Freunde
„Diese Vollidioten!" Krotos durchmisst mit großen Schritten den riesigen Raum, der ein Mittelding zwischen Wohnzimmer und Stall ist. Ich habe mir nie zuvor überlegt, wie man wohl lebt, wenn man weder Pferd noch Mensch ist, sondern eine Mischung aus beiden. Melete und Krotos haben da einen guten Kompromiss gefunden.
Melete und ich sitzen in bequemen Sesseln an einem Tisch, der wie die Sessel auf einem gut einen Meter hohem Podest steht. Auch Anrichte, Bücherregale und Kommoden befinden sich alle hier.
Der größere Teil des Raumes ist mit Stroh statt mit Teppichen ausgelegt, weist in einer Ecke einen Kissenberg und einige Decken auf und in einer anderen ein Waschbecken in beachtlicher Höhe. Offenbar ist das Krotos' gesamter Wohnraum; ich hoffe allerdings, dass er eine gesonderte Toilette hat und das Stroh auf dem Boden nur seine Huftritte dämpfen soll.
Seitlich der Empore führt eine Tür auf einen Flur, von dem Türen in die Küche, Meletes Schlafraum und ein für Menschen geeignetes Bad führen. Und in eine weitere Kammer, die mir Melete als Gästezimmer zur Verfügung gestellt hat. Das Bett darin hat ein Maß von drei mal zwei Meter; ich werde mich dort nicht zusammenklappen müssen. Ich frage mich allerdings, wie die beiden darauf gekommen sind, überhaupt ein Gästezimmer einzurichten, noch dazu mit einem so gewaltigen Bett.
„Krotos, hör' mit deiner Wanderung auf und trink endlich deinen Tee", fordert Melete ihren Schützling auf. „Das Stroh kann nichts dafür. Heb dir deine Tritte auf für die Knallknöpfe, die schnell genug hinter der armen Keto her sein werden!"
Krotos muss unwillkürlich lachen. „Du hast ja recht. Aber ich werde einfach zornig, wenn ich daran denke, wie sie alle auf Keto geblickt haben – selbst Stier! Zuvor noch hat er sich für sie ausgesprochen!"
„Baba Wangas Aussage hat wohl alle verwirrt", Melete gießt Tee in Krotos' Becher. Der Kentaur steht nun auf der unteren Ebene, direkt vor dem Tisch, der genau am Rand der Empore platziert ist und hat so die Tischplatte in angenehmer Höhe vor sich. Für mich sieht es aus, als säße er in rein menschlicher Form mir gegenüber. „Das ist genial", lobe ich die Anordnung.
Beide kichern. „Was erwartest du von der Muse der Geschicklichkeit und dem Mann, der die Götter seiner Fertigkeit wegen belohnten?" Melete lächelt mich an.
„Belohnten ist gut", murrt Krotos. „Ich habe da so eine Ahnung, warum sie mir die Gestalt eines Kentauren verliehen haben."
Ich sehe ihn verdutzt an. Er lächelt schief. „Naja, ich habe in mehr als einer Hinsicht geschickte Hände. Sie sahen mich wohl als Konkurrenz."
Einen Moment lang bin ich verwirrt, dann geht mir ein Licht auf. „Ach so!" Und schon rutscht es mir raus: „Ist er wirklich so geschickt?" Ich habe bisher nur Gerüchte gehört, aber auch eigentlich nur von Leuten, die es selbst nicht ausprobiert haben.
„Soweit ich weiß, ja", sagt Melete ruhig. „Ich bin da nicht involviert."
Krotos ist rot geworden. „Ich würde nie ... nicht Melete ... das steht völlig außer Frage! Sie ist wie eine Schwester!"
„Wir sind sehr, sehr gute Freunde", erklärt mir Melete. „So wie du und Astraia es wart. Mehr war da nie und wird es auch niemals sein."
Hm, ist wohl auch besser so. So wie der Schütze auf so ziemlich jede hübsche Frau anspringt, wäre eine längere Verbindung als Zodiak und Wächter unmöglich, wenn auch noch dieses Element dazukäme. Ein Glück, dass ich hässlich bin; somit kann ich für längere Zeit auf Krotos' Freundschaft zählen.
Wir sind uns in den letzten fünfhundert Jahren näher gekommen und ich gebe zu, dass mir das auch gefällt; wenn Krotos seinen Sarkasmus und seine leichtfertigen Redensarten ablegt, kann man mit ihm sehr tiefgründige und produktive Gespräche führen. Melete ist oftmals zu uns gezappt, um mit Astraia shoppen zu gehen und immer öfter ist sie dabei von Krotos begleitet worden, der dann mir Gesellschaft geleistet hat. Der extrovertierte Schütze ist ungern allein und nimmt eher selbst mit mir vorlieb, bevor er einsam in einem leeren Haus sitzt.
Jetzt allerdings wird diese mir liebgewordene Gewohnheit wieder aufhören, fällt mir ein. Ohne Astraia hat Melete keinen Grund mehr, zu uns zu kommen und Krotos hat sie ja immer nur begleitet. Und das wohl auch nur dann, wenn er keine ansprechendere Gesellschaft gefunden hat, mit der er mehr tun als nur reden.
Dabei kommt mir ein Gedanke. Krotos ist vor über zweitausend Jahren verwandelt worden, die Gerüchte über ihn haben seitdem aber eher zu- als abgenommen. „Moment mal – wenn das der Grund war, warum die Götter Krotos verwandelt haben – warum kann er denn dann immer noch - " ich breche ab. Das ist immerhin etwas, was mich nichts angeht.
Krotos und Melete wechseln einen Blick. „Nein, ich glaube nicht", antwortet Melete auf eine Frage, die Krotos wohl nur mit seiner Mimik gestellt hat.
„Ich auch nicht", stimmt er zu, woraufhin Melete aufsteht, aus einer Kommodenschublade ein Tuch holt und es ihm zuwirft. Er fängt es auf und legt es sich nach Art eines einfachen Chitons um.
„Wieso ..." Meine Frage bleibt mir im Hals stecken, als Krotos plötzlich kleiner wird. Nicht viel, etwa um einen halben Kopf, was bei seiner Höhe von über zwei Meter zehn nicht viel bedeutet. Im nächsten Moment springt er auf die Empore, setzt sich in einen weiteren Sessel und zieht seinen Becher herüber.
Verdattert sehe ich auf die muskulösen, eindeutig menschlichen Beine, die unter dem Saum des kurzen Chitons zum Vorschein kommen. „Du kannst zum Menschen werden?"
Krotos grinst. „Sie gaben mir die Kentaurengestalt, weil ich schlau und geschickt bin. Und dachten nicht daran, dass ich mit diesen Eigenschaften auch darauf komme, wie ich die Verwandlung aushebeln kann. Ich kann trotz der göttlichen Eingriffe wieder als Satyr erscheinen."
"Äh - als Satyr?" So abwegig ist der Gedanke eigentlich nicht; ich habe oft schon gedacht, dass Krotos satyrhafte Züge hat. Er gibt sich sehr leichtfertig, spottet über alles und jedes und liebt es, andere zu necken, oftmals auch mit erotischen Andeutungen. Aber auch sein Gesicht mit der breiten Stirn, über die schwarze, unten spitz zulaufende Strähnen fallen; den Lachfältchen um die großen, lichtbraunen Augen, deren schöne Farbe an die von Ziegen erinnert; die ausgeprägten Linien um die kräftigen Lippen, die beim Lächeln deutlich werden; die lange, spitze Nase und das schmale Kinn haben mich oft an einen Satyr denken lassen. Tatsächlich ähnelt er Pan ein wenig, sieht allerdings wesentlich besser aus. Aber ich habe meine diesbezüglichen Assoziationen auf sein Benehmen zurückgeführt und nicht auf seine Abstammung.
"Hast du nicht gewusst, dass ich ein Satyr bin?"
"Du hast keine Ziegenbeine", entfährt es mir.
"Nein, das haben auch nicht alle Satyrn. Und meine Mutter ist eine Nymphe, von ihr habe ich die Beine."
Verblüffend, was ich heute alles Neue erfahre. Aber noch mehr überrascht es mich, dass Krotos mir das anvertraut. Bisher waren unsere Gespräche eher unverfänglich; sie betrafen alle möglichen Themen, nur nicht uns selbst. Er öffnet sich mir zum ersten Mal und ich nutze das jetzt aus. Zudem es mich auch etwas von Astraia ablenkt.
„Kannst du auch zum Pferd werden?"
„Oh ja. Sehr nützlich, glaub mir."
Das glaube ich ihm ohne weiteres. „Jetzt verstehe ich auch das zusätzliche Zimmer. Es ist deines!"
„Stimmt. Aber ich wollte dich schon lange mal in meinem Bett haben, Keto." Er grinst mich an. „Keine Sorge, ich schlafe da drüben", er weist auf den Kissenhaufen.
„Mach dir keine Gedanken", beruhigt mich Melete. „Er redet viel mehr darüber als er es tatsächlich tut. Er flirtet nur einfach sehr gerne und ich glaube, es macht ihm Spaß, Frauen zum Erröten zu bringen. Ich bin mit ihm aufgewachsen und habe das oft genug beobachten dürfen."
Womit es der Muse ihrerseits geglückt ist, Krotos erröten zu lassen. Aber ehrlich und selbstironisch, wie der Schütze nun einmal ist, gibt er lachend zu: „Sie kennt mich einfach zu gut, meine Muse. Ich werde dich nicht bedrängen gegen deinen Willen, Keto. Schließlich bin ich nicht wie Drabik."
„Oh, da mache ich mir überhaupt keine Gedanken", entgegne ich. „Drabik fährt auf alles ab, was dralle Brüste und einen runden Po hat, aber du stehst ja auf hübsche Frauen. Ich bin hässlich und somit sicher vor dir."
Krotos und Melete sehen mich entgeistert an. „Hässlich?", wiederholt Melete. „Wer bei allen Titanen hat dir denn den Unsinn eingeredet, Keto?"
„Du hast wunderschöne Augen in der Farbe eines Waldsees, in dem sich die Sonne spiegelt; eine Haut wie feines Porzellan, das man kaum zu berühren wagt; einen wunderbar ausdrucksvollen Mund, der jede deiner Stimmungen verrät; Haare wie eine niemals gemähte Wiese, unberührt, frei und wild und deine Figur ist überaus ansprechend. Sie mag für die meisten zu groß und kräftig sein, aber mir gefällt gerade das", erklärt Krotos ernst. Das ist jetzt kein Flirten mehr, sondern eine sachliche Aufzählung meiner Vorzüge. Es klingt, als habe er sich das lange und gründlich überlegt. Aber ich weiß ja, dass Krotos schnell denken kann. Trotzdem tun seine Worte gut.
„Ihr beiden seid wirklich sehr lieb", sage ich zum Schützen und seiner Muse. „Ich bin froh, dass ich euch als Freunde habe."
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