Morgen

„Ja, ich sehe das",  Astraia kuschelt sich in ihre Decke. „Ich freue mich jedes Mal darüber, wenn du mir zuwinkst. Aber ich kann dir leider nicht antworten. Wenn ich das täte, würde es die Astrologen sehr verwirren."

Ich hocke auf meinem Bett neben dem ihren und begutachte das Kleid in meinen Händen. Der Schaden, den Astraia gestern bei ihrer Kletterei auf unserem Apfelbaum verursacht hat, ist beträchtlich. Normalerweise würde ich einfach Melete oder Syrinx ein neues Kleid besorgen lassen, aber gerade an diesem Teil hängt Astraia sehr und sie hat mich gebeten, es zu flicken. Also werde ich mal sehen, was ich tun kann, bevor ich mich ebenfalls schlafen lege. Nähen kann ich auch leise, während Astraia schläft. Und den kleinen Augen nach, die sie macht, wird das nicht mehr lange dauern.

„Das macht nichts. Hauptsache, du siehst es. So weiß ich, dass wir auch ein bisschen Kontakt haben, wenn du da oben bist." Mir ist das immer noch ein wenig unheimlich. Ich bin ein sehr körperliches Wesen und kann mir nicht vorstellen, so nebelhaft zu werden, wie es Astraia jeden Tag durchführt.

Astraia weiß das genau und darum kichert sie vor sich hin. „Du magst es nicht, wenn ich meine Aufgabe erfülle?"

„Ich kann dich dann nicht beschützen." Ich fädele ein rotes Garn ein. So rot wie die Mohnblume, die ein großes Loch bekommen hat. So rot wie Blut, denke ich unwillkürlich. Wie gut, dass nur die aufgedruckte Blume beschädigt wurde und nicht Astraias Blut geflossen ist, als sich ein Ast durch ihr Kleid gebohrt hat.

„Da oben bin ich unangreifbar. Man kann Nebel nicht schlagen."

„Ja, aber es gibt ja nicht nur körperliche Gefahren." Ich schweige einen Moment, dann platze ich mit meiner Sorge heraus: „Ich kann dich nur vor körperlichen Angriffen schützen. Aber wenn dich jemand mit Magie attackiert, die ich nicht kontern kann, dann ..." Es schnürt mir die Kehle zu. Ich kann es nicht einmal durchdenken, geschweige denn aussprechen – die entsetzliche Vorstellung, dass Astraia etwas geschehen könnte. Dass sie verletzt wird, weil ich zu schwach war, sie zu schützen.

„Ein bisschen Magie kann ich ja auch", murmelt Astraia und sucht einen ihr genehmen Platz auf dem Kopfkissen. „Und ansonsten – wenn mich jemand verbal angreift, bist du ja auch immer gleich bei mir. Glaub mir, Keto, du bist eine sehr gute Wächterin. Ich hatte ja vor dir zwei andere Wächter – beiden hat Apollon das Amt entzogen, weil sie nicht sorgfältig genug waren. Bei dir gibt es seit langem nicht einmal mehr Prüfungen, weil deine Zuverlässigkeit auch im Rat bekannt ist."

„Was ist geschehen?", frage ich. Astraia redet selten über die Zeit, bevor sie zum Zodiak wurde und noch seltener über die Phase, in welcher sie andere Wächter hatte als mich.

„Oh", Astraia gähnt und erwidert schläfrig: „Hesiod war dauernd mit seinen Schriften beschäftigt. Einmal geriet ich beim Schwimmen in ein Fischernetz. Als ich um Hilfe schrie, kam mir Krebs zu Hilfe und befreite mich mit seinen Scheren. Hesiod hatte es nicht einmal bemerkt. Als er davon erfuhr, meinte er nur, dass es meine eigene Schuld gewesen sei; ich sei so schamlos gewesen, nackt schwimmen zu gehen, obwohl er es mir verboten habe."

„So ein arroganter Dummkopf!" Ich bin mir bewusst, dass ich fauche wie – wie eben ein Monster. Kein Wunder, ich bin ja auch eines. Den giftigen Geifer, der zum Fauchen gehört, lasse ich aber im Mund. „Der hat dir doch nicht zu sagen, was du tun sollst! Und nackt – ja wie denn sonst?"

„Völlig in Tücher gehüllt, damit niemand meinen Körper sehen kann", Astraias Stimme ist leise und schwankend; man hört ihr die Empörung und die Unsicherheit über Hesiods Vorwürfe an. Sie hat den Vorfall noch immer nicht verwunden. Astraia lässt sich viel zu leicht von solchen Beschuldigungen verunsichern. Sie springt jedem bei, dem Unrecht getan wird, nur sich selbst nicht. Letzteres habe ich mir seit langem zur Aufgabe gemacht.

„Apollon war bestimmt anderer Meinung!" Dass ich uneingeschränkt auf ihrer Seite stehe, weiß meine Freundin nur zu gut; meine Ansicht alleine hilft ihr da leider nicht. Aber ich kenne Apollon gut genug, um mir seine Einstellung und seine Reaktion auszumalen. Und Apollon ist nun einmal unsere oberste Instanz.

„Ja", Astraia spricht jetzt lauter und fester. „Apollon sagte, dass eine Nymphe nicht nackt oder bekleidet sein könnte und ich nun einmal eine Nymphe sei."

„Da hat er auch recht", stimme ich zu. Astraia ist im Gegensatz zu mir nicht auf ein Element beschränkt, was nichts daran ändert, dass sie eine Nymphe ist. Sie kann die Form einer Dryade, einer Nereide, einer Oreade, einer Najade, einer Sylphe oder eben einer Okeanide annehmen. Aber egal, um welche Nymphenart es sich handelt, für alle gelten andere Regeln als für Menschen. Was soll eine Sylphe mit Kleidung anfangen, die zu schwer ist, um mit ihr zu fliegen, eine Dryade mit zarten Stoffen, welcher sich an ihrer Rindenhaut aufreiben oder eine Okeanide mit Sandalen, die sie nicht an die Flossen bekommt?

Wenn ich Menschenform annehme, bekleide ich mich auch nach Art der Menschen. Aber weder als Okeanide noch als Seeschlange will ich Stoff an meiner Haut spüren – nur Wasser, klares, salziges, fließendes, erfrischendes Wasser. Astraia sieht das ebenso.

„Aratos war sehr nett zu mir", führt Astraia weiter aus. „Aber er spricht sehr gelehrt. Er formt alles, was er sagt, in wunderschöne Worte, aber es geht zu oft der Sinn verloren oder es dauert zu lange, bis man versteht, was er sagen will.

Einmal hätte mich fast ein Skorpion gestochen. Ich saß auf einem Felsen und betrachtete den Himmel und bemerkte nicht, wie das Tier sich anschlich. Dann kam Aratos und sagte zu mir – so ungefähr jedenfalls – Du holde, immer gerechte Jungfrau, falle nicht dem Wirken des ungerechten Zufalls zum Opfer; vermeide das Gift jenes blaublütigen, schwarzgepanzerten Geschöpfes, welches deine zärtliche Wärme unversehens erkalten lassen will; erhebe dich in die himmlischen Gefilde, die du vor langer Zeit schon aufsuchtest, auf dass deine Sterblichkeit niemals ein Ende findet.

Noch bevor er ausgesprochen hatte, knackte es hinter mir. Ich drehte mich um, sah Chrysomallos auf dem zertretenen Körper eines Skorpions stehen und hörte ihn Aratos anbrüllen: Warum beim Tartaros sagst du ihr nicht einfach, nimm deine Sylphenform an, hinter dir ist ein Skorpion?"

Ich kann nicht anders, ich lache laut auf. Chrysomallos, der fliegende Widder mit dem goldenen Fell, den gewaltigen Hörnern und den irritierend menschlichen, finsteren Augen wirkt auf dem ersten Blick grob und abweisend, ist aber sehr freundlich, zumindest zu den anderen Sternzeichen und ihren Wächtern. Und wie eigentlich alle Zodiaks ist er gerade Astraia sehr wohlgesonnen. Meine Schutzbefohlene ist so lieb und gutherzig, dass man sie einfach mögen muss. Zudem ist sie weniger wehrhaft als die meisten anderen Zodiaks. Nur um Ganymed sind die anderen ähnlich besorgt.

„Jetzt wird mir allmählich klar, warum man mich ausgewählt hat für dich. Ich kann keine schönen Worte drechseln und gelehrt bin ich auch nicht", gluckse ich.

Astraia lächelt. „Du bist sehr klug, Keto, mach dich nicht immer so schlecht. Aber ich glaube auch, sie haben dich gewählt, weil du zum einen wie ich eine Frau und eine Nymphe bist und zum anderen, weil für dich Zuverlässigkeit und Fürsorge an erster Stelle stehen und du niemals eine eigene Arbeit für wichtiger halten würdest als mich." Sie gähnt mit weit offenem Mund und hält nur lässig den Handrücken davor. Selbst das sieht bei ihr elegant und graziös aus. Kein Wunder, wenn Astraia so oft auf vorwitzige Finger klopfen muss – und bei manchem zu den Fingern gehörenden Besitzer nur noch mein geblecktes Gebiss hilft. Die Sache mit der Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper ist weder bei allen Ratsmitgliedern noch bei den Göttern der verschiedenen Pantheons angekommen.

„Ich habe dir, glaub ich, niemals gedankt", fährt meine Zodiak fort, während sie sich tiefer unter die Decken kuschelt. „Du bist die beste Freundin, die ich jemals hatte. Und du bist so lieb zu mir und sorgst so toll für mich. Ich bin so froh, dass sie dich ausgesucht haben." Das letzte kommt nur noch sehr leise unter der braunen Mähne hervor, die ihr übers Gesicht gefallen ist, als sie sich eingekuschelt hat. „Danke dir, Keto. Und arbeite nicht zu lange an meinem Kleid, du brauchst deinen Schlaf." Schon das letzte f geht in ein leises Schnarchen über. Astraia ist fest eingeschlafen.

„Hatschiiii!" Ich erwache von meinem eigenen Niesen. Die Sonne scheint mir voll ins Gesicht. Ich setze mich auf und greife nach einem Taschentuch, schneuze mich und werfe das Tuch in den Eimer neben Astraias Bett.

Es ist leer. Das ist sonderbar, wir haben eine Abmachung, dass Astraia mich sofort weckt, wenn sie vor mir aufwacht. Bisher hat sie das noch nie versäumt.

Mir kommt ein Gedanke, der mich aufspringen lässt. Es ist einige Tage her, dass Astraia mir von ihrer Schwangerschaft oder wie man das nennen will, erzählt hat. Was ist, wenn es bereits soweit ist? Es sähe meiner Freundin ähnlich, dass sie das alleine bewältigen will. Zumal  unsere übliche Zeit zum Aufstehen noch nicht erreicht ist, wie mir ein rascher Blick auf die Uhr verrät.

Hastig ziehe ich mir Shorts und ärmelloses Shirt über und schlüpfe in die Crocs vor meinem Bett. Im Laufen fummle ich den Gummi aus der Tasche der Shorts und binde mir die Haare im Nacken zusammen, damit sie mir nicht ums Gesicht fliegen. Ich will so schnell wie möglich zum Strand.

Astraia ist zweifellos aus eigenem Antrieb fortgegangen. Wenn sie aufsteht oder jemand anderer hereinkommt, wache ich sofort auf. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie Astraia von mir unbemerkt das Schlafzimmer verlassen haben kann – sie muss ihre Sylphenform angenommen haben und lautlos durch die Luft davon geschwebt sein. Dafür spricht auch, dass ich keinerlei Fußspuren entdecken kann.

Ich renne also zum Strand, in der Absicht, in den Grotten nach Astraia zu suchen. Dieses liebe, rücksichtsvolle, leichtsinnige Mädchen, wie kann sie nur ohne mich fortgehen? Als Sylphe ist sie zwar fast unangreifbar, aber ich bezweifle, dass sie in dieser Form ihr Ei ablegen kann.

Im Laufen spähe ich nach allen Seiten nach möglichen Gefahren aus. Es ist ja nicht gerade so, als seien lauter Feinde hinter den Zodiaks her, aber es gibt genug Fährnisse am Strand und im Meer, denen Astraia zum Opfer fallen kann. Die Episode mit dem Skorpion hat es ja bewiesen.

Der Strand ist jedoch leer. Soweit man es als leer bezeichnen kann, wenn überall angeschwemmtes Strandgut herumliegt. Tangansammlungen, gestrandete Quallen, Treibholz, hin und wieder auch ein Fischernetz. So wird die helle Fläche des Strandes immer wieder von braunen, grünen, weißen oder blauen Flecken unterbrochen.

Einer dieser Flecken jedoch unterscheidet sich von den anderen. Er ist braun, aber nicht wie Treibholz, eher wie Kastanien. Und er besteht zum Teil aus wirren Strängen, zum Teil aus schillernden Schuppen und dazwischen ist er glatt und zimtfarben, mit rostfarbenen Klecksen und Spritzern übersät.

Mein Tempo erhöht sich stark. Ich habe nicht gewusst, dass ich dermaßen schnell rennen kann und doch komme ich viel zu langsam näher. Und während ich noch verzweifelt hoffe, dass es sich nur um eine ungewöhnliche Anschwemmung handelt, weiß ich doch bereits, was ich vorfinden werde. Ich bete zu allen mir bekannten Göttern, dass es nicht wahr sein möge, dennoch ist mir schmerzlich klar, was geschehen ist. Von mir unbemerkt geschehen, als ich geschlafen habe.

Ich habe versagt.

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