Zeit
„Juhu, wir sind die ersten!" Melete rutscht von Krotos' Rücken und streckt mir die Hände entgegen. „Gib sie mir!"
Ich überreiche ihr meine Last, springe ebenfalls ab und nehme mein Bündel wieder entgegen. Krotos rückt mir einen Stuhl zurecht und schiebt ihn mit mir drauf wieder an den Tisch heran. Seit zwei Tagen behandeln mich die beiden wie eine Invalide. Ich muss allerdings zugeben, dass ich kaum jemals Hände und Arme frei habe und meine Aufmerksamkeit teilen muss.
„Ach, ihr seid ja mal pünktlich!" Ganymed zappt herein. „Kennt man gar nicht von euch!" Das gilt wohl Krotos und Melete, weniger mir. Ich selbst bin zwar, was die Zeit angeht, eher verpeilt, aber mit Astraia zusammen konnte man sich gar nicht verspäten.
Nun treffen auch die anderen ein. Skorpion, der mit Phaeton auf dem Rücken als letzter erscheint, sieht sich verwundert um. „Ist der Chef noch nicht da?"
Auch andere äußern sich über Apollons Abwesenheit. Sonst ist er einer der Ersten, es ist irgendwie irritierend, ihn nicht zu sehen, während wir alle versammelt sind.
Syrinx fällt es als erstes auf: „Keto, was hast du denn da?" Sie kommt zu mir und ich hebe sacht einen Tuchzipfel von einem schlafenden Gesichtchen.
„Oh, wie süß!", quietscht die Najade sofort los. „Guck doch mal, Pan!"
Pan guckt und zieht eine Grimasse, die er auch auf der Stelle erklärt: „Mir hast du gesagt, du willst sowas auf gar keinen Fall!"
„Mann, das ist zweitausend Jahre her!"
„Heißt das, du hast es dir anders überlegt?" fragt Pan hoffnungsvoll.
„Mal sehen", wimmelt Syrinx ab. Und ich hatte schon fast gedacht, Pan hätte sie endlich herumbekommen. Immerhin scheint er schon mal auf einem guten Weg zu sein. Allein der Umstand, dass Syrinx sich bereit erklärt hat, seine Wächterin zu sein, zeigt ja schon, dass sie ihm längst nicht mehr so abgeneigt ist wie vor zweitausend Jahren, als sie sich in Schilfrohr verwandelt hat, um seinen Nachstellungen zu entkommen. Damals habe ich schon den Verdacht gehabt, dass Syrinx weniger Gewalt von Seiten Pans befürchtet hat als vielmehr, dass sie seinen Überredungskünsten und seinem Gesang erliegen könne. Pan ist fast so hässlich wie ich, was viele abschreckt, die ihn zum ersten Mal sehen. Aber seine unglaublich klare, kraftvolle Stimme und sein meisterhaftes Flötenspiel bewundern selbst diejenigen, die sein Gesicht mit der langen, spitzen Nase, dem Ziegenbart und den starken Brauenwülsten ablehnen.
„Lass mich auch mal sehen", Helena schiebt die beiden zur Seite und giggelt prompt los: „Ist die niiiiiedlich!"
„Einfach zum Knuddeln", befindet auch Fedelm. Woraufhin Nemesis auch neugierig wird, zu mir kommt und losquiekt: „Hach, was für ein Spätzchen!"
„Was haben die Weiber bloß!" Phaeton schnaubt verächtlich und Helenos stimmt ihm zu: „Frauen geraten doch immer so schnell in Entzücken." Er riskiert ebenfalls einen Blick und schluckt. „Die ist ja einfach goldig!"
Der Grund für die ganze Aufregung ist natürlich Dikaia. Bei Syrinx' Ausruf ist sie erwacht, hat aber nicht zu weinen begonnen. Stattdessen strahlt sie jedes neue Gesicht an, welches über ihr erscheint. Es ist sehr ungewöhnlich, hat mir Pasiphae verraten. Babys zeigen für gewöhnlich lediglich etwas, das Engelslächeln genannt wird und eigentlich nur ein Reflex ist. Aber Dikaias geschwungenes Mündchen verzieht sich zu einem echten Lächeln, komplett mit leuchtenden Augen und einem Grübchen, wie es auch Astraia gehabt hat.
Dikaias Ruhe erklärt sich auch daraus, dass sie in einen Babytragetuch an meiner Brust liegt, die dank Michels Kräutertrunk mit Milch gefüllt ist und sie nur den Kopf wenden muss, wenn sie Hunger hat oder beunruhigt ist. Denn das habe ich in den beiden Tagen schon gelernt: Dikaia beginnt sofort zu nuckeln, wenn ihr etwas Angst macht oder sie erschreckt. Und ich habe auch entdeckt, dass Pasiphae recht gehabt hat: Es ist ein wunderbares Gefühl, ein Baby zu säugen.
Drabik nuckelt an seinem persönlichen Trost und schlurft dann zu uns herüber. „Jetzt muss ich auch mal kucken gehen", brummelt er dabei. Nachdem er das „Kucken" erledigt hat, ist er für einen Moment lang sprachlos. Dann mustert er erst Dikaia, daraufhin mich und schließlich Krotos. „Wie habt ihr denn – ich meine, ich weiß ja, dass du auf sie stehst, aber - und so schnell?"
Krotos prustet los. „Nicht, was du wieder denkst, Drabik!"
Bevor wir Drabik aufklären können, zappt Apollon herein und alle huschen wie eine ertappte Schulklasse auf ihre Plätze zurück.
Apollon setzt sich und schweigt einen Moment. Dann beginnt er: „Die Pantheons haben ihr Urteil verkündet."
Darauf bin ich gespannt. Ich meine, was will man mit einem Gott machen, der so langlebig und mächtig ist wie Zeus? Im antiken Griechenland hat ihn niemand zur Rechenschaft ziehen können, geschweige denn Strafen über ihn verhängt, über die er ohnehin nur gelacht hätte.
„Zeus ist für hundert Jahre nicht mehr der oberste Gott des olympischen Zirkels", erklärt Apollon nun. „Das Amt wird der Reihe nach von den anderen Olympiern für jeweils zehn Jahre übernommen. Und für, die nun zu rechnen beginnen", er richtet sich wohl an Phrixos, der prompt an den Fingern abzählt, „ich bin nicht dabei, da ich hier genug zu tun habe."
„Und was macht Zeus in der Zwischenzeit?" Aphrodite runzelt die Brauen, bis diese sich über ihrer wieder verheilten Nase treffen.
„Der wird von den anderen Obergöttern erstmal erzogen", Apollon kann ein Grinsen nicht unterdrücken. „Kernunnos wird mit ihm Wildtiere hegen, Odin nimmt ihn auf seine einsamen Wanderungen mit, Amaterasu wird ihm das spirituelle Weben beibringen und Susanoo die Landwirtschaft. Und Shiva wird mit ihm meditieren und ihn die Askese lehren." Jetzt verstehe ich Apollons Heiterkeit. Zeus, der Hedonist par excellence und Askese, das würde ich zu gerne miterleben!
Nachdem das Gelächter in der Runde verebbt ist, fährt Apollon fort: „Unser Anliegen muss es nun sein, die Ekliptik wiederherzustellen. Ich denke, ich habe Pythias Spruch zum Teil verstanden – Astraias Tod hat mehr verursacht als nur eine Lücke aufzureißen. Der Kreis wurde zerstört dadurch, dass Zodiaks auf andere Zodiaks losgegangen sind. Ihr müsstet mal sehen, was in dieser Zeit für astrologische Prophezeiungen herausgegangen sind! Bei den Sehern herrschte völlige Verwirrung!" Er spricht streng und mehr als ein Zodiak senkt beschämt den Kopf. Aidos inhaliert mit geschlossenen Augen diese Atmosphäre ein.
„Seid ihr euch nun wieder einig?", fragt Apollon. Alle Zodiaks nicken. „Und werdet ihr euch in Zukunft vertrauen?" Wieder allgemeines Nicken. „Und nicht mehr gegeneinander hetzten?" Diesmal stimmen auch die Wächter in das Nicken ein. „Gut, dann denke ich, können wir den Kreis erneut schließen", stellt Apollon fest. „Erst einmal zu zwölft, bis wir eine neue Jungfrau gefunden haben. Danach werden wir unser Bündnis noch einmal erneuern müssen."
„Ich glaube nicht, dass dies nötig ist", widerspricht Krotos.
Apollon runzelt die Stirn. „Auch wenn du mehr Arbeit auf dich nimmst als zuvor, Krotos, es lässt sich nicht leugnen, dass wir einen dreizehnten Zodiak brauchen."
„Ich weiß. Aber ich glaube, den können wir liefern. Keto, komm mal mit." Krotos zieht mich vom Stuhl und geht um den Tisch herum zu Apollon.
„Keto? Ja, daran habe ich auch schon gedacht, aber es wird lange dauern, sie zu einem Zodiak zu machen und ich glaube, die Verwandlung in einen Schemen ist ihr unheimlich. Ich will ihr keine Bürde auferlegen, die sie nicht - " Apollon unterbricht sich und starrt mich an. „Was bei allen Pantheons hast du da, Keto?"
Sehr vorsichtig hole ich Dikaia aus ihrem Tuch und lege sie Apollon in die spontan ausgestreckten Arme.
Man merkt, dass unser Chef selbst Vater ist, er hält Dikaia richtig und stützt ihr Köpfchen ab, als er sie genauer betrachtet. „Es ist erstaunlich", bemerkt er. „Sie sieht aus wie Astraia. Wie habt ihr das hinbekommen? Ich spüre auch ihre Kraft, die Kraft eines Zodiaks. Als sei Astraia wiedergeboren worden."
„Es ist ihr Baby", erkläre ich. „Ihr Klon. Zeus hat ihr aufgelauert, als sie gerade das Ei mit Dikaia abgelegt hat. Sie hat es per Parthenogenese erzeugt."
Verblüfft sieht Apollon auf. „Warum hat sie das getan?"
„Sie meinte, sie hätte einfach das Gefühl gehabt, es sei nötig. Jetzt denke ich, dass sie ihren Tod vorausgeahnt hat."
Hekate besieht sich Dikaia aufmerksam. „Jetzt ist mir auch klar, warum ich Astraias Geist nicht finden konnte. Zeus hat ihr Herz umsonst verbrannt, ihr Geist war bereits in diesem kleinen Ding."
„Dann werden wir den Bund zu dreizehnt neu schließen", entscheidet Apollon. „Auch wenn es noch etwa zwei Jahrzehnte dauern wird, bis Dikaia ihren Platz in der Ekliptik einnehmen kann. Diese Zeit werden wir eben abwarten müssen."
„Solange mache ich das gerne weiter", verspricht Nemesis. Ihre harten Züge werden ganz weich, als sie auf Dikaia herabschaut. „Und ich freue mich schon darauf, die Kleine dann einzuweisen."
„Und warum du und nicht ich?", will Aphrodite wissen. „Ich kann besser mit Kindern umgehen!"
„Ich kann das aber auch übernehmen", meldet sich Ganymed. „Ich war wie sie auch noch fast ein Kind, als ich es gelernt habe."
Nun erklären sich auch die anderen Zodiaks bereit, Dikaia zum rechten Zeitpunkt einzuführen und sie zuvor schon alles nötige Wissen zu lehren. Und sich auch ansonsten um sie zu kümmern. Sieht so aus, als ob Dikaia zwar eine Waise ist, aber mit mehr Eltern aufwachsen wird als sie jemals zuvor ein Kind gehabt hat.
„Du solltest die nächsten Jahre noch bei uns bleiben", erklärt mir Krotos etwas undeutlich, da er gerade Dikaias rechten Fuß im Mund hat. Auch ein Kentaur hat nur zwei Hände und er hat keine andere Möglichkeit gesehen, um wenigstens eines der beiden Strampelbeinchen stillzuhalten, während er versucht, die frische Windel anzulegen. Ich hätte ihm ja helfen können, aber sein Kampf mit diesem winzigen Etwas ist so niedlich anzusehen gewesen, dass ich ihn alleine habe werkeln lassen.
„Damit du weiter das Wickeln übernehmen kannst?", frage ich lachend. Aber Krotos bleibt ernst. „Es ist alles andere als einfach, sich alleine um ein Baby zu kümmern. Das haben wir ja in den wenigen Tagen ja schon zu spüren bekommen. Natürlich könntest du auch bei einem anderen Zodiak und seinem Wächter unterkommen, aber ich glaube – ich hoffe zumindest, dass du dich hier schon etwas eingelebt hast."
Das habe ich, sogar mehr als beabsichtigt. „Das würde aber bedeuten, dass du lange Zeit nicht in deinem Bett schlafen kannst", gebe ich zu bedenken. Melete hat mir anvertraut, dass Krotos mindestens einen Tag in der Woche als Mensch verbringt und dann auch in einer Lage schläft, die ihm keine Rückenschmerzen bereitet. Ich habe nie zuvor darüber nachgedacht, wie kompliziert der Alltag sein kann mit sechs Gliedmaßen und einer im rechten Winkel geknickten Wirbelsäule. Für natürliche Kentauren ist es wohl erträglicher, aber Krotos wurde ja als Mensch geboren und hat sich dann umgewöhnen müssen.
„Das werde ich auch überstehen. Ganz davon abgesehen kann ich auch als Mensch im Stroh pennen und einen Raum anbauen ist auch kein Problem."
„Drabik würde sich dann nur bestätigt sehen", resümiere ich. Bei der Erinnerung an diese Szene muss ich erneut lachen. „Sein Gesicht war zu komisch – er dachte wirklich, wir beide – dabei weiß er gar nicht, dass du zum Menschen werden kannst. Wie stellt er sich das denn dann vor?"
Krotos legt Dikaia, die während des Anziehens einfach eingeschlafen ist, ins Babykörbchen zurück und kommt zu mir. „Nein, aber er weiß etwas anderes. Mein Menschenteil reicht weiter herunter als man auf dem ersten Moment sieht. Ich kann ihn in meiner Pferdebrust verbergen, aber auch zum Vorschein bringen."
„Äh – was?" Im Moment stehe ich wirklich auf der Leitung.
Lächelnd nimmt Krotos meine Hand und legt sie auf seine Brust. Und dann führt er sie tiefer.
„Oh!" Jetzt habe ich begriffen. Und zwar mehr als nur diese eine Tatsache. „Sag mal, was Drabik da noch gesagt hat ..."
„Das stimmt."
„Aber – du stehst doch auf hübsche Frauen und auf Abwechslung ..."
„Stimmt auch. Ich stehe auf Frauen mit einem reizvollen Lächeln, auch oder vielleicht gerade dann, wenn dahinter Reißzähne wie aus Milchglas gefertigt erscheinen; auf Frauen mit einem lebhaften Geist, einem tapferen Herzen und einem Körper wie She-Hulk, die ich in den Comics übrigens immer sehr hübsch fand. Ja, ich habe mitbekommen, dass du dich mit ihr vergleichst." Er grinst mich an. „Ich muss dir mal meine Comics zeigen, dann verstehst du das vielleicht. Und Abwechslung – du meinst im sexuellem Sinne, oder?"
Ich nicke betreten.
„Dann überleg mal, wie viele Möglichkeiten ich habe dank meines Doppelwesens. Und wie viele du mit deinen eigenen Erscheinungsformen noch einbringst. In der Hinsicht brauchst du dir keine Sorgen zu machen."
Da hat er vermutlich recht. Allein seine Worte haben in mir schon allerhand Ideen wachgerufen, die ich besser schnellstens wieder vergesse. Es ist ja nicht so, dass ich Krotos nicht auch wollen würde. Aber ... „Ein Zodiak und ein Wächter", gebe ich zu bedenken. „Das kann zum Problem werden. Wenn die Beziehung wieder auseinandergeht und beide weiterhin sich ständig im Kreis der Ekliptik begegnen ..."
„Ich gebe zu, dass ich ziemlich leichtfertig bin", unterbricht mich Krotos. „Aber im Zusammenhang mit dir habe ich nie an eine kurzzeitige Beziehung gedacht. Eher an die bis-in-den-Tod-Sache!"
„Aber das kann bei uns sehr lange dauern", wende ich ein. „Ich meine, so bis zum Tod." Unsterblich sind wir nicht. Aber so etliche tausend Jahre können es durchaus werden.
„Stimmt." Krotos beugt sich zu mir und küsst mich. Sehr sanft, aber fragend. Und ich antworte ihm. Seine Reaktion darauf benimmt mir den Atem, bis er mich endlich loslässt.
„Keto, lass es uns ganz langsam angehen", schlägt er vor. „Schritt für Schritt, bis wir beide ganz sicher sind. Wir haben ja Zeit. Sehr viel Zeit."
„Einverstanden." Ich recke mich zu ihm hoch. „Sehr viel Zeit, um das hier auszukosten." Diesmal küsse ich ihn.
In diesem Moment zappt Melete herein. „Oh! Störe ich euch? Tut mir üüüberhaupt nicht leid!" Sie nimmt das Babykörbchen hoch und stiefelt zur Tür. „Ich nehme sie in mein Zimmer mit, ja? Und übrigens – gut, dass ihr's jetzt kapiert habt – das wurde ja echt mal Zeit!"
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