Ei

„Ich bin nicht überzeugt davon", Krotos blickt sich unruhig um. „Es überrascht mich schon, dass uns hier niemand aufgelauert hat. Sie wissen doch alle, wo euer Haus steht."

„Du musst aber doch einsehen, dass Keto ihre Sachen holen muss", erklärt ihm Melete. „Ich kann ihr nichts leihen, weil alles zu klein ist und deine Kleidung wiederum ist ihr zu groß."

Das stimmt allerdings. Auch als Mensch überragt mich Krotos um einiges, vor allem ist er breiter als ich und ich vermute, dass er sich, wie ich auch, seine Kleidung für seinen Menschenkörper selbst nähen muss. Für Astraia haben wir immer wieder hübsche Sachen in den Geschäften der Menschen gefunden, aber in meiner Größe haben die außer Shorts, Unterwäsche und bauchfreien Tops so gut wie nie etwas. Kein Designer rechnet mit ein Meter fünfundneunzig hohen Frauen oder zwei Meter dreizehn großen Männern. Melete hingegen trägt gerade eine bestickte Jeans und eine gerüschte Seidenbluse, deren altrosa Ton wunderbar zu ihren braunen Locken passt. Und der verspielte Look harmoniert herrlich mit ihrer zierlichen Figur, den großen, blauen Augen, dem zarten, leicht aufgeworfenen Kindermündchen und der sommersprossenübersäten Stupsnase. Melete ist das Paradebild einer Kindfrau und kleidet sich auch meistens dementsprechend.

Einen Moment frage ich mich, ob ihr Astraia dazu geraten hat; meine Zodiak hat einen sehr guten Geschmack ... gehabt. Jetzt wird sie nie mehr Kleidung für mich oder die anderen aussuchen.

Ich schlucke die aufsteigenden Tränen herunter. Schließlich habe ich noch etwas zu tun. Für Trauer ist jetzt keine Zeit.

„Einpacken ist das eine", sage ich und reiche Krotos meine voll bepackte Tasche, die er widerspruchslos entgegennimmt. Offenbar hat ihn Melete schon gut dressiert. „Aber ich muss noch mal ins Wasser und etwas überprüfen."

„Ich bin dafür, dass wir hier verschwinden", murrt Krotos.

„Ich auch!" Die tiefe, volltönende Stimme erschreckt uns alle. Stier hat sich zu uns gezappt. „Keto, du bist hier nicht sehr sicher", warnt er mich. „Apollons Appell hat leider nichts genützt. Die anderen wollen dich zur Strecke bringen."

„Du nicht?", blafft ihn Krotos an. Wie es aussieht, ist er noch immer erzürnt über die Blicke, die ich in der Versammlung kassiert habe. Ich lächle über seine gerunzelte Stirn und seinen barschen Tonfall, die beide so ungewohnt bei ihm sind. Die Freundschaft und Treue, die er mir erweist, rührt mich irgendwie.

„Nein!" Stier stampft mit einem mächtigen Vorderhuf auf. "Ich glaube Phaeton nicht."

„Und Pasiphae?", forscht Krotos. Recht hat er. Es kommt so gut wie nie vor, dass die Zodiaks und ihre Wächter verschiedene Meinungen vertreten. Selbst Skorpion und Phaeton einigen sich in der Regel ziemlich schnell. Aber Stier ist alleine gekommen.

„Auch nicht", die Zauberin erscheint neben uns. „Also hatte er recht. Ich habe euch bei Krotos gesucht."

„Und warum?", will Melete wissen. Pasiphae blickt ihr direkt in die Augen. „Wir wollen euch helfen, Keto zu schützen. Ich weiß, wie wehrhaft sie ist, aber gegen so viele Zodiaks wird sie einen schweren Stand haben."

„Sind alle außer euch beiden gegen Keto?", forscht Krotos. Pasiphae hebt die Schultern. „Fast alle. Ganymed glaube ich, überlegt noch und Asklepios hält sich raus. Und Pan zofft sich noch heftig mit Chrysomallos und Krebs, ob man Keto erst verhören soll oder sie gleich zur Rechenschaft zieht."

„Das ist ja verständlich", stelle ich fest. „Ob ich Astraia getötet oder nur ihren Tod zugelassen habe, es kommt aufs Gleiche raus. Sie haben eigentlich recht, mich zu verfolgen." Und ich würde mich auch gerne von ihnen töten lassen, gäbe es da nicht noch etwas Wichtiges zu tun für mich.

„Sie haben das Ergebnis der Untersuchung abzuwarten", schimpft Melete. „Und außerdem – was machst du da eigentlich, Keto?"

„Ich sagte doch, ich muss noch mal ins Wasser", nach dem Top streife ich nun auch die Shorts ab.

„Das ist gefährlich", ruft Stier aus.

„Ich komme mit!" Melete ist die einzige, die mir folgen kann. Als Muse und darob Halbgöttin kann sie auch unter Wasser atmen.

„Okay", ich warte, bis auch sie sich ausgezogen hat. Gedanken um die Zuschauer machen wir uns beide nicht. Pasiphae ist ebenfalls eine Frau, Stier ein Rind und zudem nur an einer menschlichen Frau interessiert, Krotos sieht uns beide lediglich als Freundinnen an.

„Darf ich auch auf dir reiten?", fragt Melete, als wir in tieferes Wasser waten.

Es gibt mir einen Stich ins Herz. Astraia, die so gerne mit mir geschwommen ist, wird es niemals mehr tun können ... Aber das ist kein Grund, die Muse zu enttäuschen, die mir so selbstlos beigesprungen ist. „Klar", ich werde zur Seeschlange. „Halt dich an meinen Haaren fest!"

Melete tut es und ich schwimme los. Nach einigen zwanzig Metern tauche ich vorsichtig. Melete trommelt auf meinen Nacken und ich tauche wieder auf. „Schlimm?"

„Nein! Das ist sooo cool! Nochmal!"

Ach so, das ist Begeisterung gewesen. Na gut, ich tauche erneut, ertrage Meletes entzücktes Trommeln und Treten und steuere die Grotte an. Dort nehme ich Menschenform an, woraufhin Melete von meinem Rücken rutscht. Ihre blauen Augen sprühen vor Lebensfreude. „Das ist ja so toll wie das Reiten auf Krotos!"

„Das hat Astraia auch oft gesagt." Verdammt, schon wieder steigen mir die Tränen in die Augen.

Melete legt mir den Arm um die Hüften - sehr viel höher kommt sie nicht. „Ihr Geist sieht uns sicher zu und freut sich mit uns!"

„Du hast doch gehört, dass Hekate ihren Geist nicht finden kann", schniefe ich. Melete schweigt betroffen.

Ich suche in der Grotte nach dem Nest, das Astraia mir gezeigt hat. Es liegt nun dicht unter der Wasseroberfläche. Sehr behutsam schiebe ich den Meersenf auseinander.

Auf dem Polster liegt ein ovales, milchiges, in allen Farben schillerndes Ei von etwa fünfundzwanzig cm Meter Länge. Genau das habe ich mir auch schon gedacht. Darum also ist Astraia fortgegangen, ohne mir etwas davon zu sagen.

„Oh, wie goldig!", begeistert sich Melete. „Ich wusste nicht, dass du ein Kind hast, Keto. Kein Wunder, dass du hierher wolltest. Sollen wir es mitnehmen?"

„Nein, es muss noch eine Weile hierbleiben. Und es ist nicht meines, sondern Astraias."

„Astraias?" Melete schluckt. „Aber – Zodiaks bekommen keine Kinder! Das weiß ich genau, sonst hätte ich Krotos dauernd Kondome besorgen müssen!"

So weit hatte ich eigentlich nicht in das Privatleben des Schützen eindringen wollen.

„Ich meine, sie können nur, wenn sie es wirklich wollen ...", Melete bricht ab und fährt dann fort. „Sie muss es mit ganzem Herzen gewollt haben. Aber warum – und mit wem?"

„Parthenogenese", erkläre ich kurz und bündig.

„Oh. Wie interessant. Das bedeutet ja, dass der Kreis nicht wirklich gebrochen ist!"

Daran habe ich noch gar nicht gedacht. „Astraia sagte nur, sie hätte das Gefühl gehabt, es sei notwendig, ein Kind zu haben. Meinst du, sie hat ihren Tod vorausgeahnt und sozusagen vorsorgen wollen?"

Melete denkt nach. „Das kann ich mir sogar sehr gut vorstellen. Irgendwo habe ich mal gelesen, Zodiaks würden wissen, wann sie sterben oder in Lebensgefahr kommen. Ich hab's aber nicht geglaubt, denn als Krotos sich im 14. Jahrhundert die Pest eingefangen hat und Asklepios ihn nur um Haaresbreite durchgebracht hat, hatte er nicht die geringste Vorahnung gehabt."

„Weia", dass die Zodiaks auch krank werden können, weiß ich ja. Aus diesem Grund habe ich Astraia ja stets warme Kleidung aufgedrängt, wenn sie mal wieder achtlos barfuß und im Sommerkleidchen in den Schnee gerannt ist. Aber gleich die Pest ... „Ein Glück, dass er das überlebt hat."

„Ja, da bin auch sehr froh. Damals hat Pan mit Skorpion seinen Bereich übernommen und von beiden bekam ich heftige Vorwürfe, ich hätte besser aufpassen sollen. Vor allem Pan war stinksauer. Man hätte glauben können, ich hätte seinen Sohn umbringen wollen!"

„Darum wusste Krotos sofort, wie mir zumute war, als ich Astraia gefunden habe." Dann erst geht mir auf, was Melete noch hat durchblicken lassen. "Sohn?"

"Krotos ist Pans Sohn, darum ist er doch ein halber Satyr. Seine Mutter ist übrigens Eupheme, unsere Amme und Kindermädchen. Vielleicht verstehst du jetzt, warum er mich nie für satyrische Spielchen in Betracht ziehen würde. Ebenso wenig übrigens wie meine Schwestern." Melete spricht von den titanischen Musen, die im Gegensatz zu den bekannteren olympischen Musen nicht von Zeus abstammen. „Seine Mutter hat uns genährt und aufgezogen. Wir sind als Geschwister aufgewachsen und haben noch heute ein enges, aber rein familiäres Verhältnis zueinander."

Das alles ist mir neu. "Wissen die anderen das?"

"Apollon natürlich, ansonsten - ich weiß nicht. Drabik sicher nicht, sonst würde er dauernd darauf herumreiten. Und Pan möchte das nicht, wegen Syrinx. Er verheimlicht es nicht direkt, aber er möchte sie nicht ständig drauf stoßen, dass er einen Sohn mit einer anderen Frau hat. Er hat es ohne das schon schwer genug, Syrinx' Herz zu gewinnen."

"Hm." Das erklärt mir auch, warum ich es bisher nicht wusste. Als Seeungeheuer bin ich ziemlich isoliert aufgewachsen und wenn diejenigen, die davon wissen, nicht darüber sprechen, kann ich es ja nicht erfahren. "Jetzt ist mir aber auch klar, warum ihr so gut miteinander auskommt, obwohl Krotos dauernd hübschen Frauen nachsieht. Du bist natürlich nicht eifersüchtig auf deinen Ziehbruder und gerade du als Muse der Geschicklichkeit hast auch noch viel mit ihm gemeinsam. Und ich glaube, ihr beide beschützt euch irgendwie gegenseitig."

„Oh ja. Der häufigste Satz, den ich in der Zeit seiner schweren Krankheit von ihm gehört habe, war: Du bist nicht daran schuld! Er hat damals auch deshalb so verbissen um sein Leben gekämpft, damit ich nicht für den Rest meines Lebens mit Schuldgefühlen herumrenne."

Ich lächle unter Tränen. „Er ist schon ein Filou, aber ein lieber."

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