Dreizehn

Apollon starrt finster auf die Tischplatte vor sich. Erst nach einigen Minuten blickt er auf und seiner Miene ist anzusehen, dass er einen Entschluss gefasst hat.

„Ich bin da ganz bei dir", sagt er an Krotos gerichtet und steht auf. „Ich brauche keine weiteren Indizien mehr oder irgendeinen Beweis. Und jetzt reicht es mir. Ich werde ihn zur Rede stellen."

Sein Halbbruder Herakles springt auf. „Ich auch! Diesmal ist er wirklich zu weit gegangen!"

Polydeukes stimmt ebenfalls zu: „Es wird schon lange Zeit, dass wir ihm seine Grenzen aufzeigen. Er glaubt allmählich, dass er sich alles erlauben kann!"

„Mir ist es jetzt auch egal, ob wir das gleiche Blut teilen", erklärt Helena heftig. „Das ist eine Ehre, auf die ich gerne verzichtet hätte. Kastor kann von Glück reden, dass er vermutlich nicht von ihm abstammt."

„Ja. Ich hoffe schon lange, dass die Gerüchte wahr sind und ich einen anderen Erzeuger habe als ihr beide", erklärt Kastor. „Es ist sehr lange her, dass ich mir gewünscht hab, euer biologischer Drilling zu sein."

Apollon ist bereits an der Tür. „Ich stelle ihn auf der Stelle zur Rede!"

Nachdem sich alle Blutsverwandten gegen ihn ausgesprochen haben, gibt es auch bei uns anderen kein Halten mehr. Sämtliche Zodiaks, Wächter und Ratsmitglieder gesellen sich zu Apollon, der doch etwas erleichtert zu sein scheint, dass er sich nicht alleine auf den Weg zum Täter machen muss.

Was mich anbetrifft, so hätte ich diesem Kerl auch schon lange mal überaus gründlich meine Meinung mit Krallen und Zähnen auf die künstlich gestraffte Haut geschrieben, vor allem, wenn er wieder einmal Astraia zum Weinen gebracht hatte mit seiner Verachtung und seinen grapschenden Händen. Sogar bei mir hat er es immer wieder einmal versucht, in der Meinung, dass ihm keine Frau widerstehen kann, schon gar nicht eine so hässliche wie ich, die außer einem festen Po und großen Brüsten nichts Anziehendes an sich hat. Aber wie die anderen in unserem Kreis habe ich eben Rücksicht genommen, da sowohl unser Chef als auch ein - oder doch zwei? - Zodiaks und zwei Wächter nahe mit ihm verwandt sind.

Jetzt erweist es sich als Vorteil, dass wir alle so nahe beieinander residieren. Wir müssen nur die riesigen Hallen durchsuchen, welche anstelle von Gängen und Fluren die einzelnen Pantheons verbinden. Niedere Götter, Nymphen, Devas und Laren sehen verwundert zu, wie unsere Gruppe von insgesamt fünfunddreißig Personen die Hallen durchquert und Umschau hält.

Im griechischen Pantheonsaal hält er sich natürlich nicht auf, in seinen Privaträumen auch nicht. Nachdem wir etliche Bereiche durchsucht haben, verliert Apollon die Geduld. Mitten in einer der größten und vollständig leeren, weil ungenutzten Halle bleibt er stehen und ruft: „Papa! Babás!"

Das wirkt unverzüglich. Es knallt, vor Apollons Füßen glimmt eine winzige Flamme auf, die rasch heller und höher wird, unter leisem Knattern Funken und Blitze nach allen Seiten aussendet und sich dann in einer weißen Rauchwolke auflöst, in welcher nun der hustende Zeus sichtbar wird.

„Ziemlich dumm, Magnesium!", kommentiert Michel.

Zeus wedelt den Rauch fort, holt tief Luft und faucht Apollon an: „Du sollst mich nicht so nennen!"

Apollon zuckt die Achseln. „Wie sonst? Du bist doch mein Vater!"

Diesem Argument kann Zeus nichts entgegensetzen, also versucht er es auf andere Weise. „Du weißt, wo meine Tempel stehen! Dort kannst du mich jederzeit anrufen!"

„Ich will dich nicht anbeten, sondern dich zur Rede stellen!"

„Du willst was?" Zeus starrt seinen Sohn entgeistert an. „Was erlaubst du dir?"

„Ich erlaube mir, für meine Leute einzustehen!" Apollon stemmt die Hände in die Hüften und baut sich vor Zeus auf, der nun zu ihm aufsehen muss. Apollon ist einen halben Kopf größer als der oberste der olympischen Götter. „Sowas ist dir wahrscheinlich fremd!"

„Deine?" Zeus schielt zu uns herüber. „Ich sehe da einige meiner Söhne und Töchter sowie Mitglieder meines Pantheons!"

Töchter in der Mehrzahl? Er zählt wohl wieder Aphrodite mit, die uns aber versichert hat, dass sie entgegen Zeus' Aussage, sie mit Dione gezeugt zu haben, gar nicht mit ihm verwandt ist.

Der Streit hat bereits Aufmerksamkeit erregt. Etliche Gottheiten tauchen um uns herum auf und verfolgen die Debatte zwischen Vater und Sohn mit sichtlichem Interesse. Hier unter dem erloschenen Vulkan ist ziemlich wenig los und die Menschen beobachten wird mit der Zeit auch langweilig, zudem denen nie was Neues einfällt. Irgendwann hat man alle vorgeschobenen Gründe für einen Krieg gehört und kennt sämtliche dabei angewandten Strategien und Foltermethoden auswendig.

Netterweise zappen sich die anderen Götter lautlos in die Halle, ohne Magnesium, Barium oder Natrium für Spezialeffekte zu nutzen. So sind die Worte von Vater und Sohn deutlich zu vernehmen.

„Hier und jetzt sind sie hier als Mitglieder der Ekliptik!", donnert Apollon. Letzteres kann er als Sohn eines Wettergottes zumindest verbal so eindrucksvoll wie sein Vater. „Und darum eben bin ich auch hier. Warum hast du Astraia getötet?"

„Das habe ich doch gar nicht. Löwe hat ..."

„Ja, weil du ihn dazu gebracht hast!"

„Wie willst du das beweisen?"

„Das hast du gerade selbst bewiesen", bemerkt Helenos träge. „Wir haben es gerade erst herausgefunden, dass Löwe die Waffe war. Woher also hättest du es wissen sollen?"

Zeus plustert sich auf. „Ich bin allwissend!"

„Das bin ja nicht einmal ich", wirft Odin ein. „Also erzähl hier mal keinen Blödsinn!" Der Ase hat immerhin ein Auge für sein umfassendes Wissen hergegeben und kennt den Preis für Allwissenheit genau.

Apollon lässt sich nicht ablenken. „Ich habe gefragt, was du gegen Astraia hast, Vater! Ausgerechnet sie, die niemals jemandem ein Leid zugefügt hat und immer für die Gerechtigkeit eingetreten ist!"

„Diese dumme Pute! Sie hat immer nur von ‚alle sind gleich' geschwafelt und nie begriffen, dass einige eben höher stehen als andere!"

„Das hat sie über zwei Jahrtausende hindurch getan und ich zumindest habe wie die meisten inzwischen eingesehen, dass sie damit völlig richtig gelegen hat. Deine Ansicht, du würdest über ihr stehen, hast du ziemlich exklusiv, weißt du das?"

Zufällig sehe ich in dem Moment in Shivas Richtung und registriere sein energisches Nicken. Meine liebste Freundin ist in allen Pantheons sehr beliebt gewesen und hat mit ihrem ständigen Kampf gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit auch viele der Götter erreicht. Zeus ist einer der wenigen, der stur auf seinen nicht mal mittelalterlichen, sondern antiken Weltanschauungen beharrt.

„Das Weib hat mich genervt ohne Ende", murrt Zeus und klingt jetzt eher wie ein mürrischer alter Krauter, der sich darüber aufregt, dass der Baum seines Nachbarn ein Zweiglein über den Zaun geschoben hat.

„Das ist kein Grund, sie umzubringen! Und schon gar nicht, Löwe und Herakles dafür zu missbrauchen!"

„Löwe ist doch bloß ein Tier!" Diese Erklärung wird mit mehrstimmigen Knurren und Schnauben quittiert. Nicht nur Löwe und Stier, sondern auch Fenris, Kernunnos, Bastet, Anubis, Sachmet, Artio und Cama Zotz sind definitiv der Meinung, dass das Wort ‚bloß' hier fehl am Platz ist.

„Löwe ist ein Zodiak wie alle anderen auch!", stellt Apollon klar. „Und Herakles wirst du ja wohl kaum als Tier bezeichnen wollen!"

„Der ist mein Sohn und hat zu folgen!"

„Auch Söhne werden erwachsen und gehen ihren eigenen Weg! Ich schreibe Asklepios schon lange nichts mehr vor und habe auch in seiner Kindheit nicht dermaßen über ihn bestimmt wie du es noch heute bei mir und allen meinen Voll- und Halbgeschwistern tust! Kinder zeugt man, um ihnen Leben zu geben, nicht um sie ihr Leben lang zu besitzen!"

„Kinder haben ihren Vater zu ehren!"

„Da bist du ja das beste Beispiel dafür", Kronos lehnt an einer Wand der Halle und reinigt sich lässig die Nägel mit seiner Sichel. „Wie du mich geehrt hat, war wirklich beeindruckend!"

Apollon grinst und wendet sich erneut an Zeus. „Es geht immer noch darum, warum du Astraia getötet hast! Wolltest du den Kreis brechen?"

„Warum hast du deinen Sohn darin aufgenommen?"

„Weil die Ekliptik breiter geworden ist durch die stärkere Neigung der Erdachse. Das habe ich vorher mit allen Pantheons abgeklärt!"

„Aber damit wart ihr dreizehn!"

Apollon starrt seinen Vater an. „Was hat das denn damit zu tun?"

„Wir sind nur zwölf! Es darf nicht mehr Zodiaks geben als Götter!"

Für über eine Minute ist es ohrenbetäubend still in der Halle. Vermutlich rauschen nicht nur meine Ohren und mein Kopf, denn auch alle anderen sehen so verdattert aus wie ich mich fühle. Hat Zeus das tatsächlich gesagt? Eine bloße Zahl soll der Grund für die Ermordung meiner besten Freundin gewesen sein?

Odin findet als erstes Worte: „Wir sind auch zwölf. Aber ich sehe da keinen Zusammenhang mit der Ekliptik."

Re schüttelt verwundert den Kopf. „Zeus, das ist doch deine eigene Entscheidung! Ihr Griechen habt so viele Götter wie wir Ägypter. Du selbst hast die Zahl der Olympier auf zwölf beschränkt und hättest das jederzeit ändern können!"

„Ich hätte also meine Ordnung anpassen müssen, damit mich mein Sohn nicht übertrumpft?", entgegnet Zeus wütend. „Das könnte dir so passen."

Endlich rührt sich Apollon. „Also echt, Alter, du bist sowas von abgefuckt", bringt er im Tonfall eines Teenagers hervor, der die ältere Generation für hoffnungslos veraltet hält. „Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein! Nur damit es nicht mehr als zwölf werden, musstest du einen Zodiak umbringen?"

„Deinen Kreis hätte es nie geben sollen", faucht Zeus. „Den Menschen steht kein Wissen zu, schon gar nicht das Wissen um zukünftige Dinge. Ich erfahre ja schließlich auch nichts davon!" Stimmt genau. Schicksal und Zukunft stehen selbst über Zeus und das hat diesen schon immer verärgert.

„Und außerdem stiehlst du mir meine Leute! Meine Götter", das ist an Eros und Aphrodite gerichtet, „und meine Diener."

Ganymed zuckt zusammen. „Ich bin nicht mehr dein Mundschenk und sehr froh drum!", lässt er seinen einstigen Herrn wissen. Aigina eilt sofort an seine Seite und legt einen Arm beruhigend um ihn. Die Flussnymphe ist ebenso wie Ganymed einst von Zeus entführt worden – und vermutlich missbraucht, worüber sich aber beide ausschweigen – und hat vollstes Verständnis dafür, dass Ganymed sich von Zeus lieber fernhält.

„Sag mal, glaubst du wirklich, dass du tun kannst, was du willst?" Apollon wird jetzt richtig sauer. Es ist ja nicht so, dass Apollon sich in der Antike sehr viel besser betragen hätte als sein Vater. Aber ihm muss man zugute halten, dass er sich sehr stark gebessert hat, seit er die Verantwortung für die Ekliptik übernommen hat. Selbst dass er hinter Kassandra her ist, liegt eher an echtem, aber zu seinem Pech unerwidertem Interesse seinerseits als an seiner damaligen Angewohnheit, jedes Geschöpf anzubalzen, welches nicht bei drei auf einem Baum war oder sich selbst in einen verwandelt hatte.

„Natürlich kann ich tun, was ich will! Ich bin der Göttervater!"

„Ach nee!" Das kommt von Odin und Shiva gleichzeitig. Amaterasu hebt die perfekt gezeichneten Brauen. „Oh ja?" Kernunnos senkt den gehörnten Schädel in Angriffsposition. „Das können wir gerne genauer ausdiskutieren, mein Lieber!" Auch Re legt den Kopf schief. „Ja, da besteht ganz sicher Redebedarf." Teutates nickt grimmig. „Das ist wohl kaum der rechte Ort für eine solche Behauptung!"

„Immerhin beherrsche ich Blitz und Donner!", versucht es Zeus erneut.

„Was natürlich einmalig ist unter den Göttern!" Thor wirbelt lässig seinen tonnenschweren Hammer um den Finger. Lei Gong jongliert mit Hammer und Meißel, Perun schwingt probeweise seine Keule. Indra und Taranis vergleichen die Länge ihrer Donnerkeile mit dem von Zeus und Raijins Fingerspitzen entlocken seiner Trommel eine unheilvolle Melodie. Ich meinerseits staune über Zeus' unnachahmliches Talent, sich in die Nesseln zu setzen.

Zeus sieht sich nun in der Defensive und hat offenbar das Bedürfnis, seinen Anspruch mit Taten zu untermauern. Schon die ganze Zeit habe ich die flackernde, bläuliche Aura um Zeus bemerkt, nun wird sie dichter und dicker, bis der Olympier von unruhig leuchtendem Plasma umhüllt ist. Nun lösen sich auch kleinere Blitze, die sogenannten Vorblitze und erhellen die Halle. Eindeutig bereitet sich Zeus auf einen Donnerschlag vor, der sich gewaschen hat.

Etwas fliegt über meinen Kopf hinweg, durchbohrt das Plasma und berührt Zeus an der Schulter, bevor es zu Boden fällt. Die blaue Aura um Zeus flammt kurz auf und fällt dann blitzartig in sich zusammen. Einige kleinere Flämmchen flackern auf dem zum Glück feuerfesten Basalt des Boden auf und verlöschen dann. Zeus steht nun wieder hüllenlos – in doppeltem Sinne, da sich Chiton und Himation nicht als feuerfest erwiesen haben – vor uns und starrt verdutzt auf seine leeren Hände, dann auf den Pfeil zu seinen Füßen. „Mein Donnerkeil - meine Energie – neutralisiert?", stottert er.

„Positive Elektrizität neutralisiert nun mal negative", Krotos lässt den Bogen sinken. „Das wollte ich schon lange einmal ausprobieren."

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