I

Immer wieder glaubt er den markerschütternden Schrei zu hören, während er durch die, von Laternen wenig beleuchteten, verlassenen Straßen Pennsylvanias hastete.

Das Rot des Blutes schien ihm vor den Augen zu kleben, die Szene sich wie bei einer kaputten DVD in Dauerschleife abzuspielen. So als wäre er in dem Moment wie in einem Gefängnis gefangen und würde an den Metallstäben rütteln und rufend um Hilfe bitten, als würde sich der grausame Mord immer und immer wieder wiederholen.
Es ließ ihn erschaudern, ließ ihn schreien, Tränen über seine Wangen laufen, egal wie sehr er sie sich verbot. Unsanft versuchte er sie wegzuwischen, doch sie schienen sich genauso an seine Haut zu klammern, wie der Augenblick an seine Erinnerung, wie das Echo des qualvollen Gekreisch in seinen Ohren hallte, obwohl er seine Hände auf sie presste. Vergeblich.

Als wäre der Schmerz nicht groß genug.

Er wollte nicht. Er wollte es nicht mehr hören, nicht mehr sehen. Er wollte es nicht mehr erleben. Die Bilder, sie hatten sich allerdings bereits jetzt wie ein Brandzeichen in seinem Kopf eingebrannt, sie werden ihn sein Leben lang heimsuchen, ihm keine Ruhe lassen.

Manchmal ließ die Erinnerung ihn die Umgebung wahrnehmen. Dann sah er nicht das Blut, sondern die Schatten, die den Tanz der Toten tanzten und sich ihm bedrohlich näherten. Sie schienen ihm zu schmeicheln wollen, so wie sie sich gegen seinen eigenen schmiegten, aber in Wahrheit bedrängten sie ihn, versteckten die Messer in dem undurchdringlichen Schwarz und warteten den passenden Moment ab, um ihn zu töten. Er wich vor ihnen zurück, versuchte dort zu gehen, wo das wenige Mondlicht den Boden noch regierte.
Dann hörte er nicht den qualvollen Schrei, sondern das Knarzen und Knacken der Bäume, den Wind, der das Lied verlorener Seelen pfiff, als er gespenstisch durch Geäst, Blätter und Halme fuhr und das gefärbte Laub rascheln und hinabgleiten lies. Es war Rot. Rot wie das Blut, das an dem Messer hing. Rot wie der Tod.

Es waren die Geräusche des Lebens, die ihn verrückt machten, jedes einzelne ließ ihn zusammenzucken, wenn die Geräusche des Todes sie nicht übertönten. Es waren die Bilder des Lebens, in denen er den Tod erkannte.
Es machte ihm Angst. Die Nacht, der Vorfall, das Jetzt. Es machte ihm alles Angst. Die Zukunft, die Geschehnisse, die Nacht.

Der Junge zitterte. Zitterte vor Kälte, aber vor Angst. Andauernd fuhr er zusammen, schreckte auf und schaute sich furchterfüllt um. Die Hände hatte er von seinen Ohren genommen und um sich geschlungen, aber immer, wenn das Kreischen zu durchdringlich wurde drückte er sie auf sie, als würde es etwas helfen, aber das tat es nicht. Dann, wenn das Echo nicht mehr aufhören wollte, der Film ihn noch verrückter machte, als ohnehin schon, dann, wenn er dachte, er würde es nicht mehr aushalten, schlug er mit geballten Fäusten gegen seinen schmerzenden Kopf. Es nutzte nichts. Also schrie er. Er schrie, bis sein Hals kratzte, er heißer war und selbst dann hörte er meist nur kurz auf. Er hörte sich nur dumpf, denn das, was er hörte war ihr Gekreische, ihr Flehen. Die Stimme, die er wahrnahm war von Panik zittrig und erfüllt, nicht wie sonst voller Freude und Enthusiasmus. Die Tränen hielt er schon lange nicht mehr zurück, sie ließen seine Sicht verschwimmen, aber er bemerkte es nur beiläufig, denn das, was er sah, waren die Bilder vor seinem inneren Auge.

Nur dann, wenn die Szene endete, nahm er sich selbst wieder wahr. Wenn das geschah, verstummte er, hörte seinen Herzschlag rasen und seinen heftig gehenden Atem, hörte die Töne der Umgebung, die sich zu einer Melodie der Furcht verbanden, sah die Schatten, wie sie ihm an den Füßen klebten und ihm Angst machten. Er schmeckte das salzige Nass auf seinen Lippen, spürte die Frische der Nachtluft, die ihn zu erdrücken, ersticken schien. Er war verzweifelt. Wartete nur darauf, dass das schreckliche, in seinem Gedächtnis immer und immer wieder geschehende Ereignis ihn erneut übermannte.

Er dachte nochmal zurück an sie, an ihre süßliche, melodiöse Stimme und den lieblichen Gesichtsausdruck. An ihre schwarzen Haare und die braunen Iriden, ihr Parfum, nachdem sie immer roch - Magnolie. Sich dieser Erinnerung hinter seinen Lidern hingebend, hatte er kurz das Gefühl, als wäre er in der Zeit zurückgereist und alles wäre immer noch gut. Sie lächelte ihn an, sprach darüber, dass sie an dem Abend endlich wieder eine alte Freundin sehen würde. Langsam wich das wieder der Farbe des vergossenen Lebenssaft, ihrem seltsam entstellten Gesicht, durch blaue Flecken und Messerschnitte verunstaltet, und ihrer offenen Kehle. Die Ruhe und Freude in der Stimme seiner Mutter wich ihrer qualerfüllten und angsterstickten, der Duft, den er in der Nase hatte, vermischte sich mit dem von Blut. Die Wärme in ihren Augen wurde durch Entsetzen und Kälte, durch Leere ersetzt.

Ruckartig riss er die Augen wieder auf. Die Pupillen waren geweitet und der Junge fuhr sich unruhig mit zittriger Hand und schnell gehendem Atem durch das braune Haar. Sein Herzschlag dröhnte im Einklang mit dem Kreischen in seinem zu platzen drohenden Kopf.

In der Ferne erklang der Schrei eines Kauzes. Früher einmal hatte ihm sein Vater erzählt, dass immer, wenn so ein Laut ertönt jemand stirbt. Der Tod war dieses Mal schneller. Der Ruf aber glich einer Ankündigung.

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