Warum?
„Was ich wissen möchte", bemerkt nun Kastor, „ist vor allem, warum tötet jemand einen Zodiak? Ich meine, wir haben unsere Wächter, aber dass sie unser Leben schützen sollten, ist mir völlig neu." Er wirft seinem Drilling Helena einen liebevollen Blick zu. „Nichts gegen meine Schwester, aber wenn es um unser Leben geht, werden Polydeukes und ich uns selbst verteidigen und Helena mit dazu. Ich bin immer davon ausgegangen, dass die Wächter uns vor allem erden sollen, damit wir nicht den Kontakt mit dem Boden verlieren und dass sie uns davor schützen sollen, dass jemand über uns das Licht der Prophezeiung beeinflusst. Es sind derer viele, welche die Macht über die Zukunft ergreifen wollen und zu diesem Zweck die Zodiaks unter ihre Kontrolle bringen wollen, das weiß ich ja. Aber einen Zodiak töten? Das verstehe ich nicht."
Polydeukes, der dritte Drilling, nickt dazu. „Und noch dazu Astraia, die ja nun absolut die Beste unter uns ist – war. Leider auch diejenige, die am meisten Schutz brauchte. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass Keto auch dafür sorgen kann. Aber nun – hätten wir nur irgendetwas geahnt, wir hätten uns doch auch um sie gekümmert."
„Ja", schließt sich Chrysomallos ihm an. „Ich will ja nichts gegen Keto sagen. Es ist doch klar, dass sie auch mal schlafen muss und nicht ununterbrochen um Astraia herum sein konnte. Was ja auch nicht tragisch ist, da ein Versuch, einen Zodiak unter Kontrolle zu bringen, nicht mal eben so in ein, zwei Minuten erledigt ist und der Wächter genügend Zeit hat, um darauf zu reagieren. Aber so ein Mord ist schnell geschehen. Hätten wir gewusst, dass wir in Gefahr sind, getötet zu werden, hätten wir mehr als einen Wächter gefordert."
Sein Wächter Phrixos ist der gleichen Meinung. „Ich stelle jedenfalls den Antrag, Helle mit einzubinden, wenn Chrysomallos' Leben in Gefahr ist. Und für die anderen gilt das Gleiche. Ein Wächter genügt nicht, jedenfalls nicht bei denjenigen, die körperlich wehrlos sind."
„Hey, so schwach bin ich nun wirklich nicht", protestiert Chrysomallos.
„Auch der Stärkste kann überrascht werden", gibt Ganymed zu bedenken. „Ich meine – Krebs und Skorpion zum Beispiel sind gepanzert, Löwe und Stier sind sehr wehrhafte Geschöpfe, die Dioskuren" er blickt zu Kastor und Polydeukes hinüber, "sind wie auch Krotos hervorragende Kämpfer. Aber würde uns jemand ans Leben wollen oder wir übereinander herfallen – Krotos beispielsweise oder Eros könnten die Hälfte von uns mit ihren Pfeilen erledigen, bevor wir auch nur an sie herankämen."
„Hey, ich würde niemals ..." Krotos' empörter Einwand wird von Apollon abgewürgt. „Das reicht!"
Augenblicklich verstummt das Getuschel im Hintergrund. Alle sehen unseren Chef an.
„Es ist wahr, mit einem Anschlag auf das Leben der Zodiaks haben wir weniger gerechnet", gibt Apollon nun zu. „Auszuschließen war dies aber nie. Ich denke, Kastor hat da eine sehr interessante Frage gestellt. Wenn wir ein Motiv finden, können wir die möglichen Täter enger einkreisen.
Die Kontrolle über einen Zodiak kann jemanden eine ziemliche Macht verschaffen und die Zukunft beeinflussen. Denn auch wenn wir diese nur sehen, nicht aber lenken können; schon eine falsche Weissagung kann vieles bewirken – unter anderem eben auch, die Zukunft ändern, weil sich diejenigen, die ihr glauben, auch dementsprechend verhalten."
„Das ist auch bei wahren Weissagungen so", murmelt Kassandra. „Wenn man mir geglaubt hätte, als ich sagte, Troja wird wahrscheinlich fallen, dann hätten Vater und Brüder sich besser vorbereitet und vielleicht doch gesiegt. Vor allem hätten sie nicht diese dämliche Statue reingeholt."
Apollon gibt ihr recht. „Allein die Prophezeiung selbst kann schon die Zukunft in andere Bahnen lenken. Das ist ein verständliches Motiv, einen Zodiak kontrollieren zu wollen. Ihn zu töten wird ganz andere Dinge bewirken – nicht zuletzt den möglichen Zusammenbruch der gesamten Ekliptik. Die Frage ist, wer könnte so etwas wollen?"
„Unsere lieben Kollegen", platzt Aphrodite heraus. „Die fallen mir da als erste ein. Die wollen doch nicht, dass man die Zukunft auch nur erahnen kann!"
„Euer Pantheon?" Fedelm wird aufmerksam. „Ich glaube, da hast du recht. Unseres ist auch nicht gerade erbaut davon. Einzelne Seher ja, aber die haben ihre Visionen von Epona und Taranis zu empfangen und brav nachzuplappern. Das ist mir damals schon auf den Geist gegangen, als ich noch Seherin in Irland war. Den keltischen Göttern würde ich sowas auch zutrauen."
„Das ist bei uns nicht anders", fügt der Spökenkieker an, der an Veledas anderer Seite sitzt und ihren Zettel vorliest. Veleda selbst spricht niemals; ob sie stumm ist oder sich nur geschworen hat, ausschließlich andere für sich sprechen zu lassen, weiß keiner aus unserem Kreis; aber wir lassen sie einfach gewähren. „Odin und Mimir hüten ihre Geheimnisse eifersüchtig und wollen streng regeln, welche Informationen den Menschen zugänglich gemacht werden und welche eben nicht."
Herakles widerspricht. „Das alles wären aber nur Gründe dafür, einen oder mehrere Zodiaks unter ihre Kontrolle zu bekommen. Nicht aber, sie zu töten!" Der nemeische Löwe neben ihm, dessen Stuhl unter dem Gewicht des gewaltigen Tieres beinahe einbricht, brummt zustimmend. „Das habe ich auch erfahren. Kontrolle ist den Göttern wichtiger als der Tod der Feinde. Dann hätte der Spaß ja ein Ende. Ich spiele ja auch manchmal gerne mit meiner Beute, aber ich finde dann auch sehr bald ein Ende. Die Götter hingegen wollen bis in die Ewigkeit spielen. Sie waren damals ziemlich sauer, als Eurystheus Herakles befahl, mich zu töten; Hera vor allen. Damit wars erstmal aus damit, mich auf jeden zu hetzen, der ihr lästig war."
Apollon nickt bedächtig. „Da muss ich euch zustimmen. Keines der Pantheons ist der Ekliptik sonderlich zugeneigt, aber bei keinem kann ich eine Motivation erkennen, den Kreis brechen zu wollen." Er wirft einen tiefen Blick in Kassandras Dekolleté. Helenos auf deren anderer Seite stupst seine Schwester an und errötend zupft sie den verrutschten Stoff zurecht. Apollon seufzt kaum vernehmlich und fährt fort: „Es ist also die Frage zu klären, wem könnte der Zusammenbruch der Ekliptik einen Vorteil bringen?"
„Ich könnte ja nachschlagen", Amalthea legt die Hand auf das dicke Buch, welches sie ständig herumschleppt und reibt Daumen und Zeigefinger der anderen Hand aneinander. Ich kann es nicht fassen, dass diese geldgierige Sybille aus Cumae selbst aus dieser Situation noch einen Vorteil ziehen will. Krotos' Arm spannt sich fester um meine Schultern und Melete flüstert mir zu: „Lass es, ist doch sinnlos." Beide müssen wohl meine Anspannung gespürt haben. Irgendwie fühle ich mich sehr geborgen bei der Erkenntnis, dass die beiden mich genau beobachten und beim kleinsten Anzeichen, dass ich Hilfe oder Trost brauchen könnte, sofort reagieren. Ein wenig füllt ihre Anteilnahme die furchtbare Leere, die Astraias Tod hinterlassen hat.
Apollon lehnt ab. „Dein Buch ist für Informationen dieser Art nicht geeignet; es bezieht sich lediglich auf Ereignisse, die auf jeden Fall stattfinden werden. Wäre Astraias Tod ein feststehendes Ereignis gewesen, hättest du es sicher schon zuvor gelesen und hättest uns sicherlich gewarnt", er nimmt sie fest ins Auge und Amalthea errötet doch tatsächlich. „Wer aber einen Vorteil aus der Zerstörung der Ekliptik ziehen kann, ist ein Aspekt der Gegenwart und somit kaum in deiner Schrift zu finden." Er blickt zur Göttin der Nekromantie, die immer noch Sprüche murmelt: „Hekate?"
Auf deren Stirn haben sich Schweißtropfen gebildet. „Es geht einfach nicht. Ich kann Astraia nicht finden. Ihre Seele muss doch in einer der Totenwelten angekommen sein, aber nein - nichts. Wer immer sie umgebracht hat, er scheint auch ihren Geist vernichtet zu haben!"
„Das ist aber nur wenigen möglich!", fährt der Spökenkieker auf und springt erregt auf und ab. „Wenn man der Jungfrau die Seel' nehmen tut, kann die Ekliptik nimmer wiederhergestellt werden!"
„Das kann sie schon", beruhigt ihn Apollon. „Aber es ist sehr viel schwieriger und vermutlich müssen wir auch ein anderes Sternzeichen wählen."
„Das würde die Astrologen entsetzen, erst kam der Schlangenträger neu, dann noch die Jungfrau ersetzen, bleiben sie uns dann noch treu?", will Michel wissen.
Apollon winkt ab. „Darüber reden wir später. Ich jedenfalls hege keinen Zweifel, dass die Menschen weiterhin an Astrologie und Visionen glauben werden; sie haben so viel Angst vor der Ungewissheit ihrer Zukunft, dass sie die Beruhigung durch die Propheten brauchen."
„Allerdings", murrt Pan. „Wenn ich bedenke, wie sie aus mir, dem Gott des Waldes, einen Steinbock gemacht haben – die Menschen machen sich alles so zurecht, wie sie es haben wollen. Sie werden sich schnell umgewöhnen und sich eine Mär schaffen, warum das so geschehen ist." Er schüttelt verärgert die fast 80 cm langen Hörner, die jenen der Kretischen Wildziege gleichen, von der er auch seine Bocksmerkmale hat. Ich kann mir vorstellen, dass es ihn verärgert, in der Astrologie zum Steinbock mutiert zu sein, der ihm zwar verwandt, aber alles andere als ein Waldbewohner ist. „Meinen Fischschwanz haben sie auch ignoriert", fährt Pan missmutig fort. Die Erinnerung daran bringt ihn auf eine andere Idee und er fährt erregt auf. „Was ist, wenn Typhon wieder einmal dahintersteckt?"
Unruhe kommt im Kreis auf. Diejenigen, die von Griechen abstammen – und das sind eigentlich alle Zodiaks und Wächter sowie ein großer Teil des Rates – erinnern sich noch an den Giganten, der mehrmals versucht hat, die Weltherrschaft zu übernehmen und die Götter zu vernichten. Seinetwegen bekam Pan die Gestalt eines Ziegenfisches, die ihn überfällt, sobald er mit Salzwasser in Berührung kommt. Als er damals auf der Flucht vor Typhon versucht hat, in der Gestalt eines Fisches ins Mittelmeer zu flüchten, ist ihm die Verwandlung nur halb geglückt. Auf diese Weise ist er dann auch als Sternzeichen Ziegenfisch, wie der Steinbock ursprünglich hieß, in die Ekliptik aufgenommen worden.
Aphrodite rutscht unruhig auf ihrem Stuhl herum, was interessante Dinge mit ihren nur knapp bedeckten üppigen Formen anstellt und einigen Herren im Kreis Stielaugen verschafft. Nicht umsonst ist sie die Göttin der Schönheit. „Das ist möglich. Wenn Typhon wieder aktiv geworden ist, droht uns allen große Gefahr! Das müssen wir auf der Stelle klären!"
„Ich werde nachher sofort Zeus kontaktieren, ob er etwas davon weiß", verspricht Apollon ihr. Aphrodites Furcht kann ich gut nachvollziehen, schließlich ist sie mit dem damals noch sehr kleinen Eros ebenfalls verfolgt worden. Ihr allerdings ist die Verwandlung ihrer beiden Körper in Fische geglückt und sie hat sich und ihr Kind in den Wellen des Euphrat in Sicherheit bringen können.
Auch Apollon versteht Aphrodites Beunruhigung und beschwichtigt sie. „Sollte Typhon dahinterstecken, werden wir ihn gemeinschaftlich besiegen können, zumal wir uns jetzt mit den anderen Pantheons einigermaßen gut stehen und sie uns sicher zu Hilfe kommen werden. Typhon ist eine Bedrohung für die ganze Welt, wie auch die Midgardschlange und die Asen wissen, dass wir ihnen gegebenenfalls gegen diese beistehen werden."
Eros hebt stolz den Kopf. „Zudem sind wir stärker geworden und ich bin nun erwachsen! Typhon hingegen dürfte geschwächt sein von der langen Gefangenschaft. Dafür spricht ja schon, dass er sich das schwächste Mitglied von uns ausgesucht hat." Er wirft mir einen gehässigen Blick zu. „Und offenbar auch das am schlechtesten bewachte."
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