Geheimnis

„Lass uns in die Grotte gehen!", fordert Astraia und rutscht von meinem Rücken. Mitten in der Bewegung formt sie ihre Beine aus und landet im niedrigen Wasser auf ihren Füßen.

Ich nehme ebenfalls meine Frauengestalt an und stehe auf. „Willst du nur Abgeschiedenheit oder hast du was versteckt?" Astraia scheint so aufgeregt zu sein wie ein Kind, welches sein erstes Geschenk überreicht.

„Beides", gibt Astraia zu und lächelt zu mir hinauf. Wieder einmal fällt mir auf, wie unterschiedlich wir selbst dann sind, wenn wir die Form der gleichen Spezies annehmen. Astraia ist zart und schlank gebaut, mit einem niedlichen Gesichtchen, aus dem große, graue Augen strahlen und in langes, dichtes, dunkelbraunes Haar eingehüllt wie in einen Mantel. Ich hingegen überrage sie um anderthalb Köpfe, mein schwerer, muskelbepackter Körper hält keinen Vergleich mit ihrer zierlichen Gestalt aus und hellkhakifarbenes Haar, weder glatt noch lockig, hängt mir wie üblich in unordentlichen Strähnen um ein kantiges Gesicht mit einem sehr breiten Mund, den ich unter Menschen möglichst geschlossen halte. Meine Zähne sind zahlreich, dünn, lang und spitz und von hellem, durchscheinendem, bläulichem Weiß. Anglerfische haben ein ganz ähnliches Gebiss, Menschen in der Regel nicht.

Astraia findet mich „nicht hübsch, aber auf eigene Art sehr apart", was vermutlich bedeuten soll „Ich kann meiner besten Freundin ja nicht sagen, dass sie hässlich ist." Immerhin, völlig unansehnlich kann ich nicht sein, da selbst ich ab und zu auf vorwitzige Hände schlagen muss, die sich aus dem Kreis des Rates oder den Zodiaks auf meine grünlichweiße Haut verirren, die in so starkem Gegensatz zu Astraias Zimtbraun steht.

Aber wen kümmert schon das Aussehen eines Wächters? Astraia und ich verstehen uns sehr gut und lieben es, unsere Zeit miteinander zu verbringen. Dass Astraias Freizeit meine Arbeitszeit ist, bedeutet uns nichts.

Astraia geht mir voraus in die Grotte. Das Seegras unter ihren Füßen neigt sich kaum und richtet sich sofort wieder auf. Meine Fußspuren hingegen sind im flachen Wasser deutlich zu sehen.

In der Überflutungszone wird das Seegras von Meersalat und Salzbunge abgelöst. Da ich nicht weiß, wie lange Astraia brauchen wird, pflücke ich mir eine Handvoll Salat. „Willst du auch?", frage ich sie kauend.

Astraia schüttelt den Kopf und setzt sich auf einen mit Mastkraut und Meerkohl bewachsenen Felsen. Ich suche mir ein etwas größeres Exemplar in der Nähe aus, knabbere am Salat und warte ab.

„Wir sind zwölf!", platzt Astraia unvermittelt heraus.

Ich nicke nur. Das weiß ich. Zwölf Zodiaks und zwölf Wärter, die auf sie achtgeben und sie versorgen.

„Aber bald werden wir dreizehn sein", fährt Astraia fort.

Ich verschlucke mich und fange an zu husten. Wie meint Astraia das? Die Zahl der Zodiaks ist seit Jahrtausenden festgeschrieben. Wie kann man einfach entscheiden, den Kreis zu erweitern?

„Geht's?", Astraia klopft mir auf den Rücken.

Ich nicke wieder und krächze: „Schon okay. Ich war nur überrascht."

„Es sind nicht alle damit einverstanden."

„Das habe ich bemerkt", meine Stimme festigt sich wieder. „Skorpion scheint nicht sehr erbaut zu sein."

„Er wird ihn auch als Nachbarn haben", erläutert Astraia.

„Wen?"

„Den Schlangenträger."

„Ach, der." Ich kenne den Schlangenträger Asklepios flüchtig. Ein eher unbedeutendes Sternbild zwischen Skorpion und Schütze. Und vor allem ist er kein Zodiak. „Warum soll er zum Zodiak werden?"

Astraia hebt die Schultern. „Ich habe nicht alles verstanden. Aber die Neigung der Erdachse ist nicht mehr die gleiche wie damals, als der Kreis festgelegt wurde. Es sind Lücken entstanden und für uns ist es immer schwerer, sie auszufüllen. Deshalb finde ich es eigentlich gut, wenn der Schlangenträger zu uns stößt. Er liegt genau in der Ekliptik und ich glaube, er hat auch die nötigen Fähigkeiten."

Mir fällt etwas ein. „Ist er nicht Apollons Sohn?"

„Ja. Darum glauben einige, Apollon hat ihn deshalb vorgeschlagen."

„Hm." Ich denke einen Moment darüber nach. „Apollon würde ich schon eigennützige Motive zutrauen. Aber nicht, wenn es um den Kreis der Zodiaks geht. Die Prophetie nimmt er sehr ernst."

Astraia stimmt mir zu. „Das sehe ich auch so. Und ich mag den Schlangenträger. Mit ihm werde ich besser zusammenarbeiten können als mit ... anderen."

Ich grinse. Astraia versucht, stets neutral zu bleiben, kann aber nicht verhehlen, dass sie einige ihrer Kollegen und der Ratsmitglieder absolut nicht leiden mag.

„Steht die Entscheidung denn schon fest?" Ich glaube, Skorpion hat so etwas erwähnt.

„Ja. Es haben nicht alle, aber doch viele dafür gestimmt."

Ich recke mich etwas. „Nun, dann wird es eine Zeitlang Unruhen und Nörgelei geben und dann werden sich alle wieder zusammengerauft haben. Du fürchtest dich davor?" Astraia kann Streit und Uneinigkeit nicht leiden, während ich nichts gegen ein reinigendes Gewitter ab und zu einzuwenden habe. Mehr als einmal habe ich mich schon vor sie gestellt, weil sie sich vor lauter Friedfertigkeit nicht zu verteidigen wusste.

„Ja." Astraia zögert. „Sowieso schon. Aber gerade jetzt passt es mir überhaupt nicht."

„Dachte ich mir doch, dass dir noch etwas auf dem Herzen liegt", rutscht es mir heraus. „Aus einer Sache, die im Rat und unter den Zodiaks bereits bekannt ist, hättest du kein Geheimnis machen müssen."

„Nein, das nicht." Astraia lächelt. „Schau mal her." Sie schiebt das dicke Polster des Meersenfs auseinander, das sich direkt neben ihrem Sitzplatz befindet.

Ich stehe auf und trete zu ihr. Astraia hat dort eine Art Nest gebaut, aus Strandhafer und Binsen, reich mit weichen Stoffen ausgelegt und dann die Raukenpflanze darüber wuchern lassen.

„Was soll das denn werden?" Im gleichen Moment kommt mir die Erkenntnis. „Bist du ..."

Astraia nickt und ihr pikantes Gesichtchen strahlt auf. „Es wird nur noch einige Tage dauern."

„Aber – du bist die Jungfrau! Und außerdem – können sich Zodiaks überhaupt fortpflanzen? Und mit wem bitte ...?"

„Mit niemandem! Schon mal was von Parthenogenese gehört?"

„Ich weiß, was eine Jungfernzeugung ist! Aber dass du das kannst, war mir neu!" Ich bin völlig verwirrt. Zodiaks sind fast unsterbliche Wesen. Es gibt keinen Grund für sie, für Nachkommenschaft zu sorgen.

„Mir auch", gibt Astraia zu. „Aber in den letzten Monaten hatte ich das Gefühl, es könnte wichtig sein. Ich weiß nicht, warum, aber als Zodiak sollte ich auf solche Eingebungen hören, meinst du nicht?"

„Das wohl", gebe ich zu. „Ich hab ja von dem ganzen Astrologiekram keine Ahnung. Aber mir ist einigermaßen verständlich, welche Fähigkeiten ihr habt. Einer Ahnung von mir würde ich nicht trauen, aber wenn du etwas vorhersiehst, ist das etwas ganz anderes." Ich sehe wieder auf das Nest herunter. „Aber du hast recht. Das wird gerade in dieser Situation noch mehr Empörung hervorrufen."

Astraia seufzt. „Meine Entscheidung war schon gefallen und der Prozess in Gang gesetzt, als wir Zodiaks von Schlangenträgers Ernennung erfuhren. Ich kann es nicht rückgängig machen – und ich will es auch nicht." Unwillkürlich legt sie sich die Hand auf den Bauch.

Ich starre immer noch das Nest an. „Wie geht das eigentlich weiter? Legst du etwa ein Ei?"

„Ja – der letzte Einwicklungsprozess wird nicht mehr in meinem Körper stattfinden. Die Ausbildung von Gestalt und Organen ist fast abgeschlossen, jetzt geht es nur noch ums Wachstum. Ich werde das Ei hier verbergen können, wo es in den Flutzeiten mit Wasser und den wenigen Nährstoffen versorgt wird, die es braucht."

Das Nest bietet Platz für einen ganzen Wurf Katzen, stelle ich fest. Oder für ein kleines, aber nicht zu kleines Menschenbaby. „Wie groß wird es sein, wenn es schlüpft? Und wie lange wird es dauern?"

„Nur einige Wochen. Sie wird wie ein Menschenbaby sein, ich denke etwa 45 cm und zweieinhalb bis drei Kilo."

Das IST klein. Aber ein Neffe von mir war auch so klein und hat sich zu einem Mordsbrocken herausgemacht.

„Und das Ei wächst mit?"

„Teilweise. Es ist aber auch mit Nahrung für sie gefüllt. Am Anfang wird es undurchsichtig sein, aber immer transparenter werden. Wenn du Dikaia deutlich sehen kannst, ist es Zeit, die Hülle zu zerreißen."

Ich frage nicht, woher Astraia das alles weiß. Sie ist ein Zodiak. „Und dann? Was machst du mit ihr, während du arbeitest?" Ich hoffe ja, dass ich mich dann das Baby kümmern darf. Allmählich gefällt mir der Gedanke, dass wir gemeinsam für ein Kind sorgen werden, immer besser.

Astraia wird rot. „Es tut mir leid. Ich hätte dich fragen sollen, bevor ich überhaupt so etwas tue. Aber ich habe mich nicht getraut – und ich hatte Angst, du würdest nein sagen und ich müsste es dann trotzdem durchführen."

„Ich hätte niemals nein gesagt", protestiere ich. „Also darf ich sie haben, wenn du oben bist? Woher weißt du überhaupt, dass es ein Mädchen sein wird?"

„Du darfst?" Astraia lacht hell auf. „Natürlich ‚darfst' du. Ich habe so sehr darauf gehofft, dass du mir helfen wirst. Und ein Mädchen – was sonst soll bei einer Parthenogenese denn herauskommen? Sie wird eine Kopie von mir sein. Körperlich natürlich nur."

„Und die gleichen Fähigkeiten haben?"

„Ja, sicher."

„Dann ist das vielleicht der Grund, warum du das Gefühl hattest, ein Kind bilden zu müssen. Es könnte dir helfen, den auseinanderdriftenden Bereich zu kontrollieren, der zu dir gehört."

„Ja", Astraia sieht nachdenklich drein. „Auf die Erklärung bin ich noch nicht gekommen. Ja, es könnte so sein."

„Wie lange dauert es denn, bis sie erwachsen ist und dir helfen kann?"

„So wie bei einem Menschen eben. Also nicht allzu lange." Für uns, die wir schon seit Tausenden von Jahren leben, sind sechzehn bis zwanzig Jahre nur eine kurze Zeitspanne. Wenn ich auch den Verdacht habe, dass wir in diesen Jahren wesentlich mehr erleben werden als sonst in mehreren Jahrhunderten. Nicht umsonst heißt es ja, dass es ein Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Auf Astraia und mich wird einiges zukommen, wenn das Baby erst einmal auf der Welt und ich ahne bereits, dass wir kaum zum Luftholen kommen werden. Nicht dass mich das schrecken würde; ich stelle mir Dikaias Kindheit und Jugend sehr spannend vor.

Astraia blickt in mein Gesicht und lacht wieder. „Du machst schon Pläne, was du mit ihr alles tun wirst?"

„Du etwa nicht?"

„Doch, schon. Aber zuerst wird sie sehr klein sein und nur Wärme, Liebe und Milch benötigen."

„Wie kommen wir an die, wenn du oben bist?"

„Wenn es dir nichts ausmachen würde – du kannst Michel fragen, er hat einmal gemeint, es gäbe Kräuter, welche die Milch fließen lassen, auch bei Frauen, die nicht schwanger waren."

„Oh gut! Und nein, es macht mir überhaupt nichts aus." Michel ist eines der netteren Ratsmitglieder und ich bin mir sicher, dass er uns helfen wird.

Eine Welle leckt über meine Füße und erinnert mich daran, dass die Zeit drängt. „Astraia, wir müssen gehen!"

Meine Freundin springt auf. „Oh ja! So lange wollte ich hier nicht bleiben. Ich hätte nicht gedacht, dass du so begeistert bist und so viele Fragen hast. Ich dachte, wir würden das alles später besprechen, wenn du dich daran gewöhnt hast."

„Das mit dem Gewöhnen habe ich eben gleich erledigt. Du weißt doch, wie schnell ich bin."

Gleichzeitig mit Astraia nehme ich Nixengestalt an und springe ins Meer zurück. Gemeinsam schwimmen wir zu unserem Heim am Strand. Dort angekommen, wandeln wir uns wieder in Menschen und betreten das Haus.

Der Auflauf, den ich vorhin zum langsamen Brutzeln in den Ofen geschoben habe, ist warm und gut, aber nicht zu sehr gegart. Wir essen rasch, dann begleite ich Astraia nach draußen und beobachte, was für mich nach all der Zeit noch immer wie ein Wunder ist.

Astraia steht direkt vor mir und lächelt mir zum Abschied zu. Vor meinen Augen beginnt ihr Körper zu schimmern und zu verschwimmen, als sähe ich sie durch ein sich allmählich beschlagendes Fenster. Dabei wird sie immer durchsichtiger, bis die Landschaft hinter ihr durch sie hindurch zu erkennen ist. Und nun wächst sie, erst nur wenig, dann ins Unermessliche. Schon sehe ich den Schemen ihres Gesicht vor dem Nachthimmel, bis sie die ganze östliche Seite einnimmt. Dabei verliert sie jedoch immer mehr an Substanz, bis ich nur noch ihr Lächeln sehe. Aber auch das wird zum schwachen Nebel und löst sich dann völlig auf.

Ich sehe zum östlichen Horizont. Dort steigt gerade das Sternbild der Jungfrau auf. Und nun bilden sich feine, funkelnde Linien zwischen den einzelnen Sternen, werden kräftiger und schillern in allen Farben des Regenbogens.

Astraia hat ihren Platz eingenommen.

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