~1~ Todesopfer

Jede Geschichte hat einen Anfang. Die meisten beginnen mit dem ersten Lachen eines Kindes. Doch oft liegt es an uns, wie wir den späteren Verlauf dieser Geschichte gestalten. Ob wir unser Leben dem Schicksal überlassen oder unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen, um irgendwann einmal dort zu stehen, wo wir uns sehen wollen. Jede Geschichte beinhaltet einen solchen glücklichen Moment, sei er auch noch so kurz oder unbedeutend für unsere Mitmenschen. Was zählt ist, dass wir selbst zufrieden sind, mit dem, was wir geleistet oder nicht geleistet haben und Tiefpunkte nutzen, um aus ihnen Erfahrungen zu sammeln. Und nach all diesen Erlebnissen, nach all diesen Momenten des Glücks und der Trauer, wissen wir, dass die Geschichte enden wird, dass sie abgeschlossen wurde. Wir wissen, sie hat existiert, genauso wie wir wissen, dass sie nie zurückkehren wird. Der Tod hat seinen langen Schatten über sie geworfen. Aber was er niemandem nehmen kann, sind die Erinnerungen an diese Lebensgeschichte, die Erinnerung, an die Person, die wir verloren haben. Und diese konnte er auch mir nicht nehmen.

Gedankenverloren stocherte ich mit dem Löffel in der Müslischale herum und starrte wie hypnotisiert zum Küchenfenster. Dunkle Wolken standen am Himmel und ließen ihren Tränen freien Lauf, sodass der Regen in einem gleichmäßigen Rhythmus gegen die Scheibe trommelte.

Es war Anfang Oktober und der Herbst zeigte sich hier in Winona, einer südöstlich gelegenen Stadt in Minnesota, von allen Seiten. Das regnerische Wetter trug außerdem nicht gerade dazu bei, meine Stimmung aufzuheitern. Diese hielt sich in den Morgenstunden der Wochentage sowieso schon im Keller auf, woran größtenteils die Schule Schuld hatte. Wenigstens konnte ich sie dank meiner besten Freundin Claire im Laufe des Tages ablegen. Claire und ich kannten uns schon seit der Middle School und waren vor mehr als einem Jahr gemeinsam auf die High School gewechselt. Mit ihr an meiner Seite fiel es mir nicht besonders schwer, den stressigen Schulalltag zu bewältigen.

Seufzend senkte ich den Blick auf meine Müslischüssel, in der ich nur noch die Milch übrig gelassen hatte. Mittlerweile schien es eine Angewohnheit zu sein, jedes Mal zu viel Milch für das Müsli zu opfern, was Mum auf Dauer nicht dulden würde.

Ich stellte die Schale auf der Anrichte ab, kurz bevor meine Mutter mit festen Schritten zur Tür hereinkam und nebenbei versuchte, ihren strengen Dutt mit einigen Haarklemmen zu richten. Sie trug ihre braunen, schulterlangen Haare eher selten offen, weil sie als Anwältin überall einen zuverlässigen und ordentlichen Eindruck hinterlassen wollte. Damit war sie das genaue Gegenteil von Dad. Er machte sich nicht viel aus den Meinungen der Leute und fand, wie er stets zu sagen pflegte: „Die Leute sehen eh nur das in Menschen, was sie sehen wollen."

So recht er damit auch hatte, manchmal wünschte ich mir, er würde sich nach seiner Arbeit als Koch in einem Restaurant zuerst umziehen, bevor er auf den Straßen mit seinen befleckten Hemden auftauchte. Aber das war eben seine Art.

Und Jenna, meine ältere Schwester, war sowohl ordentlich, als auch chaotisch. Mit neunzehn Jahren zog sie damals zusammen mit ihrem Freund Jordan in eine kleine Wohnung nahe der Innenstadt. Mittlerweile war sie einundzwanzig, wobei ich zugeben musste, dass mich ihre autoritäre, erwachsene Art als ihre kleine Schwester manchmal ziemlich nervte. Dennoch waren wir unzertrennlich und Jenna zog es nach wie vor zu unseren Feiertagsabenden, die ohne sie definitiv in einer Schweigerunde enden würden. So auch zu Thanksgiving, das uns in wenigen Tagen bevorstand.

Mum ging zielstrebigen Schrittes auf den Kühlschrank zu, zog die Tür weit auf und begutachtete unsere Einkäufe kritisch.

„Das ist doch wohl nicht sein Ernst", zischte sie ärgerlich und starrte fassungslos in das leere Gemüsefach. „Jeden Samstag einkaufen zu gehen und feststellen zu müssen, dass die Hälfte unserer Familieneinkäufe für das Ric's Diner drauf gegangen sind, bringt mich noch um den Verstand."

Augenrollend schnappte sie sich einen Erdbeerjoghurt und warf die Kühlschranktür hinter sich zu. Ric's Diner war der Name des Restaurants, in dem mein Vater als Koch arbeitete. Tatsächlich konnte es schon mal passieren, dass mein Vater eine seiner wichtigen Zutaten auf seiner unendlich langen Einkaufsliste übersah und kurzerhand auf den Familienkühlschrank zurückgriff. Mum musste ihn deswegen bereits mehr als einmal ermahnen.

„Natürlich liebe ich ihn, aber er kann doch nicht erwarten, dass ich mich mit einem abgelaufenen Joghurt zufrieden gebe", fügte sie hinzu und nahm sich einen Löffel aus der Besteckschublade. Ich wusste nicht so recht, was ich darauf erwidern sollte, denn meiner Meinung nach, war dies eine Angelegenheit, die die beiden unter sich klären mussten. Also schwieg ich und erhob mich müde von meinem Stuhl. Mum warf mir skeptische Blicke zu, als würde ihr die Frage, was ich gestern Abend noch so lange getrieben hatte, bereits auf der Zunge liegen. Stattdessen fragte sie jedoch etwas ganz anderes.

„Wann kann ich denn heute Nachmittag mit dir rechnen? Ich habe nämlich heute den halben Tag frei, sofern nichts dazwischen kommt. Somit wäre ich schon gegen drei zu Hause. Deshalb könnte ich mich eventuell zu einem Besuch beim Italiener überreden lassen", meinte sie schulterzuckend und kehrte mir den Rücken zu, als sie sich zur Kaffeemaschine umdrehte. Ich müsste mich gar nicht vor sie stellen, um zu wissen, dass in diesem Moment ein Lächeln auf ihren Lippen lag. Meine Mutter kannte mich gut genug, um zu wissen, wann der beste Zeitpunkt für eine Bruscetta-Vorspeise war. Der Italiener an der Ecke Bakerstreet musste mit Abstand der Beste in ganz Winona sein, was sich bereits an der Anzahl seiner Besucher erahnen ließ. Dennoch konnte ich nicht sofort zusagen.

„Du weißt, dass Dad es gar nicht gern sieht, wenn wir bei der Konkurrenz zu Gast sind und außerdem weiß ich noch nicht, ob ich überhaupt in Stimmung für ein italienisches Menü bin", antwortete ich und beeilte mich zur Tür, denn Letzteres war eindeutig gelogen. Aber ich konnte Dads ernsten Blick nicht ertragen, wenn er von unserem Ausflug erfuhr. Und um seinetwillen würde ich diesen Wunsch unterdrücken müssen.

„Wer sagt denn, dass dein Vater davon erfahren muss?", hielt sie mich zurück. Ich hob eine Augenbraue und ein kurzes, glockenhelles Lachen schlug mir entgegen. „Das beim letzten Mal war ein Missgeschick, das sich garantiert nicht wiederholen wird. Vertrau mir einfach!" Sie nickte mir optimistisch zu und verschwand mit ihrer Kaffeetasse aus dem Zimmer. Kurz darauf erschien ihr Kopf noch einmal in der Tür.

„Ich könnte dich zur Schule mitnehmen, wenn du willst", schlug sie vor und auf meinem Gesicht erschien unwillkürlich ein Grinsen. Mir war klar, was sie damit bezweckte und es hatte eindeutig funktioniert.

„Okay, bin dabei."

Mums weinroter Wagen hielt direkt vor der Einfahrt der Schule. Ihre Augen begannen jedes Mal zu glänzen, wenn sie ihre Augen auf das altehrwürdige, graue Schulgebäude, das sich High School nannte, wonach es definitiv nicht aussah, richtete. Tatsächlich hatte auch sie früher einmal diese Schule besucht und sie ließ keine Sekunde aus, mich an ihre wunderbare Zeit zu erinnern.

„Ich habe die Zeit als Teenie genossen und das solltest du auch", riet sie mir immer, woraufhin ich nur mit den Augen rollen konnte. „Wenn du die Schule erst einmal abgeschlossen hast, musst du dir vorerst um nichts Sorgen machen. Keine Arbeit, kein Stress, keine Rechnungen oder Verträge. Einfach leben, für den Rest hast du später noch dein ganzes Leben Zeit."

Ihre Worte hatten mir manchmal wirklich zu denken gegeben, da ich mir nicht vorstellen konnte, was später einmal aus mir werden würde. Immerhin musste ich mich als Sechzehnjährige in zwei Jahren für ein College bewerben und mich für eine bestimmte Zielrichtung entscheiden. Aber ich konnte mich nicht entscheiden, ohne zu wissen, welchen Beruf ich später einmal ausüben wollte. Und die Tatsache, dass mich meine Eltern in Zukunft an ihrer eigenen Universität sahen, setzte mich dermaßen unter Druck, sodass ich mich langsam fragen musste, wie sie reagieren würden, wenn ich mich nicht für ihr College, die Harvard University entschied. Klar, diese hatte einiges zu bieten und stand bei den besten Colleges ganz oben auf der Liste, aber es gab so viele andere Universitäten, deren Türen ebenfalls für mich offen standen.

Ich öffnete seufzend die Autotür, stieg aus und hängte mir die Schultasche über die Schulter.

„Bis dann", verabschiedete ich mich lahm und stieß die Tür hinter mir zu. Sofort spürte ich den kühlen Regen auf meinen zitternden Handgelenken, zog mir die Kapuze über den Kopf und die Ärmel meiner Jacke lang bis über die Fingerspitzen. Ich hörte das platschende Geräusch von Wasser unter meinen durchweichten Schuhsohlen, als ich mich zielstrebig an den gespannten Regenschirmen einiger Schüler vorbei schlängelte. Irgendwie wirkten die farbigen Planen der sich bewegenden Regenschirme wie bunte, einzelne Dächer unter einem einzigen großen Dach aus tristem Grau.

Auf dem unebenen Boden hatten sich Pfützen verbreitet, sodass mein Blick durchgängig unter dem Rand meiner Kapuze auf den steinigen Boden gerichtet war. So sah ich die schwarzen Lederschuhe, die plötzlich vor mir auftauchten, viel zu spät.

Ich prallte gegen einen harten, massigen Körper und taumelte ein paar Schritte zurück, bis ich mich wieder einigermaßen auf den Beinen halten konnte. Erschrocken hob ich den Kopf, um mich bei der Person zu entschuldigen, die ich gerade so unhöflich angerempelt hatte. Schließlich hatten gute Manieren meine Tollpatschigkeit schon oft entschuldigen können, da solche Missgeschicke geradezu tagtäglich passierten.

Es schien ein Mann von knapp zwei Metern Größe zu sein, der sich die schwarze Kapuze, eben so wie ich, tief ins Gesicht zog. Sein massiger Körper war ganz in schwarz gekleidet und er neigte zornig den Kopf, als wollte er mit der Kapuze sein Gesicht vor mir verbergen. Verwirrt trat ich ein paar Schritte näher an ihn heran.

„Entschuldigen Sie. Das war keine Absicht, ich habe mal wieder nicht aufgepasst", entschuldigte ich mich hastig und strich mir nervös eine feuchte Haarsträhne hinter das Ohr. „Ist alles in...?" Weiter kam ich nicht, denn seine breiten Füße setzten sich ohne ein weiteres Wort in Bewegung, ließen mich wortwörtlich im Regen stehen, als könnte die Entschuldigung nichts an meiner Schuld ändern. Und so schnell, wie er in mein Sichtfeld getreten war, schien er auch wieder verschwunden zu sein. Untergetaucht in einem regentrüben Meer.

Irritiert versuchte ich, ihn anhand seiner schwarzen Kleidung in der Schülermenge auszumachen, doch schwarze Mäntel stachen mir zur Genüge ins Auge und ich konnte niemanden sehen, der auch nur annähernd die Größe des Fremden erreichte.

Kopfschüttelnd setzte ich meinen Weg Richtung Schulgebäude fort. Die Begegnung mit dem Unbekannten warf lauter Fragen in meinem Kopf auf, obwohl ich mir immer wieder einzureden versuchte, dass diese Unfreundlichkeit noch lange nichts über die Einstellung dieses Mannes aussagte. Aber wieso kam mir die Erscheinung dieser Person so bekannt vor? Es war, als hätte ich eine ähnliche Begegnung schon mal erlebt, zu unwissend und jung, um überhaupt daran zu denken, dass sie irgendwie von Bedeutung sein könnte.

Ich stieg atemlos die Stufen zum Eingang des Schulgebäudes hinauf und hatte gar nicht bemerkt, dass sich meine Schritte wie von selbst beschleunigten und ich die Treppen regelrecht hinauf sprintete.

In der Empfangshalle zog ich mir die Kapuze vom Kopf und lief zu der ersten Treppe, die rechts von mir zu den naturwissenschaftlichen Räumen führte.

An Donnerstagen stand in den ersten beiden Stunden Biologie auf dem Stundenplan, ganz zur Freude von Claire, die gerade, wie ich aus einiger Entfernung erkennen konnte, den Klassenraum betrat. Ich hastete an den Spinden vorbei, schadenfroh darüber, dass ich meine Biologiebücher nicht in den Spind gestellt hatte, wie es eigentlich gestern geplant war und trat einige Sekunden später über die Türschwelle ins Klassenzimmer. Claire saß in Biologie direkt hinter mir an der vierten Bank in der mittleren Reihe und schob ihre Bücher gerade in das Ablagefach unter der Bank, als ich mich schwer atmend zu ihr gesellte und meine Tasche auf dem Tisch neben mir fallen ließ.

„Hey", begrüßte ich sie und ließ mich erschöpft auf meinen Stuhl sinken. Sie sah auf und blickte mich freudestrahlend an, als hätte sie erfahren, dass wir den Rest des Tages frei hatten.

„Hi, hab mich schon gefragt, ob du dich wieder verspätest", berichtete sie und umarmte mich zur Begrüßung.

„Nein, heute nicht. Mum hat angeboten, mich zu fahren und da musste ich den alten Drahtesel in der Garage zurücklassen", erklärte ich zwischen zwei kräftigen Atemzügen und zwinkerte ihr zu. Meine Freundin setzte sich auf ihren eigenen Stuhl und wartete, bis ich meine Bücher in das Ablagefach gepackt hatte.

„Du siehst irgendwie fertig aus", stellte sie misstrauisch fest. „Bist du gerannt? Du hättest doch noch genügend Zeit gehabt."

Gekonnt wich ich ihrem wachsamen Blick aus. Ihre haselnussbraunen Augen ruhten abwartend auf mir, doch ich verspürte keine große Lust, ihr von der Begegnung mit dem schwarz gekleideten Fremden zu erzählen, also drehte ich mich weg und starrte schweigend zu Boden. Aber vor Claire konnte man so gut wie nichts geheim halten. Ihre Neugier trieb sie zu Fragen und ihren Gegenüber zu Antworten.

In diesem und in vielen weiteren Fällen unterschied sie sich deutlich von mir. Ich bohrte so gut wie nie nach, wenn ich etwas wirklich wissen wollte, weil mir manchmal durchaus bewusst war, dass mich manche Sachen nichts angingen und ich es für unhöflich hielt, meine Nase immer und überall in alles hinein zustecken.

Auch unterschieden wir uns in unserem Aussehen. Claires schokoladenbraunes, glattes Haar, fiel ihr lang über die Schultern und ihre ebenso braunen Augen betrachteten ihren Gegenüber aufmerksam, genau, selten sogar herablassend, weshalb ihr manche Menschen durchaus respektvoll gegenüber traten.

Meine blonden Haare umrahmten in Wellen das blasse Gesicht mit den vollen Lippen und den grau-grünen Augen, die für meinen Geschmack oft einen sehr schläfrigen Eindruck machten. Die Neugier konnte ich ganz gut zurückhalten, dafür erhielt ich weniger Respekt von anderen, was sich jedoch auch zum Vorteil nutzen ließ. Durch meinen weniger aufmerksamen Blick wurden die Leute unachtsam und ich konnte problemlos ihr wahres Gesicht erkennen, wusste manchmal sogar, wann mir eine Lüge aufgetischt wurde und niemand schien zu bemerken, wie tief ich in sein Innerstes gucken konnte.

Wahrscheinlich war unsere Verschiedenheit genau das, was Claire und mich so eng zusammen hielt und die Freundschaft zwischen uns damals ausgelöst hatte.

„Was ist nun? Geht es dir gut? Du siehst irgendwie so blass aus", bemerkte Claire besorgt und beugte sich über den Tisch zu mir, um mich genauer zu betrachten. Ich biss mir auf die Unterlippe und überlegte, was ich auf diese Frage am besten antworten konnte, um möglichst wenig Inhalt der letzten zwanzig Minuten auszuplaudern.

„Blass bin ich immer", fand ich und zuckte mit den Schultern. Diese Aussage war tatsächlich nicht gelogen. „Ich hab nur jemanden an gerempelt, mehr nicht."

„Mehr nicht?", bohrte Claire nach, wie ich bereits erwartet hatte. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, mehr nicht", murmelte ich langsam und sah, dass Mr. Frice, unser Lehrer für Biologie und Chemie, so eben den Klassenraum betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Ich lächelte Claire ein letztes Mal kurz zu, bevor ich mich zur Tafel drehte.

Für den heutigen Unterricht hatte Mr. Frice schon letzte Woche einen Test angekündigt, weshalb er die beiden Unterrichtsstunden wie gewöhnlich mit den Worten „Nehmt bitte ein unbeschriebenes Blatt und einen Stift zur Hand." eröffnete.

Ich schrieb meinen Namen auf das karierte Blatt: Lavinia Clarcson. Ein recht schöner Name, wie meine Eltern fanden. Klar, es war nicht das schlimmste Übel, das Eltern ihren Kindern antun konnten, aber dass er sich nicht sinnvoll abkürzen ließ, regte mich manchmal schon ein wenig auf.

Nach dem Test, der eigentlich ganz gut lief, konnte ich mich jedoch trotzdem nicht auf den Unterricht konzentrieren. Weder auf Mr. Frice' Gerede über irgendwelche Zellorganismen, noch auf die langweiligen Lehrbuchtexte, für die man eine Lupe bräuchte, um sie richtig entziffern zu können. Mein Blick glitt aller fünf Minuten zur Uhr, dann kurz zur Tafel und zuletzt auf das Armband an meinem rechten Handgelenk. Es war ein Geschenk meiner Schwester Jenna, das sie mir zu meinem elften Geburtstag gab und für sie von sehr großer Bedeutung war. Es bestand aus einem einfachen, schwarzen Band und einem Anhänger in der Form eines schwarzen Kreuzes. Die Unterseite lag wie jeden Tag kühl auf meinem Handgelenk, während sich die Oberseite zu jeder Zeit abwechselnd warm und heiß anfühlte. Ich wusste nicht genau, woran das lag, aber es gefiel mir, dass für die Temperaturunterschiede beider Seiten dieses Anhängers keine Erklärung vorlag.

„Es ist hässlich", hatte Claire damals in der Middle School gesagt. Und obwohl es das wirklich war, antwortete ich jedes Mal: „Es ist von Jenna. Das ist der Grund, warum ich es trage."

Und daran hatte sich bis heute nichts geändert, denn für mich gab es keinen Grund, das Armband nicht zu tragen.

Kurz vor um Zwei drehte ich den Schlüssel unserer Haustür zweimal im Schloss herum und betrat den dunklen, stillen Flur. Das Schuhfach neben der hölzernen Kommode an der linken Wand war leer, genauso wie vor meinem Aufbruch in die Schule, ebenso der Jackenständer und das Postfach. Mum holte immer zuerst die Post, bevor sie das Haus betrat, was bedeutete, dass sie noch gar nicht heimgekehrt war. Mit gerunzelter Stirn ging ich ins Wohnzimmer. Der Sekundenzeiger der großen, weißen Wanduhr tickte merkwürdig laut in der Stille, sodass das Geräusch beinahe ohrenbetäubend in meinen Ohren dröhnte. Durch die riesigen Glasscheiben fiel graues Licht in das Wohnzimmer, welches in mir einen seltsam verlassenen Eindruck erweckte.

Seufzend strich ich mir die blonden Haarsträhnen hinter das Ohr und ließ mich in das weiche Polster des Sofas sinken. Ich wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis Mum nach Hause kam, um mich zum Essen abzuholen, wie es vereinbart gewesen war. Deshalb musste ich mich wohl gedulden und die Zeit abwarten.

Ich fischte mein Handy aus der Hosentasche, da ich nicht wirklich wusste, was ich mit so viel freier Zeit allein anfangen sollte. Denn normalerweise konnte ich mich vor lauter Schulaufgaben nicht mehr retten, was heute nicht der Fall war. Aber mein Handy vibrierte nur kurz und gab anschließend den Geist auf. Akku leer!

Stöhnend warf ich es auf den Wohnzimmertisch und verharrte eine Weile liegend in dieser Position.

Nach einer Weile schaltete ich den Fernseher an, erwartend, Mum könnte jede Minute zur Tür hereinplatzen und mich zur Abfahrt drängen. Aber das tat sie nicht. Auch nach einer und nach zwei Stunden nicht.

Mum verspätete sich nie, war niemals unpünktlich zu einem Termin oder einer Verabredung erschienen. Sie hielt stets ihr Wort und versuchte sich nicht davor zu drücken. Was konnte also so wichtig sein, dass sie dafür ein Mitagessen beim Italiener sausen ließ?

Ich griff zu meinem Handy und musste schmerzlich erkennen, dass es immer noch ausgeschaltet war. Grummelnd schwang ich meine Beine über die Kante der Couch und verband das Gerät durch ein Aufladekabel mit der Steckdose.

So fühlte sich also Einsamkeit an. Einsamkeit, die ich in fünfzig Jahren an jedem Tag würde ertragen müssen. Jetzt verstand ich auch Granny, wenn sie darum bat, dass wir sie öfter besuchen könnten. Diese Trägheit und Langweile war ermüdend und die Fernsehkiste konnte mich keinesfalls vom Gegenteil überzeugen.

Auch sechs Stunden später noch musste ich die Einsamkeit über mich ergehen lassen. Meine Stirn lag bereits in tiefen Falten, weil ich mir Mums in die Länge gezogene Verspätung einfach nicht erklären konnte. Genervt warf ich einen Blick auf mein Handy und beschloss, dass nun genug Wartezeit vergangen war. Ich kappte die Verbindung zur Steckdose und schaltete das Smartphone an. Hoffentlich hatte Mum eine gute Erklärung für ihre unbestätigte Absage. Und tatsächlich hatte sie bereits mehr als einmal versucht, mich anzurufen. Sieben unbeantwortete Nachrichten blinkten in meinem Postfach.

Nervös öffnete ich den Chatverlauf.

Schatz, es ist etwas Schreckliches passiert! 15: 23

Für einen kurzen Moment hielt ich inne. Etwas Schreckliches? Inwiefern schrecklich? Verunsichert biss ich mir auf die Unterlippe, bis ich beinahe das Blut schmeckte. Ich hätte eher auf mein Handy gucken sollen. Diese Nachricht bereitete mir zunehmend Sorgen und ich spürte, wie sich auf meinen Armen eine leichte Gänsehaut ausbreitete. Mum erzählte keine Witze, wenn es um ein ernstes Thema ging, also musste die Nachricht hundertprozentig der Wahrheit entsprechen. Die nächsten waren jedenfalls nicht weniger beunruhigend.

Du musst mich dringend zurückrufen. 15:44

Ruf mich sofort an, wenn du das hier liest. 16:07

Lavinia, du musst in die Lancer-Throw Street kommen, JETZT! Komm so schnell wie möglich. Es geht um Jenna. 16:22

Ich schluckte und hielt für ein paar Sekunden den Atem an. Der Besuch beim Restaurant war vergessen. Das Blut rauschte in meinen Ohren und bildete im Zusammenhang mit dem Ticken der Uhr einen merkwürdigen Rhythmus, der mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Das mulmige Gefühl in meiner Magengegend nahm mit jeder weiteren Sekunde unaufhaltsam zu und dehnte sich aus, wie ein aufgeblasener Luftballon.

Mein Gehirn konnte die Informationen nicht mit einem Mal greifen. Jenna in der Lancer-Throw Street? Ich fuhr mir mit zitternden Händen durchs Haar und scrollte weiter. Hoffentlich war Jenna nichts Schlimmes zugestoßen.

Lavinia, wo bleibst du? 17:06

Ruf mich auf der Stelle an! 17:54

Bleib, wo du bist! Wir kommen nach Hause. 18:19

Das Herz schlug mir bis zum Hals, während ich weiterhin ungläubig auf den Bildschirm starrte. Mein Verstand schien noch nicht richtig begreifen zu können, was Mum mir mit diesen Worten sagen wollte. Es würde schon nichts Ernstes sein. So wie ich Jenna kannte, suchte sie vielleicht nach einem passenden Kleid für eine Einladung von Jordan in ein Restaurant oder nach irgendetwas anderem, was von ihr und Mum als Problem angesehen wurde.

Dennoch sprang ich sofort auf, als die Haustür von außen aufgerissen wurde und Mum und Dad mit tropfender Kleidung und nassem Haar in den Flur traten. Obwohl ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen waren, erkannte ich an Mums zuckendem Oberkörper, dass sie weinte. Leise und doch so nah, als wäre ihr Schluchzen dicht an meinem Ohr.

Bevor ich mit der Fragerunde starten konnte, fiel mir meine Mutter in die Arme. Ich streichelte ihr in beruhigenden Kreisen über den Rücken, ohne überhaupt zu verstehen, was der Auslöser für ihren Gefühlsausbruch war. Mein Vater gesellte sich ebenfalls zu uns und schloss mich, wie ich zuvor Mum, in eine feste Umarmung. Da standen wir, eng umschlungen, als Familie, zum Teil in tropfenden Kleidern und tränenüberströmten Gesichtern. Aber irgendwann wuchs meine Ungeduld ins Unermessliche.

„Dad, sag etwas! Wo ist Jenna?", wollte ich wissen, die Augen leicht geweitet.

Mein Vater löste sich aus unserer innigen Umarmung und sah mich aus seinen leeren, glasigen, geröteten Augen an. Ein Schweigen sollte die Antwort sein.

„Ich muss wissen, was passiert ist", presste ich hervor und wechselte einen verzweifelten Blick mit Mum. Vorsichtig befreite sie sich aus meinen Armen, zog sich die Kapuze vom Kopf und wischte sich die laufenden Tränen von den heißen, rot glühenden Wangen.

Ich kannte Mum, als eine aufgeschlossene, selbstbewusste Frau, die wusste, wie man mit Problemen umzugehen hatte. Wieso also jetzt nicht? So aufgelöst hatte ich sie lange Zeit nicht erlebt.

„Deine Schwester. Jenna... sie hatte einen Unfall", brachte sie mit wackeliger Stimme hervor. Ihr Schluchzen zerriss die erdrückende Stille. Ich versuchte, sie nicht zu drängen, mich zurückzuhalten sie an den Schultern zu schütteln, um ihr eine Antwort zu entlocken, denn ich wusste, dass es nur zu mehr Tränen führen würde. Zu meiner Überraschung erhob Dad das Wort.

„Jenna war kerngesund, wie du weißt. Sie hatte keine Herzprobleme und hielt sich immer stets vom Rauchen fern, weil sie schlau genug war, um zu wissen, dass es schädlich ist", erzählte er und holte tief Luft, als würde es ihm sichtlich zu schaffen machen, dies auszusprechen.

Rauchen? Was wollte mir mein Vater damit sagen? Mein Blick glitt wieder zu Mum, in deren Augenwinkeln ich erneut Tränen glitzern sah.

Ich wartete, bis sich die Schluchzer wieder einigermaßen gelegt hatten und Mum sich langsam beruhigte. Mein Vater presste niedergeschlagen die Lippen aufeinander und bei einem Grund wie diesem konnte ich es ihm nicht übel nehmen.

Mum senkte den Blick. „Deine Schwester ist tot."

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