Tod

Ich falle im feuchten Sand auf die Knie, neben dem leblosen Bündel, das einmal Astraia gewesen ist. Mit zitternden Händen streiche ich das Haar aus einem blassen Gesicht, suche und finde die so vertrauten Gesichtszüge und die allerletzte Hoffnung, es möge jemand anders sein, verflüchtigt sich vor der Realität.

Astraias graue Augen starren blind ins Leere. Aus der zimtbraunen Haut ist das Blut gewichen und das ganze Gesicht wirkt eingefallen. Der Mund ist leicht geöffnet und erinnert mich an ein achtlos zugeschraubtes Honigglas. Ich habe viele solcher Gläser richtig verschlossen, nachdem Astraia sich Honig in den Tee geträufelt hat.

„Nein ... "

Die Grübchen in den Mundwinkeln sind verschwunden wie auch die kleine senkrechte Falte über der Stirn, die immer erschienen ist, wenn sich Astraia über ein Unrecht empört hat. Als ob ihr der eigene, gewaltsame Tod lediglich als angemessen erschienen sei. Aber Astraia hat sich niemals beklagt, wenn sie es war, der Böses angetan wurde. Sie ist immer nur für andere eingetreten. Und nun wird sie es nie mehr tun.

"Nein!"

Das Gesicht vor mir ist lieblich und schön wie ehedem, aber es scheint einer Fremden zu gehören. Oder einer Statue. Es ist nur noch ein Gesicht, unnatürlich entspannt, weil die Muskeln darunter erschlafft sind; unpersönlich, weil keine Seele mehr dahinter wohnt. Ich brauche Astraias Verletzungen nicht zu sehen, welche die rostroten Flecken geronnenen Blutes auf ihrer Haut hinterlassen haben, um zu wissen, dass sie tot ist.

Meine Schreie steigen zum Himmel empor. Papageientaucher verschwinden eilends in ihren Bruthöhlen; der elegante Gleitflug der Albatrosse über mir geht in hektisches Geflatter über und selbst die sonst so frechen Möwen suchen das Weite.

Die Wucht meines Schreis fegt über den Strand, wirbelt feuchten Tang und Sand auf. Wattwürmer und Herzmuscheln werden freigelegt und buddeln sich eilends wieder in den Sand hinein; Kutts und Austernfischer fliegen in Schwärmen auf, Strandkrabben und Taschenkrebse hasten ins Meer.

Auch das Meer wird von meinen Schreien aufgewühlt; Schaumkronen bilden sich auf Wellen, die sich vom Strand fortbewegen und einzelne Wirbel formen sich aus. Heringe und Makrelen flüchten in tiefere Gewässer; Brandgänse und Eiderenten fliegen auf, als sie nicht mehr sanft geschaukelt, sondern stürmisch überrollt werden.

Und irgendwo über mir begreifen die anderen Zodiaks, was geschehen ist.

Das plötzliche Stimmengewirr ist das erste Anzeichen dafür, dass ich nicht mehr alleine bin. Die Zodiaks, ihre Wächter und die Ratsmitglieder treffen einer nach dem anderen ein; lautlos und ohne Vorwarnung erscheinen sie auf dem Strand. Was sich an Tieren noch in der Nähe befindet, ergreift nun endgültig die Flucht; die Nähe so vieler ungewöhnlicher Wesen jagt ihnen Angst ein.

Seltsam, dass ich das so deutlich wahrnehme. Eigentlich ist mein Hirn völlig vernebelt; es wird komplett von dem einen Gedanken beherrscht, dass Astraia, meine beste Freundin, mein Schützling, meine Zodiak, nicht mehr am Leben ist und ich ihren Tod nicht verhindert habe. Diese Erkenntnis ist so grausam, dass mir jede Ablenkung recht ist.

Ich spüre Hände auf meinen Schultern. Jemand richtet mich sanft auf, bis ich stehe und nimmt mich dann in den Arm. Eine Hand drückt meinen Kopf gegen eine nackte Schulter und streicht zart über mein Haar. Dankbar drücke ich mein Gesicht an einen warmen Hals, um nichts mehr sehen zu müssen. Und schmiege mich an einen lebenden Körper, genieße den ruhigen Rhythmus einer atmenden Brust, die mich sanft wiegt, lausche dem Schlag eines starken Herzens, das keine Absicht zeigt, plötzlich stillzustehen.

„Sieh nicht hin", flüstert mir jemand ins Ohr. „Beruhige dich erstmal. Sie kümmern sich bereits um sie. Lass dich fallen."

Seltsam, dass mir diese Worte helfen. Wer immer mich so hält, er hat recht. Der Rat und die Zodiaks sind gekommen. Ich bin nicht mehr alleine mit der Verantwortung.

„Lass sie das Übel nicht sehen, welches hier vor uns liegt", beschwört eine sonore Stimme meinen Tröster. „Sie kann erst damit umgehen, wenn der Schrecken verfliegt."

Michel. Natürlich. Keiner von uns weiß, ob er wirklich Medizin studiert hat, aber er benimmt sich zumindest so. Und seine pharmazeutischen Fähigkeiten bestreitet niemand in unserem Kreis.

„Wer immer das war, er hat gründliche Arbeit geleistet", stellt jemand anders fest. Ich erkenne die Stimme nicht.

„Versuch nicht hinzuhören", raunt mir die Person zu, die mich hält. Aus einem Wispern kann man die Stimme nicht erkennen, aber mir ist auch so klar, wer sich da um mich bemüht. Unter den Zodiaks, den Wächtern und den Ratsmitgliedern gibt es nur eine Person, die mir gegenüberstehen und meinen Kopf an ihre Schultern lehnen kann. Krotos. Es überrascht mich etwas; ich wusste nicht, dass er so mitfühlend sein kann. Andererseits habe ich schon immer hinter seinem leichtfertigen, spöttischen und sprunghaften Gebaren eine wesentlich vielschichtigere und fundiertere Persönlichkeit erkannt. Bei seinen philosophischen Debatten mit uns blitzt sie immer wieder auf, doch meistens rettet er sich dann schnell mit einem Scherz oder einer Neckerei vor allzu tiefgründigen Gesprächen.

Eine dritte Stimme ertönt jetzt, rau und tief: „Wie brutal! Man hat ihr das Herz herausgerissen!"

Oh nein! Wer kann so etwas tun, Astraia das liebevolle, zärtliche Herz zu nehmen, welches für jedes unterdrückte Lebewesen schlägt - geschlagen hat!

Krotos schlingt seine Arme fest um mich und geht einige Schritte rückwärts, so dass ich ihm folgen muss. Dann wird es einen Moment eisig kalt um uns und meine Haut kribbelt überall, als würde sie von Tausenden winziger Finger gekitzelt. Das Gefühl vergeht aber fast augenblicklich und ich weiß genau, was das war. Krotos hat uns fortgezappt. Offenbar will er mich außer Hörweite der Ärzte bringen, die gerade die Art von Astraias Verletzungen einzeln auflisten. Das ist auch genau das Richtige in diesem Moment.

So genau muss ich das nicht wissen, was man ihr angetan hat. Es reicht mir zu wissen, dass sie tot ist und die Welt niemals mehr die gleiche sein wird. Nicht für mich, nicht für den Kreis der Zodiaks und für den Rat, aber auch nicht für die Menschen. Mir hat man die beste Freundin genommen, den Zodiaks eine geliebte Kollegin, dem Rat einen der zwölf Lenker der prophetischen Lichtstrahlen und den Menschen ein Sternzeichen. Wie soll es ohne die Jungfrau weitergehen?



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