Verdachtsmomente

„Habt ihr für mich auch eine Tasse?" Apollon zieht sich einen Sessel heran. Melete als Gastgeberin hüpft hoch und holt ein Gedeck für unseren Chef aus der Anrichte. Der berichtet unterdessen: „Wir haben mittlerweile alle Spuren gesichtet, aber kaum Neues erfahren. Am Strand und in der näheren Umgebung ist nichts zu finden, was auf die Anwesenheit einer Person hindeutet, die nicht zum Kreis gehört.

Der Aufenthaltsort unserer Mitglieder zu diesem Zeitpunkt lässt sich in den meisten Fällen genau bestimmen; Krotos, Pan, Ganymed, Eros und Aphrodite, Chrysomallos und Stier waren im Dienst, was bedeutet, dass ihre Wächter kein Alibi haben, mit Ausnahme von Aigina, die mit Kassandra zum Schwimmen gegangen ist. Skorpion war alleine auf der Jagd, Phaeton gibt an, geschlafen zu haben; beide haben niemanden, der das bestätigen kann. Keto hat ebenfalls geschlafen. Drabik war auf einer Kneipentour, kann sich aber nicht mehr auf die einzelnen Lokale besinnen. Pythia hat sich mit ihrem heiligen Rauch eingenebelt und erinnert sich zwar an ihre Visionen, die sie auch brav aufgeschrieben hat, aber nicht, wann sie wo war. Baba Wanga war wie üblich in ihren Kammern und hat gestrickt; auch hier gibt es keinen anderen Nachweis mit Ausnahme des Pullovers, der beinahe fertig ist und dessen Wolle sie erst zwei Tage zuvor von Helena bekommen hat."

„Baba Wanga doch nicht!", explodiert Krotos. „Unserem Großmütterchen willst du doch wohl nicht ernstlich einen Mord anhängen!"

„Natürlich nicht", Apollon nimmt sich ein Schinkenbrot. „Ich zähle lediglich auf, wer kein Alibi hat. Wobei auch das nur ein schwacher Hinweis ist, denn wie Ganymed schon erwähnte, ein Mord ist schnell geschehen. Warum sitzt du eigentlich so steif da, Keto?"

„Ihr Rücken ist von oben bis unten zerbissen", erklärt Stier, bevor mir eine passende Ausrede eingefallen ist.

„Wie hast du das geschafft?", will Apollon wissen.

Lügen hat jetzt keinen Zweck mehr. „Krebs und Fische haben mich angegriffen und meine Rückenflosse zerfetzt."

„Bei Zeus' Hämorrhoiden!" Apollon ballt die Faust und hätte sie auf den Tisch geschlagen, hätte Krotos ihn nicht festgehalten. „Vorsicht, Melete hasst verschütteten Tee!"

„Und ich hasse es, wenn man meinen Anordnungen nicht folgt!", schnappt Apollon. „Ich habe klar und deutlich gesagt, dass du nicht verfolgt werden darfst, bevor es eindeutige Beweise gibt, Keto. Denen werde ich noch was erzählen!"

„Hast du selbst eigentlich ein Alibi?", lenkt Pasiphae ihn ab. Apollon stutzt und wird dann rot. „Ähm – ja. Helenos kann bestätigen, wo ich war."

Aha. Kassandra war schwimmen und der treusorgende Bruder Helenos weiß, wo Apollon in diesem Moment war. Keine weiteren Fragen nötig; Apollons Alibi ist unanfechtbar.

„Jedenfalls haben wir weder Beweise für deine Unschuld noch Hinweise auf deine Schuld gefunden", Apollon wechselt schleunigst das Thema. „Wie geht es dir jetzt, Keto? Es ist einige Tage her, dennoch ist die Wunde noch sehr frisch. Kannst du schon darüber sprechen?"

Ich nicke. „Ich will ihren Mörder finden. Da muss ich mich einfach zusammenreißen." Und am besten finde ich ihn, bevor das Baby schlüpft. Aber das verschweige ich dem Chef für den Moment besser.

„Gut. Unsere Ärzte und auch einige aus den anderen Pantheons haben Astraias L- Körper untersucht. Alles deutet darauf, dass Astraia zuerst von hinten niedergeschlagen und dann betäubt wurde. Danach hat jemand ihren Brustkorb geöffnet und das Herz herausgeholt."

Ich habe mich darauf vorbereitet geglaubt, aber das trifft mich erneut. „Wie kann man – irgendjemand – und gerade ihr – meine liebste Astraia ..." Melete legt den Arm um mich. „Das fragen wir uns alle. Ausgerechnet ihr hat man so etwas angetan. Aber sie spürt jetzt keinen Schmerz mehr, nun müssen wir nur noch den Täter finden."

„Erst niedergeschlagen und dann betäubt?" Krotos schüttelt verwundert den schwarzen Lockenkopf. „Das ist doch sinnlos."

„Nein. Cheiron meint, der Schlag hätte Astraia zwar außer Gefecht gesetzt, sie wäre allerdings mit Sicherheit durch den Schmerz wieder zu sich gekommen, sobald sie die Krallen an ihrer Haut gespürt hätte. Sie wurde betäubt, damit sie keinen Schmerz mehr wahrnimmt."

„Wie?", erkundigt sich Pasiphae. „Es gibt da so einige Kräuter, aber alle wirken frühestens nach einigen Minuten."

„Das wissen wir. Michel hat uns alle aufgezählt, die er kennt und du kannst da sicherlich noch einiges beisteuern. Es waren keine Kräuter. Ihre Nerven wurden blockiert."

„Wodurch?", fragt Stier. Apollon hebt die Schultern. „Das haben wir noch nicht feststellen können."

„Jetzt verstehe ich, warum ihr glaubt, dass zwei daran beteiligt waren." Krotos lächelt grimmig. „Eine solche Kraft hat niemand aus unserem Kreis."

„Doch. Du", erklärt Melete.

„Ich?!" Selten habe ich Krotos so verblüfft gesehen.

„Weißt du noch, als wir uns die Marvel-Filme angesehen haben? Du warst so begeistert von Hawkeye und hast dir auch einen Elektropfeil gebastelt."

„Stimmt!" Krotos wendet sich an Apollon. „Könnte es sich um einen Elektroschock gehandelt haben? Dann kannst du wieder jeden auf die Liste setzen, der mit Pfeil und Bogen umgehen kann. Einschließlich mir."

„Du warst in der Ekliptik!" Melete springt auf. „Du bist unschuldig!"

„Ich weiß, aber woher soll Apollon das wissen? Es ist kein großer Akt, die Ekliptik für einige Minuten zu verlassen. Das merkt keiner, nicht mal die unmittelbaren Nachbarn."

Apollon mustert Krotos streng. „Du scheinst da Erfahrung zu haben!"

Krotos lächelt ihn an. „Ich habe es ausprobiert, mehr nicht. Ansonsten erfülle ich treu und brav meine Pflicht."

Treu und brav? Das sind nicht gerade die Eigenschaften, die ich dem Schützen zuordnen würde. Andererseits ist Krotos zwar nicht für eine dauerhafte Beziehung geschaffen, seinen Freunden aber unerschütterlich treu. Und was das Brav-Sein anbetrifft, so ist immer die Frage, was genau man darunter verstehen will.

Apollon jedenfalls nimmt Krotos' Einwand so, wie er gemeint war. „Daran zweifle ich eigentlich auch nicht."

„Wer kommt denn in Frage, wenn wir die Bogenschützen dazunehmen?", überlegt Stier.

„Zunächst mal Eros", erwidert Apollon. „Mit dieser Waffe können aber auch Helenos, die Dioskuren, Phaeton, Cheiron, Adonis, Phrixos und Herakles umgehen."

„Viel zu viele", brummelt Stier und versenkt seine Nase in die Trinkschale.

„Kassandra und ich auch", fügt Melete an. Apollon fällt das Sandwich aus der Hand. „Wie bitte?"

„Ich bin die Muse der Geschicklichkeit, schon vergessen? Ich kann alles, was ich auch die Menschen lehre. Und Kassandra hat sich von Helenos beibringen lassen, wie sie sich verteidigt, wenn er mal nicht zur Stelle ist."

„Oh!" Apollons Miene nach ist er nun weniger erpicht darauf, Kassandra in unbewachten Momenten zu erwischen. Man kann ihn zwar nicht mit herkömmlichen Waffen töten, aber angenehm ist so eine Pfeilwunde auch für ihn nicht.

„Und mich darfst du auch auf deine Liste setzen", meint Pasiphae.

„Du kannst Bogenschießen?" Apollons Gesicht zeigt deutlich, dass er sich gedankliche Notizen macht, sich eingehender mit den Fähigkeiten der Zodiaks und ihrer Wächter zu befassen.

„Nein. Aber das hier. Hab's von Papa gelernt." Pasiphae hebt die Hand und feuert eine Art Blitz auf Stiers Strohkissen ab. Das geht auf der Stelle in Flammen auf. Stier galoppiert hin und tritt einen Teil des Feuers aus. Den Rest löscht Krotos mit dem Tee in der Kanne. „So, geh gleich neuen aufsetzen! Mensch, du kannst doch nicht einfach so unser Bett abfackeln!"

„Tut mir leid", entschuldigt sich Pasiphae. „Ich hab das lange nicht mehr gemacht und ein bisschen übertrieben."

Wir sind vom Thema abgekommen. Ich lenke wieder dahin zurück: „Was ist mit Baba Wanga und Hekate? Haben die schon etwas herausbekommen?"

„Nein. Baba Wanga konnte den Täter nur einmal lokalisieren und Hekate bekommt einfach keine Verbindung. Vielleicht hat man aus diesem Grund Astraias Herz an sich genommen."

Mir läuft ein eisiger Schauer den Rücken herunter. „Heißt das, jemand könnte ihre Seele gefangen halten?"

Apollon blickt mich sehr ernst an. „Möglich ist es."

„Aber das verstehe ich nicht. Ich meine – dass jemand die Kontrolle über einen Zodiak erlangen möchte, damit rechnen wir ja die ganze Zeit. Aber wenn Astraia kein Zodiak mehr ist, was nützt es dann, ihr Herz zu besitzen?" Dieses so liebevolle Herz, welches für alle lebenden Wesen geschlagen und so oft geschmerzt hat, wenn Astraia die Ungerechtigkeiten auf der Erde mitansehen musste, ohne etwas dagegen tun zu können.

„Es kann auch andere Gründe haben", mutmaßt Apollon. „Zum einen kann man damit vermutlich verhindern, dass eine neue Jungfrau eingesetzt werden kann. Der Geist der Jungfrau könnte eine andere geeignete Person beseelen, aber das ist kaum noch möglich, wenn dieser Geist nicht mehr aufzufinden ist.

Es kann aber auch sein, dass jemand Astraia persönlich so sehr gehasst hat, dass er oder sie sich mit ihrem Tod nicht zufrieden gibt. Dass er -" Apollon bricht ab, als er meine Miene sieht. „Ich glaube, das führe ich besser nicht genauer aus."

„Das ist auch nicht nötig. Wir können uns das alle selbst sehr gut vorstellen", meint Krotos finster.

„Auf jeden Fall sucht Hekate weiter alles ab. Inzwischen helfen ihr Hel und Ereschkigal dabei und auch Hades sucht mit Kerberos die Unterwelten ab. Wir haben ihm eine Strähne von Astraias Haar zum Schnuppern gegeben." Kerberos vermute ich, nicht Hades. „Die anderen Totengötter sind noch unschlüssig, ob sie uns beistehen sollen. Auch die Pantheons sind sich uneins. Von einigen Göttern kam sogar der Vorschlag, die Ekliptik abzuschaffen, wenn wir ohnehin nicht auf die Sternzeichen aufpassen können."

„Wer?"

Apollon fährt bei Krotos' scharfer Frage zusammen. „Wie meinst du das?"

„Welche Götter haben das gesagt?"

Apollon überlegt. „Mimir natürlich. Athene, Enki, Zeus, Thot, Cally Berry und Saraswati, soweit ich mich erinnere."

Aha. Bis auf Zeus alles Götter der Weisheit und des Wissens. Sehr interessant. Genau diejenigen, die eifersüchtig ihre Pfründe bewachen und die Astrologie als eine unrechtmäßige Abkürzung zu neuen Erkenntnissen betrachten.

Krotos kommt zu dem gleichen Schluss. „Vielleicht sollten wir diese Götter mal im Auge behalten."

Stier muht heftig. „Finde ich auch. Die haben auch schon so einen Aufstand gemacht, als wir Tiere menschliche Klugheit bekamen, damit wir unsere Aufgaben ausführen können."

„Bei dir hat da gar nicht soviel gefehlt", Pasiphae lächelt ihren Schützling an.

„Naja, schon so einiges. Ich bin jedenfalls froh, dass ich nun denken kann. Aber ich weiß noch genau, wie Athene damals rumgezetert hat."

"Naja, viele Götter betrachten ihre Gaben als was Besonderes und wollen nicht, dass sie allen Menschen zugänglich sind", bemerkt Pasiphae. „Ein Glück, dass Papa da ganz anders ist. Er bescheint alle Wesen der Erde, unabhängig von Nam' und Art und es ist ihm auch egal, ob man ihn anbetet und Opfer bringt oder nicht."

„Astraia hat immer gemeint, Helios ist eigentlich das gerechteste Geschöpf in allen Pantheons." Es tut immer noch so sehr weh, an Astraia zu denken. Aber solange ich mich an sie erinnere, an unsere gemeinsame Zeit, an alles, worüber wir gesprochen, gelacht und geweint haben, solange ist sie nicht vollständig tot. Sie selbst hat einmal gemeint, man würde dreimal sterben und erst, wenn Seele, Körper und Erinnerung gestorben sind, ist jemand wirklich und unwiderruflich tot.

„Das sehe ich auch so." Helios' Tochter stimmt mir da natürlich zu.

Apollon begutachtet angelegentlich die weißen Fasern im Schinken. „Um ehrlich zu sein, darf ich mich da auch nicht ausschließen", gibt er mit seltener Offenheit zu. „Aber ich habe dazugelernt, seit wir die Ekliptik aufgebaut haben und den Rat sowie die Wächter geschaffen. Viele der anderen leben immer noch in der Vorzeit."

Das denke ich auch oft. Seitdem die Pantheons zusammengezogen sind, fällt das noch mehr auf. Früher einmal sind Berggipfel ein geeigneter Rückzugsort gewesen. Aber seitdem die Menschen sogar am Mount Everest Schlange stehen, um einmal den Fuß auf den höchsten Punkt setzen zu können, brauchen die Götter etwas anderes. Hephaistos, Pele und einige andere Vulkangötter haben kurzerhand die gewaltige, aber fast leere Magmakammer eines großen Vulkans komplett geleert, das restliche Magma auf Stromboli, Mauna Kea und Popocatepetl verteilt – bei diesen dreien merkt es keiner, weil die eh dauernd ausbrechen - und die Kammer gut abgestützt. Und dort haben sich die einzelnen Pantheons nun eingerichtet. Auch unser Rat tagt in diesen Räumen. Seitdem bekommen wir die Streitereien zwischen Göttern verschiedener Pantheons hautnah mit.

„Wie auch immer, wir fahnden weiter, sowohl nach Astraias Mörder als auch nach ihrem Geist", fasst Apollon das Wesentliche zusammen.

„Kann Baba Wanga vielleicht Astraias Seele lokalisieren?", fragt Stier.

„Tja", Apollon zögert. „Ihr wisst ja, dass solche Weissagungen niemals zu hundert Prozent zutreffen. Und oft lassen sie sich auch nicht wiederholen. Wir haben Wanga bereits gefragt. Sie hat es dreimal versucht."

„Kein Ergebnis?", will Melete wissen.

„Doch." Apollon holt tief Luft. „Sie zeigte jedes Mal auf Keto."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top