Scham

„Ich muss ohnehin zu Michel", erkläre ich Melete und Pasiphae. „Und vorher möchte ich mal selbst nach dem Ei sehen."

Die beiden sehen sich zögernd an. „Mir ist nicht wohl dabei, dich allein gehen zu lassen", gibt Melete zu bedenken. „Aber Krotos wird in einer halben Stunde kommen und ich möchte nicht, dass er ein leeres Haus vorfindet."

„Das ist doch völlig in Ordnung. Er ist dein Schützling. Ich habe Astraia auch niemals in ein leeres Haus kommen lassen."

„Na gut, bei uns ist das einige Male in den letzten Jahrhunderten vorgekommen", gesteht Pasiphae. „Ist das denn so schlimm für euch?"

Melete und ich tauschen einen Blick, dann erklärt die Muse gelassen: „Stier ist ja auch ein fixes Zeichen und in sich selbst gefestigt. Die veränderlichen Zeichen sind da unsicherer. Sie sind zwar flexibel und kommen gut mit einem Wandel der Zeiten zurecht, aber dafür zweifeln sie auch wesentlich schneller und zuallererst an sich selbst. Ich würde niemals ein veränderliches Zeichen ohne Vorwarnung alleine lassen; es würde sofort davon ausgehen, dass es etwas falsch gemacht hat oder nicht wert ist, dass man sich um es kümmert. Gerade Schütze und Jungfrau sind da gefährdet, weil sie alleine sind; die Zwillinge und die Fische stärken sich gegenseitig."

„Komisch, ich hätte das Gleiche über Astraia gesagt", bemerke ich. „Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass Krotos in der Beziehung ihr ähnlich sein könnte. Er wirkt so selbstbewusst."

„Das ist er auch. Solange ihn seine Muse darin bestätigt." Melete lächelt ein wenig und ich denke, Krotos hat wirklich Glück, gerade sie zur Wächterin und Freundin zu haben.

Was das ständige Bestätigen anbetrifft, so kann ich ein Lied davon singen und mit Melete ein unharmonisches Duett anstimmen. „Das war bei mir auch eine der Hauptaufgaben. Astraia hat zum Anfang ihres Lebens zu wenig Anerkennung erfahren und ich war ständig damit befasst, das nachzuholen. Das griechische Pantheon hat sie verachtet und verspottet, weil sie nur eine Nebengöttin, vor allem aber, weil sie sanft und gutherzig war. Die rachsüchtige Nemesis fürchten selbst die Götter, für Astraias angeblich utopische Vorstellungen von einer gerechten Welt hatten sie nie Verständnis. Vor allem Zeus bezeichnete sie oft als absolut überflüssig."

Pasiphae legt den Finger auf die Lippen, wie immer, wenn sie über etwas nachdenkt. „Das Kind im Ei ist doch eine Kopie, ein Klon von Astraia, nicht wahr? Könnte es sein, dass sie neu anfangen wollte? Mit jemandem wie dir als Wächterin, die sie von Anfang an beschützt und wertschätzt?"

„Das hört sich nach einer guten Idee an", meint Melete. „Sofern Astraias Seele in diesem Kind ein Zuhause finden kann." Sie starrt uns beide entgeistert an, als ihr ein Gedanke kommt. „Das könnte der Grund sein, warum man ihr das Herz genommen hat und ihr Geist unauffindbar ist!"

„Das ist ja niedlich!" Pasiphae kniet vor dem Nest und kann die Augen nicht von dem Ei lösen. Die milchige Substanz darin ist nun schon ziemlich transparent und das Baby einigermaßen zu erkennen. Es hat sich zusammengerollt und die kleinen Beinchen angezogen.

Als unsere Schatten auf das Ei fallen, rührt sich das Baby. Seine winzigen Fäustchen öffnen sich und wedeln in der milchigen Flüssigkeit umher und es dreht das Köpfchen suchend in meine Richtung.

Unendlich vorsichtig lege ich eine Hand auf die Oberfläche des Eis. Es hat eine Substanz wie Wackelpudding und fühlt sich einigermaßen stabil an. Vermutlich wird die äußerste Hülle erst reißen, wenn die Flüssigkeit da drinnen aufgebraucht ist.

„Weißt du schon, wie du sie nennen wirst?" Pasiphae flüstert, als ob sie Angst hätte, das Baby zu wecken.

„Dikaia", erwidere ich sofort. „Astraia wollte sie Dikaia nennen."

„Oh, natürlich. Das ist ja einer der Namen, unter denen sie bei den Menschen bekannt war."

Stimmt, jetzt fällts mir auch wieder ein. Dike oder Dikea, bei uns Griechen Dikaia, bei den Römern Dicea geschrieben, so wurde Astraia in einigen Regionen genannt damals. Die Menschen haben sie nach der Antike weitgehend vergessen. Sonst wäre sie in einigen Ländern heute wohl Dizaja. Pasiphaes Schwester Kirke regt sich jedes Mal auf, wenn sie dank des Umstands, dass die Römer das K als C geschrieben haben, als Zirze bezeichnet wird. Aus Pasiphae machen sie ja auch eine Pasifee, während sie durchaus verstanden haben, dass das ai bei den Daimones als ä gelesen werden muss und sie darum als Dämonen in die heutige Zeit transponiert haben.

Dikaia dreht sich nun herum und sucht mit ihrem Mund die Stelle, an der meine Hand liegt. Ihr Gesicht können wir nur undeutlich sehen, da ständig milchige Schlieren darüber laufen, aber wir können erkennen, wie die zarten Lippen sich öffnen und schließen.

„Du musst Michel wirklich dringend aufsuchen." Nanu, schimmern Pasiphaes Augen etwa feucht?

„Was ist los?"

„Ach, Keto" Pasiphae lächelt versonnen. „Du wirst es auch erleben. Es ist eine wunderbare Zeit, wenn du ein Kind nährst. Manchmal möchte ich allein dafür ein zehntes haben."

Hm, was wohl Asterios zu einem Vollgeschwisterchen sagen – Aus! Ich denke lieber nicht weiter!

Ich sehe mir lieber weiter das Baby an und versuche mir vorzustellen, wie es sein wird, wenn ich es an meine Brust legen werde. Hoffentlich bewirken Michels Kräuter, dass mir das möglich sein wird. Melete hat zwar schon versichert, dass sie gerne für mich Babynahrung einkaufen wird, aber ich will ihre Freundlichkeit auch nicht über die Maßen ausnutzen. Melete kauft öfters ein für den Kreis, da sie zu den wenigen gehört, die unter den Menschen nicht auffallen. Helena und Adonis erregen dank ihrer Schönheit zuviel Aufmerksamkeit wie auch Herkules seiner Muskeln wegen. Von den menschlich aussehenden Wächtern bleiben außer Melete also nur Phrixos, Phaeton und Pasiphae. Ich selbst mische mich auch ungern unter die Menschen, da sie mich zwar akzeptieren, mich aber für einen Cosplayer halten und mich ständig als „She-Hulk" betiteln. Irgendwann muss ich mich mal informieren, wer das eigentlich ist.

„Auf!" Pasiphae reißt mich aus meinen Gedanken. „Ich könnte mir ewig das Baby angucken, aber wir haben noch was zu tun!"

Oh ja. Wir haben einen Mord aufzuklären. Wenn man mir Astraias Tod anhängt, brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen, ob Michels Kräuter bei mir wirken.

Auch auf das dritte Klopfen an der Tür mit dem verschnörkelten „M. d. N.-D." erfolgt keine Reaktion. Michel scheint ausgegangen zu sein.

„Kräuter sammeln", vermutet Pasiphae. „Er meinte neulich, seine Vorräte seien am Schwinden."

Na fein. Das heißt, er kann überall sein.

„Fragen wir Baba Wanga", ich marschiere einige Türen weiter. Baba Wanga ist so gut wie immer da und ihre Gabe, Menschen anzupeilen, funktioniert bei uns, die wir zum Kreis gehören, eigentlich immer.

„Keto!" Die alte Bulgarin begrüßt mich herzlich. „Ich habe gehört, dass du verfolgt wurdest und ich fürchte, es ist meine Schuld. Aber ich glaube nicht, dass du Astraia etwas getan hast. Ach, Kind, es tut mir leid. Eben darum gebe ich ungern Prophezeiungen in solchen Fällen ab. Man kann zuviel falsch verstehen."

„Ich mach dir keine Vorwürfe", ich knuddele die liebe alte Dame einmal ab. „Und du hilfst uns ja mit deinen Aussagen. Wir müssen nur alle Information zu einem Ganzen zusammensetzen und leider sind wir keine guten Puzzler."

Wanga lächelt. „Das ist lieb von dir gesagt, Keto. Aber es stimmt doch, dass du meinetwegen Ärger hast."

„Nicht deinetwegen. Nur wegen der Idioten, die zu schnell falsche Schlüsse gezogen haben. Und vergiss nicht, ich bin nicht wehrlos."

„Allerdings. Michel war recht böse, als er Aphrodite verarztet hat. Sie hat gejammert, weil du ihr wohl die Nase gebrochen hast, aber er hat ihr erklärt, dass sie daran selbst schuld ist. Sie wollte es anders hinstellen, aber Krebs hat bestätigt, dass sie dich gerammt hat und nicht du sie. Sie hätte sich denken können, dass deine Schuppen zu hart sind."

„Denken? Aphrodite?", kommt es von Pasiphae, die sich bisher im Hintergrund gehalten hat.

Ich komme auf mein Anliegen zu sprechen. „Weißt du, wo Michel ist, Babuschka?"

Wanga lässt das Strickzeug sinken und konzentriert sich einen Moment. „In den Pyrenäen, auf einem der Gipfel." Sie nennt mir die Koordinaten und nimmt ihre Arbeit wieder auf.

„Danke, Babuschka!" Ich sehe auf die blau und rot gemusterte Arbeit. „Oh, der ist schön! Ist das der, an dem du während – der dir dein Alibi gegeben hat?"

„Nein, das ist der zweite, für Kastor. Polydeukes' Pullover ist fertig, er bekommt ihn in grün und rot."

Natürlich, die beinahe unzertrennlichen Dioskuren tragen am liebsten Partnerlook. „Und Helena?", will ich dennoch wissen. Die schönste Frau der Welt wird oft vergessen, wenn von ihren Brüdern die Rede ist. Immerhin sind die ja auch als Zwillinge in die Ekliptik eingegangen, obwohl sie mit Helena zusammen Drillinge sind.

Wanga legt einen Finger auf die Lippen. „Melete hat mir entsprechende Wolle beschafft. Sie bekommt ihn in weiß und rot. Das wird eine schöne Überraschung für sie."

Typisch. Helena vergöttert ihre Brüder und neigt dazu, sich selbst darüber zu vergessen.

„Also ab in die Pyrenäen", sage ich zu Pasiphae, als wir Baba Wangas Zimmer verlassen.

„Nix da, ab in den Tartaros!"

„Hä?" Ach so, das hat nicht die kretische Königin gesagt, sondern Nemesis, die sich nun mit gezückten Schwert vor mich stellt. „Da gehörst du hin!"

„Ich denke nicht daran!" Direkt nach Astraias Tod wäre ich freiwillig dorthin gegangen. Aber inzwischen ist mir klar, dass ich noch Aufgaben zu erfüllen habe. Zudem will ich die Freunde nicht im Stich lassen, die mich so sehr unterstützen. Vor allem Krotos nicht, der mir als erster seinen festen Glauben an meine Unschuld beteuert hat. Nicht nach dem, was mir Melete gerade erzählt hat. Wenn Krotos auch nur ein Zehntel von Astraias Kunst besitzt, an allem zu zweifeln und alles in Frage zu stellen, wird er sich vor Selbstvorwürfen zerfleischen, wenn ich aufgebe. Da ich mich bisher nur um Astraia kümmern musste, ist mir zuvor nie bewusst gewesen, dass alle labilen oder veränderlichen Zeichen so unsicher sind. Was mich auf Aphrodite bringt, die als Fisch auch dazugehört. Vielleicht sollte ich mal nachsehen, wie es ihr geht.

„Hey, ich rede mit dir!" Nemesis kann es nicht leiden, nicht beachtet zu werden.

„Jetzt reg dich mal ab." Pasiphae tritt zwischen uns. „Es hat keinen Sinn, die Bestrafung vor dem Urteil vorzunehmen. Warte doch erst einmal den Gerichtsspruch ab!"

„Zu was? Der Chef kommt eh nicht in die Puschen! Der redet nur mit allen Leuten und kommt zu keinem Ergebnis!" Nemesis holt mit dem Schwert aus. Ich reagiere völlig automatisch, greife nach ihrem Handgelenk und ziehe ihre Hand über ihren Kopf und um sie herum. Nemesis dreht eine ungewollte Pirouette und lässt die Waffe fallen. „Skata!"

„Blinde Wut ist beim Kämpfen nicht sehr hilfreich", teile ich der Rachegöttin mit.

„Verdammt, du bist einfach zu stark!" Nemesis versucht sich vergeblich meinem Griff zu entwinden.

„Lass sie los!" Kleine Fäuste hämmern auf meinen Rücken ein. Das schmerzt zwar auf den noch nicht ganz verheilten Wunden, richtet aber ansonsten keinen Schaden an. „Von hinten angreifen ist feige, du Floh! Komm mal nach vorne!"

Etwas beschämt kommt Aidos hinter meinem Rücken hervor. Natürlich ist sie beschämt; das ist das Gefühl, welches sie am besten beherrscht. Ich blicke auf sie hinunter. „Was soll der Blödsinn? Ihr wisst doch beide, dass ihr nicht gegen mich ankommt!"

„Ja, eigentlich wollten wir auch mit den anderen zusammen – aber die sind grad nicht da – und gleich kommt Krotos wieder -"

„Und mit Krotos und mir wolltet ihr euch nicht gleichzeitig anlegen", spreche ich aus, was Aidos nicht zugeben will. Schamrot nickt sie. „Das ist doof", mault sie. „Entweder ist Krotos weg oder Stier. Nur für eine Stunde sind sie beide gleichzeitig im Dienst."

„Tja, schlechte Konstellation für euch", kontere ich. Und dabei fällt mir auf, dass ich meine Energie und meine Schlagfertigkeit wiedergefunden habe. Es hilft enorm bei der Trauerbewältigung, wenn man noch etwas zu tun hat.

Nemesis zappelt immer noch in meinem Griff. „Ich werde dich noch kriegen, Keto! Deiner Strafe entkommst du nicht! Die Rache ist mein!"

„Weißt du eigentlich, wie abgehalftert dieser Spruch schon ist? Leg dir mal nen neuen zu!"

„Er ist doch wahr", verteidigt Aidos ihren Zodiak.

„Rache muss Sinn und Ziel haben", entgegne ich. „Einfach so jemanden so umzubringen, weil man wütend ist, hat nichts mit Rache zu tun."

„Ich will Astraias Tod rächen. Ich habe jedes Recht dazu!", faucht Nemesis.

„Ich auch!", brülle ich zurück.

Nemesis starrt mich an. „Du – was auch?"

„Ich will auch Rache für Astraias Tod!" Wenn Nemesis auf hundertachtzig ist, ist sie nicht gerade die Hellste. Der Zorn lässt ihrem Hirn dann keinen Raum mehr zum Denken.

„Ja, aber du bist doch diejenige, die sie getötet hat!"

„Und woran machst du das fest?"

Nemesis sieht ziemlich dümmlich drein. „Weil du schuldig bist?", versucht sie es mit einem wenig schlauen Argument.

Aidos springt für ihren Schützling ein. „Sie meint, dass ich keine Schuld wahrnehmen konnte bei der Versammlung. Nur bei dir."

Damit hat sie meine volle Aufmerksamkeit. „Erklär mir das genauer!" Ich lasse Nemesis los, die sich das Handgelenk reibt und sich dann nach ihrem Schwert bücken will. Zu ihrem Pech steht Pasiphae drauf, also lässt sie es lieber beim Status quo bestehen.

Aidos führt aus: „Als Baba Wanga sagte, der Mörder sei unter uns, suchte ich nach Scham- und Schuldgefühlen. Niemand wies das auf, nur du."

„Und daraus schließt du, dass Keto die Täterin ist?" Pasiphae stöhnt unwillig. „Denk doch mal nach, Aidos. Was würdest du empfinden, wenn Nemesis das Opfer gewesen wäre?"

„Niemand rührt Nemesis – oh!" Aidos' Wut verlischt so rasch wie sie aufgeflammt ist. „Oh." Pause. Dann: „Oh-oh-oh!"

„Geht das auch auf Griechisch?", frage ich.

„Oh! Ja, natürlich! Oh, Mensch, Keto, das ist richtig! Das sind genau die Gefühle, die ich gespürt habe! Ich habe gedacht – weil niemand sonst so etwas ausströmte – und weil selbst die skrupellosesten Übeltäter sich irgendwo in ihrem Inneren ihrer Taten schämen – oh, oh! Ich hab alles falsch verstanden!"

„Aber was ist dann mit den wahren Täter, wenn es nicht Keto ist?" Nemesis ist noch nicht ganz überzeugt. „Der hätte doch wenigstens ein bisschen Scham und Reue empfinden sollen."

Mir kommt eine Idee. „Auch, wenn er nichts davon weiß?"

Aidos sieht zu mir auf. „Du meinst, er hat es vergessen?"

„Ich meine, er wurde als Werkzeug benutzt. Vergiss nicht, dass die Götter sowas schon öfters getan haben."

„Oh!" Aidos denkt nach. Ich auch. Und zwar darüber, ob ich Aidos mal die anderen Vokale beibringen soll.

„Du hast recht. Wenn er beherrscht worden ist, als er gemordet hat, wäre er völlig frei von Reue und Schuld gewesen." Aidos hat fertig gedacht.

Ich sehe zu Pasiphae. „Da haben wir das nächste Puzzleteil."

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