Ermittlungen

„Das ändert natürlich alles", stellt Apollon fest, nachdem er von den neuen Erkenntnissen erfahren hat. „Baba Wanga hat sich also auf Löwe bezogen, als sie meinte, der Mörder wäre unter uns."

Löwe wimmert voll Verzweiflung. „Ich begreife es nicht! Ich hätte Astraia doch niemals etwas tun können! Warum bin ich nur so beeinflussbar, erst Hera und nun noch jemand – ich bin der falsche Zodiak!"

„Das bist du nicht", ruft Herakles hitzig. „Es ist meine Schuld! Ich hätte das verhindern müssen! Ich verstehe nicht, warum ich das nicht bemerkt habe!"

Syrinx bemerkt mit ihrer flötengleichen Stimme, die uns alle immer wieder entzückt: „Heißt das nicht, dass auch Herakles unter Kontrolle gewesen ist?"

„Anzunehmen", bestätigt Helenos. „Zumal eigentlich beide ein Alibi haben."

„Sie bezeugen sich vermutlich gegenseitig, wo sie gewesen sind?", erkundige ich mich.

Kassandra raschelt mit Papieren. Obwohl sie Apollons Annäherungsversuchen permanent ausweicht, hat sie für ihn die Schriftführung übernommen. Ganz so unsympathisch scheint er ihr also nicht zu sein. „Ja, genau. Herakles und Löwe observierten eine Orang-Utan-Familie beim Spiel mit den Kleinen."

Klingt glaubhaft. Tierbeobachtungen sind ein gemeinsames Hobby der beiden.

„Orang-Utans sind tagaktiv", widerspricht Stier.

Aphrodite, deren Nase noch dick verpflastert ist, näselt verdutzt: „Astraia starb doch auch am Tag. Dann ist das doch richtig!"

„Nein, eben nicht", Kastor hat bereits erkannt, worauf Stier hinauswill. „Orang-Utans leben nämlich in Borneo und Sumatra. Da war es zu der Zeit Nacht."

„Das ist eine Tatsache, die gerade uns Zodiaks hätte auffallen müssen", grübelt Ganymed. „Schließlich erleben wir den Tag- und Nacht-Wechsel ja dauernd mit."

Löwe blickt mit tränenfeuchten Augen um sich. „Das ist wahr. Aber so sehr ich grübele, mir fällt nur dieses ein."

„Viellicht, weil du dich nur auf das konzentrierst, was du gesehen hast? Versuch dich an Geräusche zu erinnern, an Gerüche und Gefühle", schlägt Pan vor.

Löwe schließt die Augen und bemüht sich, Pans Rat zu befolgen. Unterdessen gibt Cheiron zu bedenken: „Als Neuling in diesem Kreis habe ich genau beobachtet, wie viele Zodiaks mit ihrem Wächter zusammen erschienen sind. Löwe zappte direkt neben mich und ich bin mir sicher, dass er alleine war. Herakles tauchte kurz danach weiter unter am Strand auf. Ich kenne mich nicht aus, aber kann das ein Zeichen sein, dass sie nicht zusammen waren?"

„Das ist überaus wahrscheinlich", bestätigt Melete. „Krotos und ich jedenfalls zappen zusammen, wenn wir beide am gleichen Ort sind. Als Ketos Schrei uns erreichte, kamen wir getrennt, weil Krotos sich zu dem Zeitpunkt in der Ekliptik aufhielt und ich shoppen war und erst einen Ort finden musste, an dem keiner mein Verschwinden beobachten konnte."

Krebs wedelt heftig mit einer Schere. „Er erschien neben dir? Aber der Spurenlage nach hatte Löwe sich verzappt und ist auf eigenen Pfoten zum Strand gelaufen!"

„Löwe verzappt sich nie!", schnappt Herakles.

Kassandra wühlt in ihren Pergamenten. „Doch, das steht hier auch. Krebs und Pan entdeckten Löwes Spur, die zum Strand führte."

„Krebs sagte was von Pfoten, aber das könnte doch auch Hydra gewesen sein." Herakles will nichts auf seinen Zodiak kommen lassen, der ohnehin schon angeschlagen genug ist. Was  immer Aidos an Scham bei der letzten Versammlung vermisst hat, jetzt wird sie voll auf ihre Kosten kommen.

„So groß waren die Spuren nun wieder auch nicht", schnappt Krebs. „Glaubst du, ich könnte das nicht unterscheiden?"

Richtig, Löwe hat zwar überaus beeindruckende Pranken, aber die Teile, die Hydras vier Tonnen transportieren, sind mindestens doppelt so groß. Wenn Krebs sagt, es habe sich um Löwes Spuren gehandelt, dann weiß er mit Sicherheit, wovon er redet. Zumal Hydra seine Wächterin ist und er ihre Abdrücke wohl gut kennt.

„Außerdem war der Boden am Landungspunkt verbrannt", fügt Krebs an. „Und Löwe ist ja nun mal ein Feuerzeichen!"

„Hey, das ist aber nicht richtig!" Krotos widerspricht vehement. „Ich bin auch eins, aber ich brenne nicht. Damit hat das nichts zu tun!"

Chysomallos, das dritte Feuerzeichen, stimmt zu: „Das Feuer bezieht sich eher auf unser feuriges Temperament und nicht auf irgendwelche Feuerkräfte!"

Apollon seufzt nur. „Ja, davon können wir alle ein Lied singen!" Zweifellos denkt er an die vielem Versuche, eine einmal ausgebrochene Debatte zwischen den dreien zu beenden. Wenn die Feuerzeichen einmal in Fahrt sind, hält sie so schnell nichts mehr auf.

„BLUT!" Wir alle fahren zusammen bei Löwes Aufbrüllen. Der Zodiak hat die Augen weit geöffnet, starrt jedoch ins Leere. Oder auf etwas, was wir alle nicht sehen können. Herakles legt ihm sacht die Hand auf die Mähne. „Was?"

„Da ist Geruch und Geschmack von Blut in meiner Erinnerung. Orang-Utans sind aber Veganer!" Löwe ist vor Erregung auf den Tisch gesprungen, sinkt aber nun haltlos zusammen. „Blut – und Fleisch – habe ich etwa – Astraias Herz – oh, nein, nein!"

„Du bist nicht schuld!" Herakles umarmt Löwes mächtigen Leib, so gut es geht. „Du hast nicht gewusst, was du tust!"

Hekate beruhigt Löwe: „Hast du nicht. Das hätte ich bemerkt, du warst doch im gleichen Raum. Ich vermute, dass Astraias Herz verbrannt worden ist; das würde erklären, warum ich ihren Geist nicht ausfindig machen konnte."

„Aber – wenn ich - dann ist es doch auch – zerstört -" Löwe heult vor innerer Qual auf und krümmt die ausgefahrenen Krallen.

„Ist es nicht! Es war doch direkt danach und so schnell verdaust auch du nicht!" So ausführlich hätte Hekate es nun wieder auch nicht erläutern müssen; mir wird übel bei der Vorstellung. Ganymed reicht ein Glas Wasser um Krotos herum zu mir und der Schütze hält es mir an die Lippen. Manchmal können Männer wirklich aufmerksam sein, denke ich und fühle mich ein wenig getröstet.

„Runter vom Tisch und wehe, du machst Kratzer!", donnert Apollon. Sein Tadel bringt Löwe wieder zu sich; betreten hüpft er von der Tischplatte. „Entschuldigung."

„Schon gut. Löwe, wir sprechen dich frei von jeder Schuld. Wenn du beherrscht wurdest, bist du für deine Taten nicht verantwortlich. Versuch also, dir keine Vorwürfe zu machen."

Löwe senkt den Kopf bei Apollons Worten, dann blickt er auf und sucht Augenkontakt mit jedem der Zodiaks. Alle lächeln ihm aufmunternd zu, die dazu in der Lage sind, selbst Chrysomallos verzieht sein Maul zu einer freundlichen Mimik. Stier brummt tröstend, Krebs und Skorpion strecken eine Schere in einer Geste der Vergebung aus. Und letztendlich sucht Löwe meinen Blick.

Vor meinem inneren Auge steht noch immer das entsetzliche Bild, wie Löwe seine Pranken in Astraias zarte Brust schlägt, ihre Rippen zerbricht und ihr Herz herausbeißt. Aber gleichzeitig höre ich auch Löwes qualvollen Schrei, sehe seine Tränen. Ich kann Löwe nicht mehr Schuld anlasten als mir selbst. Es kostet mich alle Kraft, aber ich lächle ihm zu.

„Ich glaube, jetzt haben wir eine ganze Menge Indizien", stellt Helenos fest. „Damit sollten wir den Schuldigen einkreisen oder sogar identifizieren können."

„Ich denke, wir können ihn sogar genau benennen", Krotos' Stimme klingt heiser vor unterdrückter Erregung, aber er hält sein „feuriges Temperament" im Zaum, zugunsten seiner Intelligenz und seiner Vorliebe für Rätsel. Astraia hat einmal erwähnt, dass der Schütze genau wie sie plötzlich zu einem ganz anderen Menschen werden kann. So oft habe ich miterlebt, wie Astraia sich von einem emotionalen, fürsorglichen, zurückhaltenden und unsicheren Geschöpf in eine nüchterne, rationale und methodisch vorgehende Analytikerin verwandelt hat, vor allem, wenn ich mal wieder an unseren Kontoauszügen verzweifelt bin. Krotos habe ich immer als fröhlichen, neugierigen, verspielten und impulsiven Abenteurer wahrgenommen; nun aber präsentiert er sich als gewitzter, scharfsinniger Ermittler.

„Wir wissen über ihn Folgendes: Er hat die Fähigkeit, andere Wesen unter seine Kontrolle zu bringen. Dass er sich aber ausgerechnet Herakles und Löwe ausgesucht hat, die beide sehr willensstark sind, weist darauf hin, dass er eine gewisse Verbindung zu mindestens einem von ihnen hat."

„Hera hat beide schon einmal kontrolliert", stellt Adonis fest. Krotos nickt. „Nur hätte sich Hera keinem von beiden nähern können, ohne ihr Misstrauen zu erwecken. Es muss also jemand sein, den sie nicht verdächtigen würden.

Weiter: Er wollte nicht als Täter erkannt werden und hat darum Löwe vorgeschoben. Das schließt alle diejenigen aus, die ohnehin bereits für Übeltaten bekannt sind – Typhon beispielsweise. Der macht sich mit Sicherheit keine Gedanken um seinen Ruf.

Er – entschuldigt, dass ich immer er sage, natürlich wäre eine Frau auch in der Lage, solche Taten zu begehen – kann mit sehr großer Wahrscheinlichkeit selbst töten, hat diese Fähigkeit aber nicht voll eingesetzt und Astraia nur betäubt. Es ist also davon auszugehen, dass er aufgrund der Art, wie Astraia ansonsten zu Tode gekommen wäre, unbedingt als Täter entlarvt werden würde. Wir können somit jeden ausschließen, der eine herkömmliche Waffe oder Fähigkeit nutzt. Ein Pfeil beispielsweise ist anonym; wenn wir von uns ausgehen, kämen Eros und ich, aber auch alle, die eine Kriegerausbildung genossen haben, in Frage. Bei einem giftigen Stich hingegen gäbe es unter uns nur einen möglichen Täter."

Wie treffend Krotos' Behauptung ist, beweisen die Versammelten unverzüglich; spontan blicken alle auf Skorpion, der empört auffährt: „Es war aber kein Stich!"

„Ich weiß. Das war nur ein Beispiel. Das nächste Indiz ist, dass er mit Löwe zusammen nicht direkt zu Astraia gezappt ist. Krebs, hat sich eine Spur mit der von Löwe überlappt?"

„Nein. Die sich verzappt haben, sind alle irgendwo anders gelandet."

„Der Täter besitzt also eine Fernwaffe", fährt Krotos fort. „Dass er Astraia niedergeschlagen hat, bedeutet nicht viel, jeder kann einen Stein werfen. Bedeutsamer ist der Elektroschock, dem sie ausgesetzt war."

Asklepios nickt. „Der war nicht stark genug, sie völlig zu verbrennen, hat aber in ihrem Kopf einigen Schaden angerichtet."

Woher weiß er das? Was um der Götter willen haben die Ärzte mit Astraias Körper getan?

Melete streichelt meine Hand. „Sie spürt nichts mehr", flüstert sie mir zu. „Es ist gut. Sie haben sie sicher respektvoll behandelt."

„Wir müssen also überlegen, wer einen solchen Schock auslösen kann", grübelt Eros. „Aber das kann man auch mit einem Elektropfeil erreichen."

Aha, noch einer, der die Marvel-Filme angesehen hat. Bei Gelegenheit hole ich mir die auch mal, vor allem die mit She-Hulk.

„Einen Pfeil hätte man finden müssen", wendet Pan ein. Syrinx schüttelt den Kopf. „Den hätte Löwe ja wieder mitnehmen können."

„Er hätte auf jeden Fall Spuren hinterlassen. Am Strand und an Astraias Körper." Auch Cheiron ist von der Pfeil-Theorie nicht überzeugt.

Krotos ergreift wieder das Wort. „Demnach ist also davon auszugehen, dass es sich um eine eigene Fähigkeit handelt, nicht um eine externe Waffe. Ein solcher Elektroschock wirkt aus der Nähe besser, der Täter hatte also einen Grund, sich Astraia nicht zu nähern. Hätte ihn das Wasser abgeschreckt, hätte er nur warten müssen, bis Astraia näher kam. Es sieht also danach aus, als handle es sich um jemanden, bei dem Astraia misstrauisch geworden wäre. Bei Löwe ist das schon mal nicht der Fall. Möglicherweise aber hat sein Auftauchen die Jungfrau abgelenkt, so bemerkte sie nicht, dass Löwe nicht alleine war. Oder sie hielt die ferne Gestalt für Herakles; es könnte also auch jemand sein, der ihm ähnelt.

Sehen wir uns das Motiv an. Ich gehe davon aus, dass unser Kreis zerbrochen werden sollte und es nicht um persönliche Rache an Astraia ging. Wie Hekate sagte, muss Astraias Herz zerstört worden sein, sonst hätte sie es lokalisieren können. Also wollte der Täter wohl verhindern, dass jemand anders die Rolle der Jungfrau übernehmen kann.

Insofern ist es verständlich, wenn zu diesem Zweck das leichteste Opfer ausgewählt wird. Aber genau das ist nicht geschehen.

Das leichteste Opfer wäre Ganymed gewesen. Er hat weder Kriegerausbildung noch körpereigene Fähigkeiten und ist auch nicht sonderlich stark. Das trifft zwar alles auch auf Astraia zu, aber diese hatte einen der stärksten Wächter zur Verfügung. Astraia konnte nur überwältigt werden, weil sie sich von Keto entfernt hatte. Sie hatte sich zu einem bestimmten Zweck ins Meer begeben und bei ihrer Rückkehr traf sie auf ihren Mörder. Also ist sie beobachtet worden und das wohl kaum rein zufällig in gerade diesem Moment, sondern es hat jemand auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Als Astraia alleine ins Meer stieg, hat der Täter schnell Löwe und Herakles unter seine Kontrolle gebracht und mit Löwe zusammen der Jungfrau aufgelauert. Es sind nicht viele, welche die Wesen auf der Erde so genau beobachten können.

Bei Ganymed hätte sich eine derartige Gelegenheit leichter ergeben. Und Aigina ist eine gute Wächterin, aber einen derartigen Angriff hätte sie im Gegensatz zu Keto nicht abwehren können. Warum also wurde die Jungfrau ausgewählt und nicht der Wassermann? Ganz einfach: Der Täter hat eine Aversion gegen die Jungfrau oder das, wofür sie steht, will aber den Wassermann nicht verletzen."

Ganymeds graue Augen sind weit aufgerissen. Wie die meisten im Raum schwant ihm bereits, auf wen Krotos hinauswill. „Er – er will mich zurück?"

Seine Frage verhallt in dem weiten Raum. Jeder von uns erwägt Krotos' Argumente, jeder von uns betrachtet sie von einer anderen Seite, aber wir alle kommen zum gleichen Schluss wie der Schütze. Erneut erlebe ich diese unheimliche Szene, bei der sich nach und nach alle Augen auf eine einzige Person richten. Aber diesmal stehe nicht ich im Mittelpunkt. Derjenige, der die Blicke aller auf sich zieht, ist Apollon.

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