es sich wieder um das obligatorische Geschlechtsorgan.
Louis' tiefsitzender Drang, diese Zeichnungen überall zu hinterlassen, war bemerkenswert. Und natürlich auch unfassbar primitiv und unnötig, aber da die Zuschauer diesen Drang fast so sehr feierten wie Louis' und meine angebliche Beziehung, hatte ich es irgendwann aufgegeben, ihm seinen Stift wegzunehmen.
„Sehr, sehr cool, Niall." Liam ließ die Kamera sinken, um mich anzugrinsen. Seine Panik vor Untoten schien er wenistens für den Moment verloren zu haben „Das werden tolle Fotos. Stört es dich, wenn du von hinten zu sehen bist? Fotos mit Leuten drauf verkaufen sich nun mal doppelt so gut."
Ein Witz darüber, dass er mit meinem schönen Hintern jetzt auch noch Geld machen wollte, lag mir auf der Zunge, doch ich verkniff ihn mir.
„Sag doch einfach, dass du Nialls Hintern verkaufen willst", kam es leider prompt schon von Louis. „Aber nachvollziehbar."
Ehe ich ihn davon abhalten konnte, drehte Liam sich schon um, um Louis eine bissige Bemerkung an den Kopf zu werfen – und natürlich fiel sein Blick sofort auf das neueste Kunstwerk.
„Louis, was zur verschissenen Hölle soll das?" Jetzt klang er wirklich angepisst. „Das ist Vandale!"
Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb Louis sich die Ohren. „Meine Güte. Pass auf, wie laut du hier rumkreischst, Payno. Sonst weckst du am Ende noch die Dämonen auf, die dann kommen und erst dich und dann deine Tausend-Euro-Kamera fressen. Stell dir nur vor. Die ganzen wertvollen Bilder von Nialls Arsch. Alles verloren."
„Louis, ich meine es ernst! Wir sind keine hobbylosen Vollpsychos, die überall randalieren! Ist es nicht Gesetz unter Leuten wie uns, einen Lost Place so zu hinterlassen, wie wir ihn auffinden? Das da..." Er zeigte auf Louis' Kunstwerk. „... fällt für mich ganz klar unter die Rubrik Vandale! Und das ganze Internet sieht es! Möchtest du, dass wir Probleme kriegen?"
Stille trat ein.
Inzwischen war die Dämmerung so weit fortgeschritten, dass ich mit dem Gedanken spielte, die Stabtaschenlampe von meiner Hose zu zücken, doch ich wagte es nicht. Immerhin befanden sich meine Kollegen nur ein Fingerschnippen davon entfernt, einander zu häuten, und wie immer stand ich zwischen den Stühlen.
Insgeheim musste ich Liam Recht geben, denn er traf den Nagel auf den Kopf. Grenzwertig genug, dass wir in abgesperrte, teilweise private Ruinen eindrangen und uns dort durch altes Material gruben – ohne Erlaubnis der Eigentümer. Aber dort dann auch noch Spuren zu hinterlassen ... das war tatsächlich nochmal ein Niveau höher.
„Na schön." Ohne große Theatralik steckte Louis seinen Stift weg. „Dann halt nicht. Weiter im Drehbuch."
„Welches Drehbuch?" Grummelnd wandte Liam sich ab. „Ich wünschte, wir hätten eines."
In mehr oder weniger friedlicher Stille folgten wir dem Verlauf des Gangs in eine Linkskurve, woraufhin wir den Bereich mit den Waschbecken hinter uns ließen – und um ein Haar wäre ich mit der Stirn voraus geradewegs gegen ein riesiges Schild gelaufen.
Liam keuchte dramatisch, offenbar rechnete er damit, dass das Schild nun Hauzähne ausfuhr und mich köpfte, während Louis lauthals lachte.
„Können wir das nochmal machen und filmen?" Sein Vorschlag klang ernstgemeint. „Videotitel: Niall Horan schlägt sich am Barfußbereich-Schild die Birne ein."
„Nur über meine Leiche."
„Och. Das ließe sich einrichten."
Liam schoss unterdessen eifrig ein paar Fotos von den beiden Metallketten, mit denen das Schild an der Decke befestigt war. Beziehungsweise befestigt sein sollte. Eine davon, die linke, war abgerissen und sorgte dafür, dass eine Hälfte des Schilds mittig in den Gang hing.
„Wirklich nicht?", hakte Louis herausfordernd nach. „Kann ich dir damit drohen, dass ich sonst einen Penis auf das Schild zeichne?"
„Was hast du heute nur mit deinen Penissen? Bist du auf Entzug?"
„Wer weiß."
„Ach." Ich spitzte die Ohren. „Sag bloß, du und Harry habt Zoff."
Das darauffolgende „Nein!" kam verdächtig schnell und verdächtig nicht-überzeugend.
Ich hütete mich, weiter nachzubohren. Erstens konnte ich später einfach Harry fragen, immerhin war der mein bester Freund, und zweitens lautete die Devise nach wie vor, hier keine Schlägerei zu verursachen.
Zum Glück gab Liam exakt in diesem Moment ein begeistertes „Uuuh!" von sich. Im nächsten Moment schob er uns kurzentschlossen zur Seite. „Geht mal weg da. Ich muss ein Bild vom Gang machen."
„Nur zu." In einem Anflug von Unwohlsein sah ich mich in der Umkleidekabine um, in die Liam mich verbannt hatte. Die Wände waren quietschgelb, die Sitzbank rissig und der Spiegel nicht mehr existent. Die Tür auf der anderen Seite, über die man offenbar vom gegenüberliegenden Gang aus eintreten konnte, hing schief in ihren Angeln. Von dem schwarzumrandeten, bazillenverseuchten Abfluss mittig im Fliesenboden der Kabine ganz zu schweigen. „Beeil dich. Ich habe das Gefühl, dass mir hier ein paar Poltergeister und der Medizin unbekannte Bakterien Gesellschaft leisten."
„Sag Cheeseburger."
„Hä?"
Natürlich hob ich exakt in der richtigen Sekunde den Kopf, in der Louis mit seinem Smartphone ein Foto von mir schoss. Und das tat er nicht wie ein normaler Zivilist durch die Tür. Stattdessen hing er über der Kabinenwand, in einer Hand sein Handy, während er mir mit der anderen den Mittelfinger zeigte, ein breites Grinsen im Gesicht.
Dieser Pisser.
„Du Pisser."
Er strahlte mich an. „Gleichfalls. Wunderschönes Foto. Vielleicht integriert Liam es in seine Kollektion."
„Sicher nicht", ließ Liam verlauten. „Deine Kartoffelkamera bringt keine Qualität." Und dann betätigte er genau dann den Auslöser, als ich mit dem mörderischsten Gesichtsausdruck des Jahrhunderts wieder auf den Gang trat. Er nickte beeindruckt. „Das integriere ich in die Kollektion. Aber könntest du deine Häufchenhaare vielleicht wieder blond färben? Auf Schwarzweiß-Abzügen sieht man das besser."
„Häufchenhaare?" Wieso erweckten meine beiden Kollegen heute so intensiv das Bedürfnis in mir, Tritte zu verteilen? „Tickst du noch ganz richtig? Das ist ein Quiff!"
„Ja, ja." Geistesabwesend studierte er das Display seiner Kamera. „Sehr cool. Die Fotos werden richtig gut. Habt ihr noch Ideen?"
„Ja." Ich wartete, bis beide mich erwartungsvoll ansehen. „Als nächstes machen wir eins mit Louis' Kopf in der Kloschüssel. Und er soll Cheeseburger darin gurgeln."
Liams „Nein, das ist eklig" überschnitt sich mit dem „Horan, du Psycho" von Louis.
Ganz offensichtlich wurde mein gänzlich ernstgemeinter Vorschlag einstimmig abgelehnt.
Schade.
Achselzuckend kehrte ich ihnen den Rücken zu. „Dann halt nicht."
Wir setzten unseren Weg fort, wobei wir immer wieder stichprobenartig Kabinentüren aufstießen und hineinspähten.
„Leute, wie krass", kam es irgendwann dumpf von Liam, der schon wieder irgendetwas fotografierte. „Da hat allen Ernstes jemand seine Jacke vergessen. Die hängt hier immer noch. Richtig creepy. Dreimal dürft ihr raten, welche Farbe sie hat."
„Pissgelb", schlug Louis vor, doch Liam ignorierte ihn. Oder vielleicht hörte er ihn auch gar nicht. Wenn er krasse Motive für seine Fotos entdeckte, schaltete seine restliche Sinneswahrnehmung für gewöhnlich komplett ab.
„Rot! Die Jacke ist rot!" Seine Stimme schlug in ein begeistertes Kieksen um. „Wenn ich das richtig bearbeite und den Rest der Kabine in Graustufen setze und die Jacke so lasse, wird das richtig schön!"
„Prima. Dann kanns du eine halbe Million dafür verlangen." Louis pilgerte schon weiter. „Da vorne kommen die Duschen. Die sind sicherlich spannender als die Umkleidekabinen."
„Absolut", stimmte ich zu, blieb jedoch noch kurz stehen, um auf Liam zu warten. Der arme Kerl würde die Panik des Todes schieben, wenn er herauskam und weder Louis noch mich sofort entdeckte. Der Lichteinfall durch den breiten Glasstreifen in der Decke wurde zunehmend schwächer, mit dem Resultat, dass die Dunkelheit langsam in alle Ritzen kroch. Nicht mehr lange, und wir mussten unsere Taschenlampen zücken. „Bei den Duschen gibt's bestimmt auch Kloschüsseln, Louis. Da steht dein Name drauf."
Louis zeigte mir den Mittelfinger, während er wartete, bis Liam und ich zu ihm aufgeschlossen hatten. Dann stieß er die Tür zu den Duschräumlichkeiten auf, zufälligerweise die zur Damendusche. Ein paar Meter weiter links befand sich noch eine, sicherlich die für Herren, doch keiner von uns scherte sich darum. Ich bezweifelte, jetzt noch irgendwelche Damen hier drin anzutreffen, die uns mit Klobürsten und Handtüchern vermöbelten, wenn wir mit Kameras ihren Bereich betraten.
Leider gab es nicht allzu viel zu sehen.
Zwar war der Raum an sich erstaunlich groß und die breite Säule in der Mitte, um die herum sich seltsam gemusterte Waschbecken befanden, bestimmt ein Alleinstellungsmerkmal, aber ansonsten ... nun ja. Ein überdimensionales Bad eben.
In den durch Mauern abgetrennten Duschkabinen waren keine Duschköpfe oder Wasserhähne mehr zu finden, dafür aber unzählige Graffitikunstwerke, manche sehr kreativ, andere eher hässlich und zum Teil auch obszön. Dass die Wandfliesen ursprünglich ein Muster aus grünen und blauen Farbverläufen dargestellt hatten, konnte ich nur noch mit Mühe feststellen.
Probehalber warf ich auch noch einen Blick durch die Tür mit der Aufschrift Toiletten, doch zu meiner Enttäuschung hatte sich irgendjemand einen Spaß daraus gemacht, die Kloschüssel zu demolieren. Ihre Einzelteile lagen kreuz und quer im Raum und gaben ein klägliches Bild ab. Umso kreativer erschien mir die Klobürste, die man in die Klopapierhalterung gesteckt hatte.
„Igitt." Liam, der ungeniert den Kopf über meine Schulter gestreckt hielt, rümpfte die Nase. „Wer würde eine Kloschüssel zerschlagen? Oder freiwillig die Klobürste anfassen? Die Menschheit ist verloren."
Louis schob sein Kinn über meine andere Schulter. „Sollen wir sie mitnehmen? Als Andenken?"
„Was? Die Kloschüssel?"
„Nein, die Bürste."
Ich verdrehte die Augen und nutzte dann beide Hände, um ihre Köpfe von meinen Schultern zu schieben. „Weg da. Ihr belästigt mich. Und nein, wir nehmen keine Klobürsten mit."
„Warum nicht?"
„Können wir bitte hier raus?" Liam hielt seine Kamera so verkrampft fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Die weit aufgerissenen Augen hielt er auf die nun stockdunklen Duschen gerichtet. „Wer weiß, was hier drin alles haust. Oder wer. Niall, hattest du nicht gesagt, dass in den Duschen mal jemand ausgerutscht und gestorben ist?"
„Stimmt." Ich überlegte kurz. „Aber das war in der Herrendusche. Sollen wir noch rüber und den Todesort anschauen?"
„Nein!", kreischte Liam, und räusperte sich peinlich berührt, als Louis und ich ihn anstarrten. „Ich meine, es gibt hier doch Todesorte wie Sand am Meer, richtig? Ich bin bei jedem dabei, aber bitte nicht in die blöde Dusche. Hier gibt es kein Fenster, durch das man zur Not fliehen kann, wenn die niemals zur Ruhe gekommenen Seelen auftauchen und uns töten."
„Meine Fresse, Payno!" Zur Abwechslung klang Louis ehrlich genervt. „Hör endlich auf damit. Ich kann es nicht mehr hören!"
„Ja, und ich kann dich nicht mehr sehen."
„Dann mach die Augen auf."
„Bringt nichts." Liam hüstelte in den Kragen seiner Jacke. „Man übersieht dich so leicht. Sorry."
„Was hast du gesagt?"
Ich beendete die Diskussion, indem ich beide durch die Tür stieß, die hoffentlich in den Schwimmbereich hinausführte, und zum Glück beschäftigte Louis sich sofort damit, begeistert Mund und Augen auf- und sein Handy hochzureißen.
„Woah!"
Ich konnte ihm nur zustimmen.
Vor uns erstreckte sich die riesige Halle des Spaß- und Aufenthaltsbereichs des Freizeitbades, dämmrig beleuchtet durch das letzte Tageslicht, das durch die einst majestätische, nun stark verdreckte Glaskuppel über unseren Köpfen drang. Wie erwartet waren die Becken leer, von all dem Dreck und Schrott mal abgesehen, der darin verteilt lag. Auch hier wurden die weißen Fliesen bis in die kleinste Ecke von Graffiti geziert, hier und da konnte ich Spuren von klassischem Vandalismus ausmachen, zusammen mit leeren Getränkedosen und Schnapsflaschen.
Langsam trat ich näher, nahm nur am Rande zur Kenntnis, wie Liam seine Kamera anhob und ein Video mit Rundumblick zu drehen begann. Louis hinter mir machte sich an einer umgefallenen Kunstpalme zu schaffen – alarmierend, denn wer wusste schon, was er jetzt damit tat, doch im Moment war mir das Schicksal der Palme egal.
Das Becken, durch höhere und niedrigere Mauern unterteilt in mehrere Bereiche, war riesig. Am auffälligsten war der riesige, rote Pilz mit den glitzernden, weißen Flecken, der in der Mitte stand und zu Betriebszeiten wohl für einen Rundumwasserfall gesorgt hatte. An den Rändern des Beckens befanden sich überwiegend Sitze, manche mit Massagedrüsen, andere mit Armstützen. Im Kinderbereich ganz links ragte eine niedrige, gelbe Rutsche empor, die von einem klaffenden Loch geziert wurde.
Kleine Bäume, Gras und andere Pflanzen wuchsen aus den Fliesenfugen empor, reckten sich gierig dem Licht entgegen. Irgendwo musste sich also ein Loch befinden, durch das die Samen der Pflanzen ins Innere des Gebäudes hatten dringen können – und durch das auch das nötige Wasser kam, um diese am Leben zu erhalten. Jetzt, wo ich genauer hinsah, konnte ich durchaus mehrere Wasserpfützen ausmachen, die sich in Bodenvertiefungen befanden, kränklich grün gefärbt und teilweise ebenfalls mit irgendwelchen Pflanzenablegern darin.
Der Nachhall der einstigen Schönheit war greifbar und ich kam nicht umhin, leichte Verbitterung über den Verfall zu verspüren. Die Atmosphäre dieses Orts war vereinnahmend. Unheilvoll und atemberaubend, aber vereinnahmend. Ein Hinweis darauf, dass nichts für die Ewigkeit gemacht war, ganz ungeachtet seiner Größe und der Schönheit.
„Hey." Suchend sah ich mich um und stieß Louis an. „Glaubst du mir jetzt, dass du deine Badesachen hier nicht brauchen kannst?"
Hochmütig reckte er das Kinn. „Ich habe noch nicht aufgegeben. Immerhin gibt es hier doch noch andere Becken, richtig? Schwimmerbecken, Springbecken, Wellenbad, der Außenbereich ... vielleicht hat der Regen den Wildwasserkanal wieder aufgefüllt?"
„Ja, vielleicht." Ich setzte mich in Bewegung, als ich bemerkte, dass Liams Kamerafokus gleich auf uns fallen würde. „Mit einer Extraportion Dreck und ekliger Kriechtiere."
Gemächlichen Schrittes begannen wir das Becken zu umrunden, wobei wir uns nur im Flüsterton unterhielten und dabei übertrieben so taten, als wären wir fasziniert von den unmöglichsten Dingen.
Wenn wir über die letzten Jahre etwas gelernt hatten, dann, dass natürliche Reaktionen für die Dramatik unserer Videos meistens nicht ausreichten und von den Zuschauern überhaupt nicht wahrgenommen wurden. Es mussten auffällige Kopfbewegungen sein, unübersehbare Fingerzeige und eine betont kräftige Wortwahl.
„Yo, Bro!", schrie Louis in diesem Moment. „Schau dir die Palme an!"
„Louis!" Pikiert schob ich ihn ein Stück von mir weg. „Was zur Hölle?"
Louis schien sich keiner Schuld bewusst zu sein. „Du sagst doch immer, dass wir übertrieben handeln sollen."
Liam hinter uns schnaubte leise. „Übertrieben heißt für dich Normalzustand."
„Und noch weniger heißt es Höhlenmensch." Ich verzog das Gesicht. „Dein Yo-Bro will niemand hören. Ebenso wenig Alter, Diggah oder Dude oder so."
Liams Glucksen machte mich darauf aufmerksam, dass er unsere gesamte Unterhaltung gefilmt hatte.
Pflichtbewusst pilgerten wir von einer Ecke zu nächsten, filmten ein paar gestellte Beinahe-Unfälle, gaben Fakten zum Besten und umrundeten schließlich auch den roten, schimmelbedeckten Pilz, wobei ich Louis davon abhalten musste, diesen anzulecken.
Auf der Restaurantgalerie fanden wir auf einem der Tische tatsächlich noch einen vergammelten Teller Pommes, von dem Liam eine Nahaufnahme machte, ebenso einen Abfalleimer, der nie ausgeleert worden war und nun lebte. Der Zugang zur Küche war leider verschlossen und ließ sich auch mithilfe eines zweckentfremdeten Regenschirms nicht aufbrechen.
Der Außenbereich war zwar gespenstisch, aber ansonsten auch nicht weiter aufregend. Zu Louis' tiefgehender Enttäuschung befand sich auch im Wildwasserkanal kein Wasser mehr, mal abgesehen von einigen Pfützen, die der Herbstregen dort hinterlassen hatte.
Die Liegewiese erstreckte sich laubbedeckt und verwuchert bis hin zur Hecke, der Kiosk wirkte, als hätte die Apokalypse darüber hinweggefegt. Mehrere Schnappschüsse entstanden von der Röhrenrutsche, die bedrohlich in den inzwischen fast schwarzen Himmel aufragte, während der verglaste Rutschturm dahinter das Licht des aufgehenden Vollmondes reflektierte.
„Wo waren wir denn noch nicht?", erkundigte sich Louis, nachdem wir uns wieder ins Innere begeben hatten und vorm verglasten Büro des Bademeisters zum Stehen kamen. „Niall, du hast doch sicherlich wieder einen Lageplan."
„Moment." Ich entsperrte mein Smartphone. „Ich habe etwas auf Google-Bilder gefunden und es einfach mal gespeichert. Ob das aber so ganz richtig ist, weiß ich nicht."
Meine Kollegen beugten sich vor, als ein schwarz-weißer Lageplan auf meinem Smartphone aufpoppte, sehr undeutlich und sehr unübersichtlich.
Neugierig tippte Louis etwas an und sorgte dafür, dass sich das Foto zu einem Pixelchaos vergrößerte. „Was ist das da?"
„Finger weg, du Opa." Ich schob seine Hand weg. „Das dürfte das Sportbecken sein. Schwimmer- und Springbecken in einem. Angeblich gab es sogar eine Kletterwand."
Liam verzog das Gesicht. „Ein einziges Becken für Schwimmer und Springer? Da wundert es mich nicht, dass Leute gestorben sind."
„Ich gehe davon aus, dass es feste Sprungzeiten gab, in denen nicht geschwommen wurde. Oder in denen der Schwimmerbereich verkleinert wurde oder so. Warst du noch nie in einem Schwimmbad?"
Liam schoss ein Bild von meinem sauren Gesicht mit dem Fliegenpilz im Hintergrund. „Wöchentlich, wenn du es genau wissen willst. Ich möchte fit bleiben. Fit wie ein Turnschuh."
Louis grinste ihn an. „Turnschuhe stinken."
Resolut steckte ich mein Smartphone weg. „Auf zum Sportbecken."
„Aber ist das denn wirklich so spannend?", beschwerte sich Liam , folgte uns jedoch eilig. „Können wir nicht noch in den Wellnessbereich? Gab es vielleicht eine Sauna? Eine Solegrotte?"
„An der Solegrotte sind wir doch schon vorbeigekommen", gab Louis zu bedenken. „Die war dicht. Vermutlich wegen Einsturzgefahr oder so."
Liam schmollte. „Ist hier drin nicht alles einsturzgefährdet?"
Absolut. Deshalb sind wir hier. Oder hast du etwa keine Todessehnsucht?"
„Welchen Teil von Ich-möchte-fit-bleiben hast du nicht verstanden?"
Die zwei zankten sich noch immer, als wir die Pforte zum Sportbereich passierten.
„Wow", urteilte Liam. „Kann sich bitte jemand von euch auf den Sprungturm stellen, damit ich ein Foto machen kann? Danke."
Ich starrte erst ihn, dann den Turm an, dessen höchste Stufe schätzungsweise mehrere Meter über dem Boden schwebte. „Sorry, aber nein. So lebensmüde bin nicht einmal ich."
„Du vielleicht nicht. Aber ich."
Nachdrücklich packte ich Louis am Arm, als dieser sich in Bewegung setzen wollte.
„Louis, nein." Warnend zog ich ihn zurück. „Das ist zu gefährlich. Das perfekte Foto ist es nicht wert, sein Leben aufs Spiel zu setzen."
Wie der Spaßbereich war die Sporthalle unfassbar groß, besaß zusätzlich zu den Becken weitläufige Zuschauertribünen. Natürlich hatte man auch hier das Wasser komplett abgelassen, sodass wir wundervolle Aussicht auf den nach und nach abgestuften Boden hatten – laut Beschreibung auf einer rissigen Infotafel an der Wand war das Becken bei den Sprungtürmen knapp vier Meter tief. Und nichts davon war abgesperrt. Sicherlich musste erst jemand hineinstürzen und sterben, bevor man sich dazu bequemen würde, das Gebäude – nein, das gesamte Gelände – ordentlich abzusichern.
„Leute." Louis' Begeisterung war besorgniserregend. „Seht euch diesen Bademeisterthron dort drüben an. Ich chill mich mal hin."
Liam folgte ihm mit der Kamera. Dazu ratterte er Fakten herunter, die er eben der Informationstafel entnommen hatte, und ich musste mich mächtig zusammenreißen, nicht zu seufzen, denn er sprach viel zu schnell und verhaspelte sich unnötig oft.
Ich wusste jetzt schon, dass ich einen Großteil seines Gelabers später selbst nochmal synchronisieren musste, wenn die Zuschauer etwas davon verstehen sollten.
Ich sah zur Decke empor, die zu einem Teil aus Fenstern, zum anderen aus Spiegeln bestand, und das Licht des Vollmondes sowie das unserer Taschenlampen zu einer einigermaßen akzeptablen Beleuchtung verschmelzen ließ.
Neugierig pilgerte ich weiter am Rand des Beckens entlang. Fünfzig Meter, laut Infotafel. Interessiert begutachtete ich die Kletterwand, die sich in einer sanften Biegung über das Becken wölbte. Es juckte mich in den Fingern, mich daran zu versuchen, doch die Aussicht auf einen Fall in das wasserlose Wasserbecken hielt mich davon ab.
Das Licht meiner Taschenlampe verfing sich in irgendeiner Glasscheibe, und als ich neugierig nähertrat, stellte ich fest, dass sich in der hintersten Ecke neben der Tribüne ein Schaufenster befand. Nein, kein Schaufenster, ein Sichtfenster. Ein weiteres Bademeisterbüro. Die Tür stand sperrangelweit offen und lud mich förmlich dazu ein, einen Blick hineinzuwerfen.
Ich wandte mich um, wollte meine Kollegen darauf aufmerksam machen, ließ es am Ende jedoch bleiben. Louis genoss seinen neuen Platz in vollen Zügen, während Liam, der sich hier offenbar einigermaßen sicher fühlte, auf eigene Faust durch die Gegend lief und Detailaufnahmen machte. Dabei stritten sie lautstark und vulgär.
Kopfschüttelnd schob ich mich im Alleingang in den Raum.
---------------------------
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top