Kapitel 3
Die Schrecken des Albtraums haben sich fest an seinen Verstand gekettet. Tag für Tag werden es mehr Fesseln, die ihn an den wie einen Vulkan ausbrechenden Wahnsinn binden, an die triste Hoffnungslosigkeit. Die Sekunden verziehen in Minuten.
Tristan klatscht weniger vor freudiger Begeisterung als um Ablenkung zu beschwören in seine schweißnassen Hände. Die schulterlangen braunen Haare kleben ihm im Gesicht wie lästige Fliegen im Sommer, verschleiern die umherzuckenden Augen, die in jedem noch so kleinen unbeleuchteten Winkel einen seiner hinterhältigen Dämonen suchen.
Der Junge fühlt sich nicht halb so beherrscht wie er vorgibt. Mit jedem Atemzug klammert sich das unbarmherzige Gefühl zusammenzubrechen fester an ihn. Er muss jetzt etwas tun. Ablenkung. Wieder klatscht er in die Hände und hebt die raue Stimme: „Während ich mich um den schlafenden Stein da drüben kümmere", er nickt in Richtung der Matratze gegenüber des kleinen Straßenjungens, „kannst du schon mal ins Bad gehen. Wir haben zwar kein laufendes Wasser, aber das in den Eimern reicht auch. Der gelbe ist deiner. Wenn wir nachher im Waldsee baden gehen musst du den mitnehmen. Ach ja, und das Bad ist da drüben." Er zeigt mit dem Finger auf die rechte der beiden rechteckigen Öffnungen, die einst einmal von Türen verschlossen wurden. Jetzt hängt vor eben jener eine zerschlissene Decke, eingeklemmt in die Reste eines Rahmens.
Zögerlich nickend steht Dan auf und tritt hinter den provisorischen Vorhang. Der Raum, in den der kommt, ist einengend klein und nicht einmal ein Fenster vergrößert ihn künstlich. Mit drei Schritten kann Dan ihn durchqueren. Den blassgelben Eimer sieht er sofort. Links neben ihm stehen noch ein roter und ein blauer, deren Farben ebenso verblasst und verdreckt sind. Ein weißer befindet neben der alten Toilette. Anscheinend soll das Wasser in ihm die nicht funktionierende Spülung ersetzen.
Mit beiden Armen lehnt er sich gegen das defekte Waschbecken und starrt in den Spiegel.
Splitter und Kratzer liegen wie ein Spinnennetz, das den Staub der Zeit fängt, über ihm, aber es störte ihn nicht.
Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass er sich in die Augen schaut und nicht nur eine flüchtige Reflexion in Schaufenstern oder Regenpfützen wahrnimmt.
Tiefe Augenringe haben sich von den langen, unruhigen und ungemütlichen Nächten auf der Straße unter seine rehbraunen Augen gegraben. Seine Haare wuchsen bis über seine Schulter hinaus und haben immer noch dieselbe dunkelblonde Farbe wie vor einigen Jahren. Der Dreck allerdings färbt sie einen Ton dunkler.
Das Gesicht in das er blickt sieht dem seinen nicht gleich. Nicht für ihn. Das ist nicht er. Er kommt sich selbst unbekannt vor. Als würde er einen Fremden ansehen.
Das Gefühl irgendwo falsch abgebogen zu sein und sich dabei selbst verloren zu haben nimmt Überhand. Ein Verfluchter, der die Macht an sich reißt. Langsam verschwimmt die Sicht, seine Augen brennen und die Lippen nehmen den salzigen Geschmack der ihm über die Wangen laufenden Tränen an. „Das bin nicht ich", flüstert er, aber die Worte bleiben ihm zur Hälfte im Hals stecken. Trotzig wischt er mit seinem verschmutzten Ärmel über sein Gesicht und geht einen Schritt zurück. Sein Abbild tut es ihm gleich. „Du bist nicht ich." Wütend starrt er in seine eigenen Augen. „Hör auf mir nachzumachen." Dan weiß, dass es nichts bringt, das zu sagen. Glauben will er dem Spiegel trotzdem nicht. Schnaubend dreht er sich um, dreht sich selbst den Rücken zu, die Hand fest zur Faust geballt.
„Olivia, steh auf." Langsam verliert Tristan die Geduld. „Ich mein es ernst, jetzt steh auf verdammt."
Als das leise Murren die einzige Antwort bleibt steht der Junge auf und reißt ihr unbarmherzig die Decke vom Körper. „Jetzt steh auf."
Das Mädchen hebt den Kopf, kneift die grünen Augen zu schmalen Schlitzen und sieht ihn müde an. „Was?" Ihr versuchtes Fauchen gleicht einem wütenden Gemurmel. Die dunkelbraunen, rotstichigen Haare hängen ihr zerzaust in das Gesicht, vereinzelte Strähnen schieben sich vor ihre Iriden. Sie macht keine Anstalten sie wegzuwischen. Stattdessen gähnt sie und lässt den Kopf wieder auf die Matratze fallen.
Ein klitzekleines bisschen tut es ihm leid ihr diese Ruhe genommen zu haben. In den wenigen Wochen, die Olivia und er hier miteinander verbracht haben, durfte er lernen, dass auch sie nicht selten von Albträumen gejagt wird. Wenigstens werden ihr auch friedliche Nächte geschenkt. Der winzige Funken Mitleid erlischt bei dem Gedanken an seine eigenen Probleme als wäre er nie dagewesen. „Aufstehen. Jetzt. Wir haben Dan doch einiges zu zeigen", antwortet er gespielt begeistert.
Das Mädchen seufzt und vergräbt ihr Gesicht wieder in dem kleinen Kissen. „Muss das sein? Das hat doch noch Zeit."
„Muss sein. Jetzt." Tristan lässt es nicht wie einen Befehl klingen. Dass es einer ist, bleibt ein offenes Geheimnis.
Wiederwillig setzt sich Olivia auf. Die Augen verdrehend zischt sie: „Wenn du mal eine Mütze Schlaf bekommst, dann werde ich dich auch zwingen aufzustehen."
„Kannst du ruhig machen, wird eh nicht passieren." Das Grinsen auf Tristans Gesicht scheint verbittert und wenn sich das Mädchen nicht täuscht, dann flackern seine Augen, zucken unruhig hin und her.
Stoff raschelt und mit tapsenden Schritten nähert sich der Straßenjunge ihnen.
„Ah, Dan. Also das da, der verschlafene Stein von vorhin, ist Olivia. Und Olivia, das ist Dan."
„Pf. Selber Stein." Sie verschränkt die Arme. „Aber hey, jetzt kannst du mir ja Gesellschaft leisten, dann bin ich nicht mehr alleine mit dem da." Ihr Lächeln wirkt ehrlich und alleine dadurch fühlt sich Dan um einiges wohler.
Olivias Kommentar übergehend meint Tristan ruhig: „Dann können wir ja jetzt zum See gehen."
„Jetzt schon?", murrt das Mädchen weiter. „Es ist sicher noch nicht einmal halb acht.
Tristan zuckt mit den Schultern. „Kann schon sein. Ist jetzt eh egal." Sanftmütig lächelt er Neuen an. „Immerhin haben wir Dan ja einiges zu erklären."
Dieser sieht nur zwischen seinen beiden Mitbewohnern stumm hin und her und wartet nervös ab. Die Fremde der plötzlichen Gesellschaft hängt noch über ihm und es wird einige Zeit dauern, bis es für den kleinen Jungen normal erscheint, sich mit anderen Menschen auf derselben Ebene zu unterhalten.
„Kannst du das nicht jetzt schon machen und mich nicht einfach weiter schlafen lassen?" Die grasgrünen Puppenaugen verdrehend gähnt sie bekräftigend.
„Nein." Tristan klatscht in die Hände. „Jetzt auf, ich habe nicht ewig Zeit."
„Ja klar, weil du ja auch so viel zu tun hast." Sie seufzt und setzt sich auf. „Aber na gut, wenn du meinst."
Der brünette Junge klatscht wieder in die Hände. „Na also, geht doch. Dann brauchen wir nur noch die Eimer." Er dreht sich um, betritt denselben Raum, den Dan gerade erst verlassen hat und kommt alle vier Eimer tragend wieder zurück. Den blauen drückt er dem Mädchen in die Hand, den gelben überreicht er Dan. „Oliv, nimm den Silbernen."
Das Mädchen tut wie geheißen und hebt den größeren Kübel, der etwas abseits steht auf, ehe Tristan losgeht und sie ihm durch die Haustür folgen.
Dass die Luft in dem Haus trotz der Löcher muffig riecht, fällt Dan auf, als sie in die morgendliche Kühle hinaustreten und ihm der Geruch des Waldes in die Nase steigt, während sie ihn auf einem schmalen Trampelpfad durchqueren. Das dichte Blätterdach hält die Strahlen davon ab den Boden zu berühren. Nur hier und da stiehlt sich der ein oder andere durch das Geäst und kitzelt Dan an der Nase. Die anfangs vereinzelten Vögel finden sich in einem Chor zusammen, um den Tag freudig zu begrüßen. Alles wirkt so friedlich. So frei. Nicht gebunden an eine graue Straße.
Irgendwo in der Nähe plätschert Wasser und schon bald treten sie auf eine kleine Lichtung hinaus. In der Mitte schimmert die Oberfläche des Sees im Sonnenlicht und wenige Insekten verbreiten ein angenehmes Summen.
Freudig springen die drei in das kalte Wasser. Die Kleidung klebt an ihren Körpern wie eine zweite Haut, zieht sie schwer tiefer in das blaue Nass hinein und langsam, als würde das Schicksal zögern, ob es die richtige Entscheidung war, löst sich der Dreck eines vergangen Lebens von Dans Kleidung und bereitet ihn auf das neue vor.
Während die zwei Kinder, denen er eine neue Heimat geschenkt hat, in einer Wasserschlacht ihren Spaß finden versinkt Tristan in seinen Gedanken. Den Kopf unter Wasser hält er den Atem solange an, bis seine Brust zu platzen droht. Das Brennen in seinem Hals, die Explosion in seinem Inneren, beides lenkt ihn nur für einen unbedeutenden Augenblick von der vernichtenden Realität ab. Der, in der seine Träume der Wirklichkeit entspringen und sein Vater ihn in ihnen heimsucht. Der, in der er das Blut nicht von seinen Augen waschen kann und die Vergangenheit ihm mehr zu ersticken droht als der Sauerstoffmangel.
Als er wieder auftaucht scheint der Gesang der Natur lauter als zuvor. Das Rauschen des Windes, das Konzert der gefiederten Lebewesen. Alles um ihn wirkt so schrecklich lebendig, nur denen, die er liebt, wird dieses Glück nicht vergönnt. Eine bittere Tatsache. Und auch Tristan selbst hat das Gefühl, dass der Tod seine abgemagerten Finger um sein Herz gelegt hat.
Noch ist der Sommer nicht vorbei, aber schon bald wird der Herbst die Tiere verscheuchen, der Winter seine eisigen Klauen ausstrecken und das Leben aushauchen. Die ersten Blätter verfärbten sich schon. Die grüne Hoffnung weicht Blutrot und unterdrückendem Braun.
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