Wunden
„Mann, du hast vielleicht eine Verdrängung", meint Krotos lachend, als Melete und ich auf das gerade eben noch trockene Land taumeln, ich natürlich wieder in Menschengestalt. Aber das Lachen vergeht dem Schützen sofort, als er mich genauer ansieht. „Keto, du blutest ja überall!"
„Sag mir mal was Neues!" Dass mir das Blut den Rücken herunterläuft und meine zerbissenen Füße unter meinem Gewicht noch mehr schmerzen, ist mir auch schon aufgefallen. Aber egal, das sind alles Wunden, die heilen werden. Im Gegensatz zu Astraias Wunden.
Ich sehe mich nach Eros und Aphrodite um. „Wo sind die Fische hin?" Hoffentlich habe ich ihnen keinen allzu großen Schaden zugefügt.
„Die kamen plötzlich aus dem Wasser geschossen, wie von einer Schleuder abgefeuert." Pasiphae bemüht sich ganz offensichtlich, ernst zu bleiben. „Mitten in der Luft wurde der eine zu Eros, packte den anderen, flatterte wie ein noch nicht flügges Küken ziellos im Kreis herum und landete dann sehr ungeschickt mit einem zweieinhalb Meter langem Schwertfisch auf den Armen ..."
„Marlin", unterbricht Stier. Seitdem er ein Sternzeichen ist und darob mit menschlichen Verstand gesegnet, liest er alles, was Pasiphae ihm hinhält und für ihn umblättert. Und er merkt sich das Gelesene sehr gut. Seitdem ist mir auch klar, wer ihrem gemeinsamen Sohn den Wissensdurst und die Belesenheit vererbt hat; Pasiphae nämlich ist alles andere als ein Bücherwurm.
„Ist ein Marlin kein Schwertfisch?", will Pasiphae wissen.
„Nein, ein Speerfisch", Stier und ich haben gleichzeitig gesprochen.
„Naja, jedenfalls ist Eros erstmal umgekippt, weil so ein Schwert-, na gut, Marlin, eben doch ganz schön schwer ist. Er hat sich aufgesetzt, sich erstmal ausgiebig gekratzt und seine unteren Regionen untersucht. Dann hat er uns gesehen und sich wohl ziemlich erschreckt. Er hat seine Kinnlade wieder aufgesammelt und sich und Aphrodite schleunigst weggezappt."
Ich grinse trotz meiner Schmerzen, die ich jetzt erst so richtig spüre. Typisch für Pasiphae, es so auszudrücken.
„Schön und gut, aber wir müssen erstmal Keto verarzten", schimpft Krotos. „Was war da unten überhaupt los?"
Während Pasiphae mich in ein Tuch einhüllt, das sie von wer weiß wo hergezaubert hat, erklärt Melete: „Krebs und die Fische haben uns angegriffen. Sie wollten Keto töten und diese die Zodiaks natürlich nicht. Die Fische konnte sie aus dem Meer schleudern und Krebs habe ich dann soviel Geschicklichkeit entzogen, dass er sich gar nicht mehr bewegen kann."
„Ertrinkt er jetzt?", fragt Pasiphae erschrocken. Melete lacht. „Nein, in ein paar Stunden ist er wieder in Ordnung. Und er kann ja unter Wasser atmen."
„Alles gut und schön, aber jetzt geht's erstmal nach Hause", unterbricht Krotos und nimmt mich auf die Arme. Bei meiner Größe schaffen das aus unserem Kreis aber wirklich auch nur er oder Herkules. Irgendwie sind mir die Arme des Schützen aber lieber als die des Helden der zwölf Aufgaben.
„Wir zappen direkt zurück", fährt Krotos fort. „Stier, Pasiphae, ihr wisst, wo wir wohnen, klopft dann einfach." Kein Zodiak kann in das Haus eines anderen zappen. Auch ich muss von Krotos oder Melete mitgenommen werden, um direkt in ihrem Stallhaus zu landen.
„Okay, wir kommen nach", verspricht Pasiphae. „Ich zappe aber erst zu mir und bringe euch dann Wundheilsalben mit." Es hat durchaus seine Vorteile, mit einer Tränkemischerin und Zauberin befreundet zu sein, denke ich. Inzwischen gibt es kaum noch eine Stelle an meinem Körper, die mir nicht wehtut. Von meinem Rücken, dem linken Arm und dem rechten Fuß rinnt unablässig Blut herunter. Am Rücken scheint es kaum noch heile Stellen zu geben und die Fußsohle juckt erbärmlich, weil Sand in die offene Wunde gekommen ist. Mir wird regelrecht schlecht davon.
„Gute Idee", höre ich Krotos noch sagen, dann verschwimmt meine Sicht. Nicht weil er gezappt ist, sondern weil ich umgekippt bin.
„Geh mir doch endlich mal aus dem Weg, du Riesentrampel!" Pasiphaes genervtes Nörgeln ist das Erste, was ich wahrnehme. Mir ist immer noch schwarz vor Augen und ich habe keine Ahnung, was die Zauberin so aufbringt, aber nur für den Fall, dass ich der angesprochene Trampel bin, versuche ich, zur Seite zu rutschen. Das trägt mir prompt einen Klaps ein.
„Du hältst gefälligst still! Und du da hörst mal auf zu giggeln und reichst mir den Krug mit dem blauen Muster und einen sauberen Lappen!" Typisch Pasiphae. Sie managt es mühelos, sich mit mehreren Leuten über verschiedene Dinge zum gleichen Zeitpunkt zu unterhalten. Vor allem, wenn sie etwas organisieren muss, behält sie alle und alles im Blick. Und obwohl sie jeden lediglich mit „du" betitelt, zweifelt kaum jemand dran, wer jeweils gemeint ist.
„Ist sie aufgewacht?" Das ist doch nicht etwa Krotos? Ich erkenne zwar seine Stimme, aber so unsicher und flehend habe ich ihn noch nie sprechen gehört.
„Sie kommt auf jeden Fall zu sich", informiert ihn Pasiphae. „Und wenn du deinen dicken Schädel und deine breiten Schultern mal aus meinem Blickfeld nehmen würdest, könnte ich auch genauer nachsehen, wie es ihr geht!"
Aha, Krotos ist wohl der Trampel. Na gut, ihn kann man so respektlos ansprechen. Einige andere aus unserem Kreis hätten Pasiphae die offenen Worte schwer übelgenommen, aber der Schütze ist selten beleidigt und absolut nicht nachtragend. Und Melete ist auch nicht die Art von Wächter, die sich in einem solchen Fall ihrem Zodiak wütend vor ihren Zodiak stellen; sie verlässt sich darauf, dass dem schlagfertigen Schützen schon selbst eine Entgegnung einfällt. Was ihm heute aber seltsamerweise nicht gegeben ist.
„Aber ..." Hört sich nicht so an, als wolle Krotos von meiner Seite weichen. Mir kommt die Idee, die Augen zu öffnen, um mich dessen zu vergewissern. Helfen tut es allerdings wenig, denn meine Sinnesorgane zeigen mir lediglich schwarzes Wabern und vage Gestalten dahinter.
„Sieh doch, wie verdreht sie guckt!" Krotos' Stimme klingt panisch. „Mach doch was, Pasiphae!"
„Du lässt sie ja gar nicht dran", bemerkt Melete trocken aus einer ganz anderen Richtung. „Hier, ist das Tuch geeignet?"
„Ja, danke dir. Und du!" Ich muss nichts sehen, es ist unüberhörbar, mit wem Pasiphae jetzt spricht. „Kusch! Aus! Ab mit dir in die Ecke! Ansonsten fliegst du ganz raus! Und was dich anbetrifft, du bleibst auf dem Flur! Ein Riesenvieh hier drin reicht mir völlig!" Ich tippe mal, dass das Letzte an Stier gerichtet ist. Recht hat die einstige Königin auf jeden Fall. Krotos' Zimmer ist zwar groß, aber ein Kentaur und ein ausgewachsener Auerochse brauchen nun mal etwas mehr Platz als Menschen.
Meletes Kichern mischt sich mit unwilligem Murmeln und schweren Huftritten. Pasiphae atmet hörbar auf. „Endlich! Melete, benimmt der sich immer so?"
„Wenn jemand krank oder verletzt ist? Ja. Wenn etwas kaputtgeht, kann er es reparieren oder erneuern, wenn jemand angreift, kann er sich wehren. Bei Krankheiten und Verletzungen ist er hilflos und das macht ihn ganz kirre."
Das erklärt es natürlich. Ich hatte mich schon gewundert, dass der Schütze meinetwegen so außer Fassung geraten sollte.
„Blut sehen kann er auch nicht", fährt Melete fort. „Also nicht so, dass er umkippt oder würgen muss, aber er kann nicht unterscheiden, wie gefährlich eine Wunde ist. Sobald jemand blutet, befürchtet Krotos, dass derjenige sterben muss."
Der in der Ecke geschickte Kentaur schnaubt leise, sagt aber nichts dazu. Auch das zeigt mir, wie recht Melete hat. In seiner normalen Verfassung wäre ihm schon längst eine geistreiche und witzige Antwort eingefallen.
Pasiphae streicht irgendetwas auf meine Füße. Es brennt etwas. „Autsch!"
„Du tust ihr weh!", jammert Krotos auf der Stelle.
„Das muss so sein", erwidert Pasiphae barsch und umwickelt meinen rechten Fuß. Mein Blick klärt sich immer mehr und ich erkenne nun, dass ich auf Krotos' Bett liege. Pasiphae steht am Bettende und verbindet meine blutenden Füße, Melete taucht gerade ein weiteres Tuch in eine Wasserschale auf dem Nachttisch und Krotos hat sich tatsächlich in die am weitesten entfernte Ecke des Zimmers verzogen.
Um mich von dem Schmerzen abzulenken, fokussiere ich mich auf den Schützen. Er stampft unruhig mit den Hufen, schlägt nervös mit dem Schweif und ringt die Hände. Seiner blassen Gesichtsfarbe nach kann er wirklich kein Blut sehen; trotzdem beobachtet er sehr genau, was die Tränkemischerin mit mir anstellt. Seine Mimik ist einfach zum Schreien; die hochgezogenen Brauen und weit aufgerissenen Augen zeigen seine Panik, das Kinn ist trotzig vorgeschoben und die Lippen zum Schmollmund verzogen. Der Anblick bringt mich zum Lachen.
Mein Kichern glättet Pasiphaes gerunzelte Brauen, zaubert ein Lächeln auf Meletes pikantes Gesichtchen, ruft ein leises Muhen aus Richtung des Flurs hervor und lässt Krotos für einen Moment erstarren, bevor er sich etwas entspannt.
„Siehst du, sie lebt noch", bemerkt die Muse trocken zu ihrem Zodiak.
„Ich habe auch vor, das beizubehalten." Meine Stimme quält sich mühsam durch eine raue Kehle und klingt ungewohnt schwach und heiser.
„Wirst du auch." Pasiphae wendet sich an Krotos. „Komm mal her, du Lackel. Jetzt darfst du deine Muskelpakete einsetzen. Dreh sie mal auf den Bauch."
Das erledigt Krotos mit einer Zartheit, die schon rührend ist. Ich bin doch kein Marzipanpüppchen, sondern ein Ungeheuer, das schon Schlimmeres überstanden hat. Die meisten Männer hätten mich wesentlich unsanfter umgebettet. Allerdings wäre ich für die meisten Männer auch ein ziemlich schwerer Brocken, für den riesigen Kentauren hingegen wohl auch nur ein zartes Pflänzchen. Seltsames Gefühl.
„Oh wei, die haben ihr ganz schön was angetan", haucht Melete, als sie sich meinen Rücken genauer ansieht.
„Ja, schau mal her, die meisten Dornfortsätze sind beschädigt", bemerkt Pasiphae sachlich.
„Was ist das?" Melete und Krotos stellen die Frage gleichzeitig. Ich muss grinsen. Das passiert – passierte - Astraia und mir auch oft. Wenn man hunderte von Jahren zusammenlebt, kommt das einfach irgendwann von selbst. Wobei mir gerade aufgeht, dass die Drillinge das von vorneherein so draufgehabt haben. Hört sich immer wieder interessant an, wenn Helenas samtige Altstimme, Polydeukes' kratziger Bass und Kastors klarer Bariton auf diese Weise zusammenkommen.
Pasiphae antwortet nicht; sie tastet sich meine weitgehend freigelegte Wirbelsäule entlang auf der Suche nach Knochensplittern. Stier kann die Antwort aber auch liefern: „Das sind Knochenauswüchse an den Wirbeln, die nach außen ragen. Die kannst du fühlen, wenn du den Rücken abtastest."
„Ach, die meinst du", jetzt ist von etwas die Rede, was Krotos kennt und prompt klingt seine Stimme sicherer. „Da sind viele Frauen empfindlich. Die meisten reagieren sehr positiv, wenn man da mit dem Daumen drüberstreicht."
„So genau wollten wir das nicht wissen", rügt Melete. Krotos registriert den Tadel gar nicht, er denkt schon weiter. „Aber das muss doch höllisch wehtun, wenn sie dort verletzt ist! Warum haben sie das getan? Und müssten dann nicht Ketos gesamter Rücken aufgeschnitten sein?"
Jetzt kläre ich das besser auf. „Als Seeschlange sind diese Fortsätze meine Flossenstrahlen, ragen aus dem Rücken heraus und konnten daher von den dreien gebissen, beziehungsweise gezwickt werden."
„Was ...", beginnt Melete, wird aber unterbrochen. Pasiphae ist mit dem Stochern fertig und wendet sich an die Muse. „Zum Glück sind es nur drei Stellen, an denen sie ganz durchgebissen haben. Hol mal die rote Schale aus dem Wasserbad und halt sie mir hin, dann klebe ich die Stücke wieder an."
Dem Platschen nach gehorcht Melete, aber sie hat auch noch was zu sagen. „Ja, aber was ..."
„Wieso tut das nicht weh?" Es ist raus, bevor ich merke, dass ich Melete das Wort abschneide. Inzwischen bin ich wieder ganz in der Realität angekommen und es irritiert mich, dass ich Pasiphaes Berührungen zwar spüre, aber keine Schmerzen empfinde.
„Pasiphae hat dir vorhin eine Paste aufgetragen, die dich betäubt", erklärt Stier.
Jetzt endlich setzt sich Melete durch: „Was sind Strahlenflossen?"
„Flossenstrahlen", verbessert Stier. „Das sind die Gräten, mit denen Keto ihren Flossensaum spannt und bewegt." Stier ist zwar Vegetarier, Pasiphae aber nicht. Scheints hat er sie öfters Fisch essen sehen.
„Gräten!", mokiert sich Krotos. „Erlaube mal, sie ist doch kein Fisch!"
„Gewisse anatomische Ähnlichkeiten sind da aber schon vorhanden", stellt Pasiphae klar. „So, jetzt kann ich nähen. Melete, hältst du bitte die Haut zusammen?"
Von der Muse kommt ein Würgelaut. „Ich ... ja, ich machs."
„Verschwinde, Krümel", sagt Krotos barsch und seine Huftritte kommen näher. „Schon gut, ich kümmer mich drum, Pasiphae. Melete hat Angst vor Nadeln und Spritzen und kann da nicht hingucken."
„Und du?", fragt Pasiphae, während sie Krotos' Hände auf meinen Rücken legt und sie so platziert, wie sie sie haben will.
„Angenehm finde ich das auch nicht", gesteht Krotos. „Ich mach eben die Augen zu. Aber ich halte still und bibbere nicht dabei."
Daraufhin beginne ich zu zittern. Nicht aus Angst, sondern weil ich schon wieder kichern muss. Das trägt mir einen erneuten Klaps ein. „Stillhalten! Beide!"
„Ist gut, Mama!" Ich hatte wirklich vor, mich ruhig zu halten, aber da der Schütze gleichzeitig mit mir gesprochen hat, kann ich nicht aufhören mit Lachen. Gleichzeitig kommen mir die Tränen. Astraia hätte sich köstlich über diese Situation amüsiert, aber ich kann sie ihr nicht mehr schildern.
„Das ist ja mal ne fröhliche Operation", stellt Stier von der Tür aus fest.
Krotos beugt sich tiefer zu mir herunter und fixiert meinen Oberkörper mit seinen Armen. „Jetzt kann sie nicht mehr wackeln. Leg los!" Er legt seinen Mund an mein Ohr und flüstert mir zu: „Alles gut, Keto. Es ist okay, wenn du hysterisch bist. Versuch nicht, dich zu beherrschen, um stillzuliegen, ich mach das schon."
„Danke sehr." Pasiphae sticht die Nadel in meine Haut und beginnt zu nähen. Ich schließe die Augen und entspanne mich ein wenig bei dem Gedanken, so gute Freunde zu haben. Ich werde Astraia mein ganzes, restliches, vermutlich noch langes Leben lang vermissen. Aber ich werde nicht alleine sein.
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