~2~ Hoffnung aus Marmor
Das gemeinsame Abendessen blieb an diesem Abend aus. Jeder von uns versuchte auf seine Weise, mit den Ereignissen des Tages zurecht zu kommen. Dad zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und anhand der heftigen Geräusche, die in den nächsten Stunden zu hören waren, konnte ich nur vermuten, dass er seine Wut und Trauer in Chaos versenkte. Ich sah das Bild vor meinem inneren Auge, dass sich mir morgen bieten würde. Rechnungen, Verträge, einzelne Ordner und lose Blätter auf dem Boden verstreut, umgekippte Blumentöpfe und aus den Schränken gerissene Bücher.
Mum zuckte bei jedem weiteren krachenden Laut im Nebenzimmer unwillkürlich zusammen. Sie hatte sich in eine weiße Wolldecke gewickelt und zitterte am ganzen Leib, als herrschte draußen ein immer währender Wintersturm. In den Händen hielt sie eine dampfende Teetasse, deren Flüssigkeit schon ein paar Mal verdächtig nahe an den Rand geschwappt war.
Ich leistete Mum in den ersten Minuten eine Weile Gesellschaft bis ihre Tränen einigermaßen getrocknet waren. Dann erhob sie mit zitternder Stimme das Wort.
„Ich rufe morgen an deiner Schule an, dass du in den nächsten Tagen nicht zum Unterricht erscheinen wirst. Wir wissen alle noch nicht so recht, wie wir mit dieser Situation umgehen sollen und wenn der Schreck sich endlich verflüchtigt hat, kannst du dich wieder in Ruhe auf die Schule konzentrieren, einverstanden?"
Sie schenkte mir ein flüchtiges, warmes Lächeln, um ihre Aussage einigermaßen glaubwürdig erscheinen zu lassen. Doch ich wusste es besser. Der Schreck würde noch ewig anhalten. Er würde die Sorgen und den Schmerz hervorrufen, den wir mühevoll zu verdrängen versuchten und uns davon abhalten unser Leben zu leben, so wie wir es noch vor wenigen Tagen getan hatten.
Dennoch nickte ich nur seufzend und verließ leise das Wohnzimmer.
Am nächsten Morgen schien kein Tageslicht in mein Zimmer. Es war dunkel, wie eine Nacht ohne Sterne. Meine digitale Uhr zeigte in leuchtend grünen Ziffern die Zeit 6:53 Uhr. Man könnte meinen, dass niemand so früh am Morgen richtig denken kann. Aber ich erinnerte mich an jedes Detail des gestrigen Tages.
Schlaftrunken setzte ich mich auf, lehnte mich mit dem Rücken an die Bettkante und bettete meinen dröhnenden Kopf auf die angewinkelten Knie. Die nackten Füße begannen wie von selbst in einem nie enden wollenden Takt auf und ab zu wippen. Irgendwie wirkte es beruhigend auf mich und half mir, die Schmerzen und Trauergedanken für einen Moment aus meinem Kopf zu verbannen.
Ich spürte meinen gleichmäßigen, warmen Atem an meinem Knie und gleichzeitig die Kälte, die sich in meinem Zimmer ausgebreitet hatte, als hätte das Zimmerfenster die ganze Nacht lang offen gestanden.
Nach wenigen Minuten Stille schwang ich meine Beine über die Bettkante. Lustlos baumelten sie herab, schwebten knapp über dem weichen Teppich, der einige Male die nackten Zehen streifte. Müde zwang ich meinen Körper zur Bewegung, sodass das Bett knarzte, als ich mich endlich hoch stemmte.
Ich wollte nicht an der Trauer zerbrechen, die mich wie ein tonnenschweres Gewicht zu Boden drückte und ich durfte es nicht. Jenna hätte gewollt, dass ich mein Leben fort fuhr, dass ich so lebte, als wäre nie etwas vorgefallen und sie trotzdem in meinem Herzen behielt. Und auch, wenn es schwer war, den Kummer zu ertragen, so würde ich mich nicht ein ganzes Leben lang unter der Trauer begraben, die sich angehäuft hatte.
Entschlossen schritt ich auf den Lichtschalter zu und knipste ihn an. Meine Augen brauchten nicht lange, bis sie sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten. Erschöpft riss ich die Tür meines Kleiderschranks auf, streifte mir einen grauen Pulli über und schlüpfte in eine bequeme Jeans und ein weiches Paar Wollsocken. Anschließend betrachtete ich mein Spiegelbild, das dem von Jenna so sehr ähnelte, dass ein Fremder denken könnte, wir wären Zwillinge. Bei diesem Gedanken musste ich unwillkürlich lächeln.
Ich verließ das Zimmer und stieg die Treppen hinunter ins Erdgeschoss. Unten war es ruhig und ich musste meine Eltern nicht einmal suchen, um zu wissen, dass sie das Haus verlassen hatten. In Anbetracht dieser Situation konnte ich wohl eindeutig davon ausgehen, dass sie entweder früh zu Jordan gefahren waren, um Jennas Sachen abzuholen oder ein Bestattungsinstitut aufsuchten. Der Gedanke an eine kommende Beerdigung jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Erst einmal hatte ich eine solche Trauerzeremonie erlebt, nachdem meine Großmutter vor vier Jahren in ihrem Lieblingssessel eingeschlafen, aber nie wieder aufgewacht war. Damals hatte ich mitten in die verzweifelten Gesichter ihrer Freunde, ihres Mannes und einem weiteren Teil ihrer Angehörigen blicken müssen und in ihren trüben Augen hatte der gleiche, unertragbare Schmerz gelegen, wie heute in meinen.
Mein Blick glitt in den dunklen Flur, an dessen weißen Wänden alte Familienfotos hingen, zum Teil noch aus der Zeit, in der Jenna hier gewohnt hatte. Ich erkannte mein Lieblingsbild ganz rechts in der oberen Ecke. Darauf saßen Jenna und ich auf den knallroten Schaukeln in unserem Hintergarten nebeneinander, die Hände brav in den Schoß gelegt, die glänzenden Augen stolz auf die Kamera gerichtet. Das fröhliche Lächeln meines siebenjährigen Ichs kam mir seltsam fremd vor, als würde es nicht mir, sondern einer völlig Unbekannten gehören. Dieser Anblick versetzte mir einen Stich ins Herz. Diese Bilder weckten alte Erinnerungen in mir, Erinnerungen, die mich immer wieder einholen würden und mich zwangen, diese Situation so zu sehen, wie sie nun einmal war. Ich sollte nicht an der Vergangenheit festhalten, um vor der Zukunft zu fliehen, denn genau das hatte ich getan und ich würde irgendwann erkennen, dass ich Jenna loslassen musste. Es war nur eine Frage der Zeit.
Eben diese Zeit schien in den nächsten Tagen komplett still zustehen. Als würde das Ticken der Uhr ihre Anwesenheit ankündigen und gleichzeitig die Zeiger an Ort und Stelle halten. Ich merkte noch nicht einmal, wie ein Tag vorüber ging, wie die dunkle Nacht ihre gierigen Finger nach dem letzten Tageslicht ausstreckte, um es anschließend in sich aufzunehmen und zu verschlingen. Das einzige Merkmal, an dem ich stets erkannte, wie viel Zeit vergangen war, zeigte den regenfeuchten Kirschbaum, dessen Blätter Stunde für Stunde gemächlich zu Boden segelten und dessen Zweige sich beinahe bettelnd dem wolkenverhangenen, düsteren Himmel entgegenstreckten. Ich beobachtete das Vorgehen jeden Morgen durch die dicken Glasscheiben des Wohnzimmers ohne mit der Wimper zu zucken. In diesen Momenten fühlte ich mich so allein gelassen wie noch nie.
Dad konnte seine Arbeit als Koch nicht absagen, erzählte jedoch, dass erst die Arbeit ihn dazu veranlasste, das Geschehene zu vergessen. Nichtstun würde ihm auf Dauer den Verstand rauben, behauptete er.
Und Mum hockte den ganzen Tag im Bett herum und vertrieb sich die Zeit vermeintlich mit einem Buch, obwohl ich ganz genau wusste, dass sie eher über den bedruckten Seiten einschlafen würde, als ihrem Gehirn den Befehl zu geben, sich auf die Handlung der Geschichte einzulassen. Ihre Augenringe zeugten von akutem Schlafmangel und die sonst ordentlich gekämmten Haare fielen ihr zerzaust und strähnig über die Schultern. Nicht selten hatte ich das Gefühl, das dies mit den geheimnisvollen Tabletten zu tun haben könnte, die sie einmal hinter ihrem Rücken vor meinen wachsamen Augen zu verstecken versucht hatte. Mir war sofort klar, dass Dad diese unbekannten Tabletten nicht gutheißen würde, weshalb ich ihm den Vorfall absichtlich verschwieg und mich selbst um diese Angelegenheit gekümmert hatte. Ich kannte Mums Geheimfächer in und auswendig und musste gar nicht lange suchen, bis ich die Pillen hinter ihrem Lieblingsgemälde über dem Bett fand. Sie landeten noch am selben Tag in der Mülltonne neben dem Haus, wo sich der Müll bereits zu Türmen aufstapelte.
An keinem Wochenende hatte ich sooft geschwiegen, wie an diesem. Claire versuchte bereits einige Male mich zu erreichen. Per SMS, über WhatsApp und Anrufe, zum Schluss über den Anrufbeantworter, doch ich wollte einfach mit niemandem reden oder von irgendjemandem um meine Schwester bemitleidet werden und dadurch wurde die Einsamkeit zu meinem besten Freund.
Der Termin für die Beerdigung wurde für kommenden Donnerstag angesetzt, exakt eine Woche nach Jennas Tod, wie mir auffiel. Die Trauerzeremonie sollte auf dem nahe gelegenen Ostfriedhof stattfinden, auf dem in letzter Zeit fast nie neue Gräber angelegt wurden, weshalb die meisten dort sicher schon seit Ewigkeiten existierten. Es war ein relativ alter Friedhof am Rande der Stadt, keine zwei Kilometer von unserem Haus entfernt. Er lag so abgelegen, dass niemand von ihm Notiz nahm, geschweige denn auf die Idee kam, einen Angehörigen dort zu beerdigen. Aus diesem Grund konnte ich mir auch nicht vorstellen, was meine Eltern dazu geritten hatte, Jenna ausgerechnet dort begraben zu lassen. Sie verdiente etwas Besseres, als diesen dreckigen, abgelegenen Ort. Sie verdiente einen Platz als leuchtenden Stern am Firmament.
Am Mittwochnachmittag vor der Beerdigung hatte Mum die Pillen längst vergessen und begann wieder ihren mütterlichen Pflichten nachzugehen. Als ich nach dem Haare waschen mein Zimmer betrat, erwartete sie mich mit einem gezwungenen Lächeln und hielt mir stolz zwei schlichte, schwarze Kleider entgegen. Beim Anblick dieser Stofffetzen verrutschte der schiefe Handtuchturban auf meinem Kopf bereits von selbst.
„ Ich habe in deinem Kleiderschrank nicht ein einziges, zur Veranstaltung passendes, schwarzes Kleid gefunden, Lavinia. Nicht einmal das, welches du damals zur Beerdigung von Oma Trudy getragen hast", regte sie sich auf, als sie meine hochgezogene Augenbraue bemerkte. Ich hätte in diesem Moment am liebsten mit den Schultern gezuckt, weil es mich nicht im geringsten interessierte, was ich bei der Trauerzeremonie trug, solange es keins dieser kratzigen Kleiderstücke war. Nicht einmal im Traum würde ich mich dazu überreden lassen, diese Stoffteile als Kleider zu bezeichnen.
Mum seufzte, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Ich bin gestern Mittag zu Gabriella gefahren. Deine Cousine Lynn besaß zufällig noch zwei Kleider, die ihr zu klein geworden sind. Sie müssten ungefähr in deiner Größe sein und deswegen dachte ich, du könntest sie eventuell einmal anprobieren, auch wenn sie vielleicht nicht besonders bequem auf dich wirken. Ich lasse dir auch die Entscheidung, welches du am Ende anziehst", versprach Mum und legte die beiden Kleidungsstücke vorsichtig auf meinem Bett ab.
„Wie großzügig", erwiderte ich genervt und ließ meinen Blick über die beiden Kleider gleiten. Bei der Vorstellung, wie ich eines dieser Kleider trug, umklammerte ich das Handtuch, das ich mir eng um den Körper geschlungen hatte, fester und setzte mich direkt neben ihnen auf's Bett. Keine leichte Entscheidung, sich zwischen Hässlich und noch Hässlicher zu entscheiden. Tatsächlich wirkten beide Stofffetzen so, als wäre nicht Jenna, sondern ich gestorben. Doch offensichtlich hatte ich keine andere Wahl.
Mum ignorierte meinen Kommentar und wandte sich zögerlich zum Gehen.
„Pass bitte darauf auf, dass der Stoff nicht knittert. Das rechte Kleid ist oben ziemlich dünn." Mit diesen Worten verließ meine Mutter den Raum und schloss hinter sich leise die Zimmertür. Augenrollend beugte ich mich über die Kleider. Das Erste lief bis zur Taille eng zu und besaß lange, schlichte Ärmel, die sicherlich knapp bis über den Handrücken reichten. Der Rock breitete sich unten fächerartig aus und endete in einer aufgerissenen Naht, was meine Mutter wohl gar nicht zu kümmern schien. Das zweite Kleid hatte einen spitzen V-Ausschnitt, der für meinen Geschmack etwas zu lang aussah und wurde an der Taille von einem braunen, dünnen Ledergürtel zusammengehalten, damit der Träger nicht mit einem Sack verglichen werden konnte. Hier bestand der Rock aus Unmengen an Tüll, der sich zu allen Seiten aufbauschte und vermutlich bis über die Knie ging. Mit Mode kannte ich mich zwar noch schlechter aus, als mit Technik, dennoch konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie dieses Kleid in einem Laden gelandet war. Ich weigerte mich, auch nur eines dieser Stoffteile anzuprobieren. Ich war vielleicht nicht unbedingt ein Trendsetter, aber ich würde auch nicht völlig würdelos auf Jennas Beerdigung aufkreuzen. Mein Outfit sollte etwas mehr nach ihr aussehen und dies war der Zeitpunkt, in dem mir endlich die rettende Idee kam.
Mum würde darüber sicherlich nicht begeistert sein, soviel stand fest. Doch sie konnte nicht von mir erwarten, dass ich mich so in der Öffentlichkeit blicken ließ. Zumal ich Lynns Modegeschmack noch nie mit ihr teilen konnte.
Zu Jennas Habseligkeiten, die Mum und Dad allesamt nach unten in den Kellder verfrachtet hatten, gehörte unter anderem auch allerhand Kleidung, sodass in mir fast das Gefühl aufkam, in einem Modeladen zu stehen, in dem die Bezahlung nicht mehr und nicht weniger meine Mühe in Anspruch nahm. Jeder ihrer Pappkartons, die sie damals für den Umzug verwendet hatte, war fein säuberlich in ihrer Handschrift beschriftet und kennzeichnete einen Oberbegriff, um jeden enthaltenen Gegenstand eines Kartons ihrer korrekten Gruppe zuzufügen.
So war es ein leichtes für mich, die Kiste mit den Kleidungsstücken unter allen anderen herauszufinden. Ich öffnete den Karton und augenblicklich blickte mir ein bunt gemischter Haufen ihrer Kleidungsstücke entgegen. Darunter konnte ich selbst meinen verloren gegangenen Jeansrock ausmachen, der mir vor fünf Jahren noch so viel bedeutet hatte.
Ihre Kleider ließen sich ganz am Boden des enormen Pappkartons finden. Selbst das feuerrote Federkleid, das sie damals zum Abiball getragen hatte, war noch in ihrem Besitz gewesen und ich konnte mich nicht daran erinnern, es je wieder irgendwo gesehen zu haben. Bis zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls.
Beinahe den gesamten Inhalt des Pakets musste ich ausräumen, um jenes Kleid zu finden, nach dem ich mich die ganze Zeit gesehnt hatte. Das Kleid aus dem dünnen Stoff, der sich beinahe wie Nebel durch die Finger gleiten lässt. Oben wurde es von dicken pechschwarzen Trägern auf den Schultern gehalten und lief einfach geschnitten bis zur Taille, um sich dann locker nach unten auszubreiteten, sodass der knielange Rock im Gehen wie ein leichter Schleier um die Beine wirbelte. Jenna trug dieses Kleid zu Grannys Beerdigung und wie ich es so auf meinem Schoß ausgebreitet sah, wurde mir in Gedanken klar, dass Jenna, wo immer sie in diesem Moment auch sein mochte, durch meine Sturheit gar nicht anders konnte, als ihr Lächeln wenigstens noch einmal zurückzugewinnen. Ein letztes Mal.
Der fünfminütige Marsch zum Friedhof gestaltete sich als ziemlich schweigsam. Mum und Dad gingen mit voneinander abgeneigten Gesichtern voraus, während ich und Grandpa das Schlusslicht bildeten. Gabriella hatte ihn vorzeitig aus dem Altenheim abgeholt und versprochen, rechtzeitig zur Zeremonie anwesend zu sein. Auch sie hatte Jennas Tod in gewisser Weise getroffen und bevorzugte ein wenig Zeit, um sich zum wiederholten Male für dieses Ereignis aufzubauen. Von Lynn hatte ich bisher wenig gehört, aber davon war ich auch nicht allzu überrascht, da sie sowieso nie das Bedürfnis zeigte, sich in irgendeiner Art zu äußern.
Jennas Kleid schmiegte sich tröstend an meinen Körper und gab mir seltsamerweise das Gefühl von Sicherheit unter dem schwarzen Wintermantel, den ich irgendwo in der hintersten Ecke meines Kleiderschrankes aufgetrieben hatte. Der Mantel ersparte mir glücklicherweise die Rede, die ich Mum gehalten hätte, wenn sie mit ihrer Wie-kannst-du-es-wagen-Predigt ausgepackt hätte. So würde sie bis zur Enthüllung in der Friedhofskapelle warten müssen.
Meine Haare hatte ich außerdem zu einem strengen Dutt zusammengebunden, damit sie mir während der Zeremonie nicht ins Gesicht fielen und mir die Sicht verdeckten. Konzentriert blickte ich voraus und ging immer weiter, obwohl sich mein Körper dagegen währte, auch nur einen weiteren Schritt meinem Schicksal entgegenzutreten. Plötzlich wandte sich Granpa zu mir um.
„Kind, dir sollte kalt sein. Dein Mantel wird dir sicher Wärme für deinen Oberkörper spenden, sicherlich aber nicht für deine nackten Beine. Es ist Ende Oktober", wies er mich mit gebrechlicher Stimme zurecht und verschnaufte kurz, um sich auf seinen Gehstock zu stützen. Meine Eltern schienen unseren Halt nicht wahrzunehmen und gingen mit gesenkten Köpfen Hand in Hand auf das Ende der Straße zu. Ich hielt sie nicht auf, sondern berührte sanft Granpas freie Hand, um sie behutsam in meine zu legen.
„Ich hätte mit drei dicken Pullovern und Skihose vor die Tür treten können und selbst dies hätte die Kälte nicht zurückdrängen können", meinte ich und richtete meinen Blick starr geradeaus ohne mit der Wimper zu zucken, gefühllos. Doch Granpa war es nicht. Seine von Falten durchzogenen Finger verschränkten sich mit meinen und sein Kopf wandte sich zu mir um.
„Du glaubst, dass der Platz, den Jenna in deinem Herzen eingenommen hat, nur die Leere wiederspiegelt, die du in dir fühlst, aber dort sollte keine Leere sein. Du weißt, dass sie immer noch da ist, genau an der Stelle, die schon immer ihr gehört hat."
Bei seinen Worten erkannte ich, wie recht er damit hatte und trotzdem konnte ich nicht nachvollziehen, wie er nach all dem Chaos die Ruhe selbst bleiben konnte. Vielleicht lag es daran, dass er die Erfahrung mit dem Tod schon einmal hatte durchziehen müssen, als Grandma an einem Herzinfarkt gestorben war.
Seine Ruhe schien durch seine tröstende Berührung auf mich überzugehen und hinterließ ein leichtes Kribbeln in meiner offenen Handfläche.
Ich zog es vor, nichts zu erwidern und führte ihn über den schmalen Kiesweg zum Friedhofstor. Wie zur Begrüßung stand es offen, nur dass es nicht wirklich einladend auf mich wirkte. Wir passierten den kurzen Weg unter den gewaltigen Baumkronen der knorrigen, alten Eichen hindurch, deren massige Stämme uns zu beiden Seiten von den ersten Gräbern abtrennten. Mein Blick ruhte auf dem steinernen Gemäuer der alten Kapelle, die an der Westseite von langem, dicken Efeu bewachsen war und einen langen Schatten auf die wartende Gemeinschaft vor dem Eingang in den Kirchensaal warf.
Genervt wich ich den ersten Blicken aus, die sich auf Grandpa und mich gerichtet hatten, doch als wir vor den versammelten Verwandten zum Stehen kamen, war ich gezwungen, in ihre bleichen und zugleich mitleidigen Gesichter zu blicken. Grandpa begann, die Anwesenden mit einem Kopfnicken zu grüßen und gesellte sich zu meinen Eltern, die in gewisser Weise ebenfalls die Ruhe selbst zu sein schienen. Nur Grandpa und mich konnten die beiden nicht täuschen. Ich wusste selbst, wie sehr es die beiden mitnahm und auch, wie viel Überwindung es sie kostete, dies zuzugeben. Mum schenkte jedem ein freundliches Lächeln, doch ich musste nicht einmal hinsehen, um zu wissen, dass es aufgesetzt und unecht wirkte. Dafür kannte ich sie viel zu gut.
Einen kurzem Moment lang war ich irritiert, dass ich auf einmal allein außerhalb unserer bescheidenen Gruppe stand und noch nicht einmal den Anstand besaß, die Verwandtschaft in irgendeiner Art zu grüßen, aber ich hatte kein großes Interesse an irgendeinem sinnlosen Gespräch über meine Gefühle. Ich wollte schweigen, ich wollte allein sein und ich wollte Hoffnung. Doch diese würde mir heute wohl niemand geben können.
Mit zusammengepressten Lippen wandte ich mich von der Menge ab und entschied mich, eine Runde um die kleine Kapelle zu laufen. Meine Augen lagen auf dem Boden, denn ich spürte plötzlich kein Verlangen, irgendetwas anderes zu sehen, als den Weg. Und meine Schritte auf ihm.
Eine halbe Runde war ich gegangen, als ich, ohne zu wissen weshalb, stehen blieb. Verwirrt hob ich den Kopf und blickte geradewegs in ein in Stein gemeißeltes Gesicht. Ein Gesicht wie von Götterhand geformt und einen schlanken Körper, der von geschmeidigen, weißen Flügeln umhüllt wurde. Vor mir stand eine Engelsstatue, gefertigt aus Marmor, der keinerlei Dreckspuren aufzuweisen hatte. Nicht einmal am Sockel, als wäre der Engel erst vor wenigen Minuten an seinen Platz gestellt worden.
Teils überrascht, teils neugierig umrundete ich die Statue und ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Ich wusste nicht, wieso mich ihr Anblick so fesselte, warum ich meinen Blick einfach nicht von ihr lösen konnte.
Die Augen des Engels strahlten Wärme und zugleich Hoffnung aus, als wollten sie mir Kraft für das noch Kommende schenken und versuchten, tief in mein Innerstes zu blicken. Ich gewährte ihnen Einlass und irgendwie vertrieb dies für einen Moment all meinen Kummer und meine Sorgen, die sich in den letzten Tagen fest in mir verankert hatten. Ich schloss die Augen und fühlte, wie mein Körper von einem Schwall Wärme ergriffen wurde, den ich so schnell wie möglich in mich aufsog, damit er mir ja nicht durch die Finger rinnen konnte. Ein sanftes Kribbeln glitt über meinen Körper. Es schien fast, als hätte der bloße Blick des Engels tatsächlich Wunder gewirkt.
Schließlich ließ ich zögerlich von der Statue ab, ohne wirklich zu wissen, wie lange ich vor ihr verharrt hatte. Sicherlich mussten bereits ein paar Minuten vergangen sein.
Entschlossen entschied ich, mich meinen Ängsten zu stellen und lief zurück zum Eingang der Friedhofskapelle. Viele Gäste hatten sich bereits im kühlen Innenraum niedergelassen, denn als ich ihn erreichte, wartete nur Grandpa auf mich und als ich mich ihm näherte, bot er mir mit einem zaghaften Lächeln seine freie Hand an. Ich ergriff sie, ohne einen Kommentar.
Im Innenraum der Kapelle waren noch viele Bänke frei, aber ich sollte natürlich mit Mum, Dad und Grandpa in der ersten Reihe sitzen, ebenso wie Dads Eltern.
Ich spürte die Blicke der Anwesenden auf mir, wie Messerstiche bohrten sie sich in mich. Dass es mir höchst unangenehm war, schien Grandpa offensichtlich zu merken. Er drückte meine Hand ein bisschen fester.
„Lass sie nicht an dich ran, wenn du es nicht willst", meinte er aufmunternd und schenkte den rechten Bankreihen ein liebevolles Lächeln. Ich biss mir auf die Unterlippe, befolgte jedoch seinen Rat und es fühlte sich fast an, als wäre durch diese Worte eine Last von mir gefallen.
Wir erreichten die letzten Kirchenbänke und ließen uns ohne große Umschweife auf ihnen nieder. Ich wagte es nicht einmal in die kreideweißen Gesichter neben mir zu blicken, aus Angst, dass all der Kummer und die Sorgen zurückkehren und von mir Besitz ergreifen könnten.
Als die Zeremonie begann, wusste ich nicht, ob ich tatsächlich stark genug wäre, all die bedauernden Worte des Priesters zu ertragen. Aus diesem Grund legte ich meinen Kopf in den Nacken und begutachtete die gewölbte Decke, die mit einigen christlichen Malereien versehen war und unter anderem Jesus mit einem Heiligenschein darstellte. Dies hatte den Vorteil, dass ich diesem ahnungslosen Unbekannten, der nur aus dem Grund seiner Arbeit anwesend war, nicht meine Aufmerksamkeit widmen musste. Doch ich senkte den Blick wieder, als ein einziger, winziger Sonnenstrahl träge durch die riesigen Buntglasfenster fiel und musste unwillkürlich blinzeln, als ich erkannte, dass sich das willkommene Licht in dem winzigen Kreuzanhänger meines Armbandes spiegelte. Als wollte mir das Licht sein Bedauern aussprechen und ein Zeichen der Hoffnung vermitteln. Lächelnd wandte ich den Blick ab.
"Im Schweiße deines Angesichts sollst du dieses Brot verspeisen, bis dass du erneut zu Erde werdest, davon du genommen bist. Du bist die Erde und wirst dich ihrer annehmen", sprach der Priester mit kräftiger Stimme.
Kurz sah ich über meine Schulter und bemerkte, dass alle Anwesenden wie gebannt an den Lippen des Priester hingen, um seine trostspendenden Worte in sich aufzunehmen. Für mich waren sie nicht trostspendend. Und sofort wurde mein Lächeln von Verständnislosigkeit getrübt.
Für den Rest der Zeremonie starrte ich schweigend zu den riesigen Buntglasfenstern hinauf, wohl eher durch sie hindurch zu dem schwachen Licht am wolkenbedeckten Himmel. Dadurch nahm ich von der Veranstaltung keine große Notiz. Es war mir nur Recht so.
Am Ende jedoch wurde meine Aufmerksamkeit erwünscht. Den Familienmitgliedern war es nun erlaubt, sich von der Verstorbenen zu verabschieden. Dad trat selbstverständlich als Erster neben den Sarg. Jeder Abschied von Jenna sollte eine Minute in Anspruch nehmen. Dad aber benötigte für seinen Abschied nicht einmal eine Minute. Ich merkte, wie seine Lippen bebten, als er sich neben den Sarg hockte und seine flache Hand auf das Holz legte. Am ganzen Leib zitterte er, wie ich es vorher bei ihm noch nie gesehen hatte und dann ließ er von Jennas Sarg ab und verließ mit auffallend schnellen Schritten den Saal. Mein besorgter Blick folgte ihm bis zum Ausgang, bis ich ihn verlor. Unwillkürlich musste ich schlucken. Dad zeigte den Anwesenden nicht, dass ihn diese Situation an den Rand der Verzweiflung brachte, aber das sollte er. Denn jeder in diesem Saal hätte seine Trauer nachvollziehen können und aus diesem Grund war es nicht nötig, an einem verheerenden Tag wie diesem stark zu sein.
Mum sollte die Nächste sein. Ihr betrübter Blick ruhte auf dem Sarg, als sie sich erhob und sich ihm langsam näherte. In ihren Augen standen sowohl Trauer, als auch Besorgnis und aufrichtiges Bedauern. Auch sie presste beide Hände an das Holz und verharrte an Ort und Stelle mit geschlossenen Augen. Ich konnte sehen, wie sie innerlich einen Kampf mit sich ausfocht, den sie nicht gewinnen würde.
Der Mann, der die Zeremonie abhielt, legte ihr nach der vorgegebenen Zeit beruhigend eine Hand auf die Schulter, als Zeichen, dass Mums Zeit vorüber war. Nach dieser Geste ließ Mum Jenna gehen. Auf ewig.
Nervös strich ich mir eine lose Strähne hinters Ohr, die sich aus meinem Dutt gelöst hatte. Nun war ich an der Reihe und mit einem beschämten Blick zu Grandpa ließ ich den Wintermantel, der mich vor der Kälte geschützt hatte, vorsichtig von meinen Schultern gleiten.
Ich merkte, wie Grandpas Augen die Größe von Untertellern annahmen. Dennoch schwieg er und nickte mir auffordernd zu.
Ich holte tief Luft und bestieg die Stufen zu Jenna langsamer als meine Vorgänger, darauf bedacht, ja kein Geräusch auf dem glatten Boden zu hinterlassen. Ich spürte die Blicke der Verwandten auf mir ruhen und sah kurz über meine linke Schulter zu einigen Trauernden. In der mittleren Reihe entdeckte ich Lynn und Gabriella, ganz vorne meine Großeltern, väterlicherseits. Blitzschnell schoss mein Kopf nach vorn. Ihre Angst ging beinahe auf mich über. Vielleicht hatte sie das auch schon längst. Ich wusste es nicht.
Vorsichtig setzte ich meinen Weg zu Jennas Sarg fort und kniete mich, wie Mum zuvor, direkt neben ihn. Mein Herz hämmerte so stark gegen die Brust, dass ich glaubte, es müsse jeden Moment zerspringen. Von jetzt an hatte ich eine Minute Zeit, um mich von Jenna zu verabschieden. Die Blicke aller hier Anwesenden bohrten sich in meinen Rücken und obgleich ich versuchte, sie zu ignorieren, es wäre weitaus besser gewesen, hätte ich die Haare für diese Veranstaltung offen getragen. So könnte ich mich hinter ihnen verstecken und ihre neugierigen Blicke an mir abperlen lassen, jetzt wo ich seitlich zu ihnen neben dem Sarg stand. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich.
Mir gingen einige Momente durch den Kopf, die ich mit ihr zusammen durchlebt hatte, doch sie verschwanden so schnell, wie sie kamen, ohne dass ich einen von ihnen festhalten konnte.
Meine Augen fixierten den Deckel des Sargs. Nein, ich wollte und durfte sie nicht sehen. Ich wollte sie nicht so in Erinnerung behalten. Leblos. Sie sollte mir als fröhlicher, leidenschaftlicher und liebevoller Mensch in Erinnerung bleiben und immer einen Platz in meinem Herzen erhalten, weil sie ihn sich mehr als jeder andere verdient hatte. Sowie meinen vollen Respekt und meine Liebe als kleine Schwester. Denn sie war das Licht. Das Licht, das meine Dunkelheit erhellte und mir Trost spendete. Jederzeit.
Vorsichtig streckte ich meine zitternde Hand nach dem Sarg aus, doch die Furcht, wieder Kälte zu spüren, ließ mich zurückschrecken.
Viel zu schnell löste ich meinen Blick von dem schwarzen Holzkasten. Ich konnte sie nicht fühlen, nur die Kälte, die mich wie meine Furcht von innen heraus auffraß. Mein Atem beschleunigte sich. Ich musste hier raus. Und zwar sofort. Und dann rannte ich. Direkt auf das Licht zu, das mich am Ausgang erwartete, aber nicht wirklich da sein würde.
Ein paar Mal knickte ich in den hohen Schuhen um, doch ich realisierte es erst draußen, als Dads starke Arme versuchten, mich an der Flucht zu hindern. An der Flucht vor der Wirklichkeit.
Knapp entwischte ich ihnen und vernahm gerade noch Mums verärgerten Aufschrei, als sie mein Kleid begutachtete.
„Darüber reden wir noch", rief sie mir aufgebracht nach. Doch ich ignorierte sie gekonnt,während ich verzweifelt den Weg zur Statue des Engels einschlug, der mich mit ausgebreiteten Armen empfing. Dort angekommen hielt ich inne, sank auf dem Marmorsockel zusammen und riss mir die Schuhe von den Füßen. Voller Zorn schleuderte ich sie gegen eine nahe gelegene Buche, gänzlich blind vor Zorn. Ich durfte nicht zulassen, dass die Wut von mir Besitz ergriff. Aber das hatte ich bereits.
Konzentriert versuchte ich, die Tränen zurückzuhalten und stützte meinen Kopf auf den Händen ab. So eine Erfahrung wollte ich nie wieder durchstehen müssen. Aber ich würde nie wissen können, was das Schicksal noch für mich bereit hielt.
Ich schloss die Augen und kniff sie fest zusammen. Warum war Jenna tot? Das konnte kein Zufall sein, es musste einen Grund für ihren Tod geben. Ich wäre schon zu Frieden, wenn ich einen hätte. Vollkommen egal, ob er sich als wahr oder falsch herausstellen würde.
Und dies war der Zeitpunkt, an dem ich mir schwor, diesen Grund herauszufinden. Was auch immer ich dafür geben musste, ich war bereit es zu tun.
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