Kapitel 5
„Also das mit deinen Augen sollte ich mir mal genauer ansehen, falls ich hier mal fertig werden sollte. Gibt es bei den Mondjägern vielleicht eine Art Bindehautentzündung, die eine Irisfärbung hervorruft?"
Flynn lag zwar lässig auf einer Krankenliege, aber man konnte sehen, dass er absolut müde und überarbeitet war. Dennoch betrachtete er Ava kritisch. Und zwar ihre Augen, die immer noch diesen eigenartigen fliederfarbenen Ton hatten.
„Keine Ahnung! Ich war noch nie krank! Zumindest nicht als Mondjäger. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Mondjäger überhaupt krank werden können."
Er zuckte leicht mit der Schulter und wischte sich schon zum x-ten Mal über die Augen.
„Das wäre mir auch neu. Aber irgendetwas muss diese Irisverfärbung ja ausgelöst haben.
Ava spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie hätte Flynn natürlich sagen können, was es ausgelöst hat, aber das würde sie ihm bestimmt nicht auf die Nase binden.
„Das, mein lieber Ire, geht dich ein Scheißdreck an."
Er lachte leise und legte seinen Kopf wieder zurück und starrte zur Decke.
Isabeau hatte Ava erzählt, dass er geschlagene vierzig Stunden am Stück gearbeitet hatte. Er hatte Kranke untersucht, operiert und danach noch alle betreut. Irgendwann war er zusammengebrochen und hatte an Ort und Stelle geschlafen. Das war ungewöhnlich, denn Sonnenjäger brauchten eigentlich ja keinen Schlaf. Doch Flynn hatte sich so verausgabt, dass sein Körper offenbar gestreikt hatte. Die Vampirfrauen, die mit ihm arbeiteten, hatten ihn in eines der Gästezimmer gebracht und ihn erst einmal schlafen lassen. Allerdings war er nach zwei Stunden wieder aufgetaucht und hat in demselben Tempo weiter gemacht, dass er vorher schon vorgelegt hatte.
Doch nun hatte Isabeau einen Riegel davor geschoben. Sie achtete nun darauf, dass Flynn wenigstens alle drei Stunden etwas Pause bekam.
Und nun machte er bei Ava weiter und sie merkte, dass er am liebsten seine medizinischen Geräte herausholen wollte, um sie zu untersuchen. Allerdings würde Isabeau ihm die Hölle heiß machen, wenn er seine Pause dafür nutzen würde. Flynn war ein stolzer Sonnenkrieger, aber bei Isabeau knickte er regelmäßig ein. Dabei musste sie ihn nur anschauen und schon machte er, was sie wollte.
Nun zuckte er mit den Schultern und schloss einen Moment die Augen.
„Es scheint dir ja sonst gut zu gehen. Wenn man davon absieht, dass deine Körpertemperatur ziemlich niedrig ist. Vielleicht brütest du doch etwas aus. Die niedrige Körpertemperatur ist meist ein Vorbote einer Grippe oder einer Erkältung. Wenn es schlimmer werden sollte, dann melde dich einfach bei mir."
Sie schluckte, wollte ihm aber nichts von ihren Vermutungen erzählen. Sie wusste, dass Flynn das nicht verstehen würde und in seinem Beschützerinstinkt ihr den Umgang mit dem Fürst, wie er Jason immer noch nannte, verbieten würde. Ha! Als ob das gehen würde.
Natürlich waren ihr Veränderungen aufgefallen. Die Augenfarbe war natürlich am offensichtlichsten gewesen. Das mit der Körpertemperatur stimmte auch. Sie war zwar nicht so kalt wie die Vampire, aber sie merkte, dass sie kaltblütiger wurde. Insgeheim musste sie über ihre eigenen Worte grinsen. Das hörte sich nun wirklich komisch an.
Es hatte sich noch einiges anderes an ihr verändert. Ihr Gehör war sagenhaft. Sie hörte Mücken schwirren, die kilometerweit entfernt waren. Sie konnte Gespräche von Menschen lauschen, die am anderen Ende der Stadt lebten. Am Anfang waren die ganzen Stimmen sehr verwirrend gewesen. Mittlerweile konnte sie aber das Unwichtigste ausblenden.
Ihre Sehkraft war phänomenal. Alles schien irgendwie näher zu sein. Manchmal saß sie auf dem Kirchendach und sah sich die Welt genauer an. Einiges, das sie vorher nicht einmal bemerkt hatte, schien ihr nun wie ein kleines Wunder!
Sie konnte sich die Veränderungen nicht erklären, aber es begann, als sie das erste Mal mit Jason geschlafen und gebissen hatte. Das war offenbar der Grund für die ganzen Veränderungen. Nicht einmal mit Jason hatte sie darüber gesprochen. Er war so mit den Sonnenjägern beschäftigt, dass er sich nun wirklich nicht mit ihren Vermutungen und Problemen beschäftigen musste. Das hatte alles Zeit bis sich alles wieder normalisiert hatte. Er würde zwar bestimmt sauer werden, weil sie ihn nicht gleich informiert hatte, aber das nahm sie nun mal in Kauf. Er hatte wichtigeres zu tun.
Sie schüttelte den Kopf. Eine Schlacht stand wahrscheinlich bevor und sie musste sich auf andere Sachen konzentrieren. Ihr ging es doch gut. Warum sollte sie also mit den Veränderungen, die ihr nur Vorteile brachten, hadern?
„Isabeau erzählte mir, dass du geschlafen hast! Geht es dir gut?"
Flynn grinste.
„Sie ist eine Petze. Natürlich geht es mir wieder gut. Ich war einfach nur erschöpft. Ganz ehrlich, Kleines, ich frage mich wirklich, wie ich das hier alles alleine schaffen soll! Es sind einfach zu viele und alle gleich dringend. Dein Fürst hat mir da ganz schön etwas aufgebrummt!"
Sie lachte laut auf.
„Darf ich dich daran erinnern, dass du freiwillig hier bist? Was soll er denn machen? Einen Arzt beißen und ihn wandeln? Da muss ich dich leider enttäuschen. So etwas macht er nicht! Er hat schließlich seine Prinzipien!"
Flynn setzte sich auf. Offenbar war es ihm sehr ernst damit, dass er sogar in Kauf nehmen würde, einen Menschen zu wandeln, obwohl dieser es wohl gar nicht wollte. Das zeigte Ava aber, dass es Flynn wirklich zu viel wurde.
„Ihr steht euch doch so ziemlich nahe! Könntest du da nicht einmal mit ihm reden?"
Sie warf ihm einen strengen Blick zu und er hob seine Hände.
„Schon verstanden. Seine Prinzipien gehen ihn über alles. Aber ein weiterer Arzt würde wirklich nicht schaden! Aber ihr müsst jetzt keinen entführen und wandeln. Mir ist da gerade etwas eingefallen, das mir helfen würde! Und der Fürst müsste seine Prinzipien nicht verletzen."
Was will er denn jetzt noch?
Sie hörte Jasons genervte Stimme in ihrem Kopf. Das war auch so eine Sache. Sie hörte seine Gedanken nun klarer und sie konnte sich auch stundenlang mit ihm unterhalten, obwohl sie nicht einmal im selben Zimmer waren.
Sag mal, belauscht du uns etwa?
Er lachte leise.
Unaufhörlich, Liebste! Ich traue dem Iren nicht!
Sie schnappte nach Luft.
Nach den letzten Tagen traust du mir immer noch zu, dass ich mich ihm in die Arme schmeiße? Darüber unterhalten wir uns noch später, Freundchen!
Wieder lachte er.
Ich freue mich schon darauf.
Er knurrte leise und sie schnaubte, doch dann merkte sie, dass Flynn sie anstarrte und seine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte. Das war ihr gar nicht aufgefallen. So sehr war sie in das Gespräch mit Flynn vertieft gewesen.
„Ich habe dich jetzt dreimal angesprochen. Wo bist du denn mit deinen Gedanken?"
Ava schüttelte kurz den Kopf, als ob sie Jason so aus ihren Gedanken verbannen könnte, was natürlich nicht der Fall war. Er war immer bei ihr. Auch das war eine Sache, die ihr zwar gefiel, aber an die sie sich gewöhnen musste.
„Mir gehen einige Dinge durch den Kopf! Wie lautet nun deine Idee?"
Flynn schüttelte seufzend den Kopf.
„Wenn dein Fürst nichts gegen einen weiteren Sonnenjäger hat, wüsste ich den perfekten Arzt. Joel war ein brillanter Arzt und Chirurg, bevor er gewandelt wurde. Er heißt es ebenfalls nicht gut, was er bei den Sonnenjäger machen sollte. Deswegen haben sie ihn nur zu einem Handlanger degradiert. Soweit ich mich erinnern kann, wurde auch er nicht freiwillig zu einem Sonnenjäger. Du kennst meine Geschichte. Dasselbe ist Joel auch passiert und er hasst Dimitri deswegen. Der Fürst soll ihn holen lassen, dann hätte ich wenigstens etwas Luft!"
Keine schlechte Idee! Aber ist ihm zu trauen?
Ava stellte Flynn die Frage und er nickte.
„Absolut! Er war, neben mir, einer derjenigen, die sich gegen Dimitri aufgelehnt haben. Allerdings hat er keinerlei Kampferfahrung und deswegen hat er sich einfach gefügt. Ich denke, dass er im Hintergrund versucht zu helfen. Er wird lieber hier helfen wollen, als immer nur heimlich etwas zu tun. Zufällig weiß ich, dass er nachts immer in einer Synagoge ist. Er war Jude und nimmt die Sache immer noch sehr ernst! Man soll ihm ausrichten, dass ich nach ihm schicke. Joel wird sich nicht weigern, denjenigen zu begleiten, der ihn holen soll!"
Ava sah auf die Uhr. Es war kurz nach zehn Uhr.
„Ist er jetzt auch in der Synagoge?"
Flynn zuckte mit den Schultern.
„Das kann ich dir nicht sagen! Kann schon sein!"
Ava konzentrierte sich auf die einzige Synagoge, die es in der Stadt gab. Sie konnte einen Mann still beten hören. Sie lauschte einer Weile dem Gebet, dass er in Jiddisch sprach. Doch dann wechselte er ins Deutsche und Ava hörte, wie der Mann für seine Angehörige sprach, die nicht wussten, dass er eigentlich noch unter ihnen weilte. Das war er. Eindeutig. So ein Gebet konnte nicht von einem normalen Menschen kommen.
„Ich denke, ich habe ihn. Er ist ganz in der Nähe. Ich werde ihn selbst holen!"
Einen Scheiß wirst du!
„Einen Scheiß wirst du!"
Ava lachte laut auf. Es war schon komisch, wie sich die zwei einig wurden, wenn es um sie ging.
„Ach kommt schon! Ich war schon lange nicht mehr draußen. Ich werde mit dem Motorrad hinfahren, ihn holen und gleich wieder zurück sein. Wenn mich kein Vampir begleitet, werde ich gar nicht auffallen!"
Sie sprach es laut aus, aber Jason hatte sie trotzdem verstanden, ebenso wie Flynn.
Denk an Luna!
Das tue ich die ganze Zeit, Liebster! Sie wird mir nichts tun. Sie hat dich auf dem Kicker! Ich werde mich beeilen.
„Du weißt, dass du immer noch auf der Abschussliste der Dämonen stehst! Manolo sollte dich wenigstens begleiten!", lamentierte Flynn.
Ohne auf das Gemecker und sicher gut gemeinte Ratschläge der zwei zu achten, ging sie hinauf zum Eingangstor. Sie beeilte sich, denn sie konnte sich schon vorstellen, dass Jason ihr auf den Fersen war. Praktischerweise hatte sie Manolo gebeten, ihr Motorrad direkt vor dem Eingang zu parken. Ava hatte Glück, dass Manolo nicht am Tor Wache stand, sondern zwei fremde Vampire, die erst vor kurzen zu Jason gestoßen waren und zwar wussten, dass sie die Fürstin war, aber nicht, dass Jason sie beschützte, als wäre sie ein hilfloses Wesen. Sie setzte den Helm auf und startete den Motor, als sie Jason schon hörte.
„Ava! Bleib stehen!", brüllte er wütend, aber sie war schon weg.
Ava genoss den Fahrtwind, auch wenn sie durch den Helm kaum etwas davon spürte. Aber schon die Freiheit zu haben, ohne Jason oder irgendeinen Begleiter durch die Nacht zu fahren, erfüllte sie mit Freude. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie diese Freiheit vermisste.
Es dauerte keine fünf Minuten und sie war an der Synagoge angekommen. Eigentlich eine viel zu kurze Fahrt für Avas Geschmack.
Sie hielt direkt vor dem Eingang und stieg ab. Sie schwankte einen Moment, denn es wurde ihr schwindlig, sobald sie den Boden mit ihren Füßen berührt hatte. Was war das gewesen? Hatte Flynn Recht gehabt und sie brütete tatsächlich eine Krankheit aus? Das konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen. Vor ein paar Sekunden ging es ihr doch noch sehr gut. Doch jetzt fühlte sie sich auf einmal krank. Das war auf keinen Fall normal! Sobald sie diesen Juden in die Katakomben geschafft hatte, würde sie mit Jason darüber reden und Flynn holen lassen. Er sollte sich das mal anschauen.
Sie ging durch die Pforte und sie hatte plötzlich das Gefühl, ihr würden auf einen Schlag sämtliche Kräfte schwinden. Scheiße! Sie atmete ein paar Mal tief durch, bis sie sich besser fühlte, dann richtete sie sich auf und ging leise auf den Mann zu, der leise vor sich hin betete. Jeder Schritt war eine Qual und sie musste sich zusammen reißen, dass sie nicht bei jedem Schritt vor Schmerzen aufstöhnte. Schweiß trat auf ihre Stirn und sie musste sich anstrengen, um überhaupt vorwärts zu kommen. Sie setzte sich hinter den betenden Mann und atmete einmal tief durch. Aber es wurde dadurch nicht besser. Es wurde immer schlechter. Sie riss sich zusammen.
„Joel?"
Er riss erschrocken die Augen auf.
„Himmel, Mondjägerin, ist dir nicht einmal die Synagoge heilig? Was willst du hier? Willst du mich umbringen, hier, an diesem geheiligten Ort? Ich habe den Mondjägern nie etwas getan. Und ich habe auch nichts mit diesen unsinnigen Aktionen zu tun, die gerade veranstaltet werden."
Sie schüttelte den Kopf und setzte sich nun neben ihn hin. Ihre Knie schlotterten immer noch.
„Ich habe noch nie gehört, dass Mondjäger einem Sonnenjäger etwas angetan hätten. Also ist dein Ausbruch absolut lächerlich. Es gibt einen anderen Grund für meine Störung. Flynn schickt mich!"
Joel hob interessiert den Kopf, nachdem er kurz über ihre Worte nachgedacht hatte. Ava fiel auf, dass auch er noch sehr jung war. Im richtigen Leben war er wohl um die dreißig gewesen. Dass Flynn ihn als brillanten Chirurgen bezeichnet hatte, zeigte ihr, dass es Dimitri nur auf die Topleute abgesehen hatte. Ansonsten sah Joel wirklich nicht wie ein Sonnenjäger aus. Er war schmächtig und sehr dünn. Allerdings konnte sie seinen Händen ansehen, dass sie, obwohl sie schlank und lang waren, eine gewisse Kraft besaßen, die man wohl als Chirurg benötigte.
„Der Ire? Wo ist er? Weiß er, dass die gesamte Unterwelt hinter ihm her ist?"
Sie nickte.
„Ja, er weiß es. Aber deswegen bin ich nicht hier!"
Sie erzählte ihm die Kurzfassung der Geschichte. Joel hörte ihr aufmerksam zu. Er stellte nicht eine Frage. Auch das fand Ava ungewöhnlich, denn eigentlich kannte sie nur Männer, die alles hinterfragten, was ihnen erzählt wurde. Doch er machte nicht einmal den Versuch, sie zu unterbrechen.
Nachdem sie geendet hatte, stand er auf.
„Gut! Worauf warten wir? Auf geht's!"
Sie hob verblüfft eine Augenbraue.
„Du glaubst mir? Einfach so?"
Er zuckte mit den Schultern und sie konnte es einfach nicht glauben. Wer war der Mann, der einfach so einem Mondjäger glaubte und sich zu den Vampiren wagte, obwohl er sicher war, dass er dort bestimmt nicht mit rotem Teppich erwartet wurde.
„Ich habe dir gerade gesagt, dass ich dich zu dem Vampirfürst bringen werde und du vertraust mir einfach?"
Er grinste sie an.
„Erstens ist deine Geschichte so abenteuerlich, ich bin neugierig auf diesen Fürsten, von dem ich nur Schlechtes gehört habe. Das glaube ich allerdings nicht, denn das Geschwätz kam nur von Dimitri und seinen Handlangern. Und denen würde ich im Moment nicht einmal abnehmen, wenn sie mir erzählen würden, die Sonne wäre eine Gaskugel, die unheimlich heiß ist. Zweitens weiß ich genau, was wir verbrochen haben. Ich würde alles tun, um dieses Unrecht wieder gut zu machen. Es ist zwar nicht ganz zu schaffen, aber ich gebe mich damit mehr als zufrieden, wenn ich nur einen kleinen Teil dazu beisteuern könnte, damit es diesen armen Wesen etwas besser geht. Und drittens: Der Ire vertraut dir. Dann tue ich es auch!"
Ava lächelte und wollte aufstehen. Doch es gelang ihr erst beim zweiten Anlauf. Ihr kam es vor, als ob sie von Minute zu Minute schwächer werden würde. Verdammt, was war nur los mit ihr. Sie schaffte es kaum noch, eine Hand zu heben. Wie sollte sie Joel nur nach Hause fahren. Jason würde ihr den Kopf abreißen, da war sie sich sicher.
Joel besah sie kritisch, dann nahm er ihr Kinn in seine Hand und drehte ihren Kopf zur Seite. Er sah auf die Bissmale, die ihr Jason verpasst hatte.
„Bei allem, was mir heilig ist! Was hast du getan?"
Sie hob eine Augenbraue.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht!"
Sie unterdrückte einen Fluch und Beschimpfungen. Sie wollte ihn nicht gleich vergraulen! Außerdem hatte sie auch keine Kraft dazu, sich mit ihm zu streiten.
Er lachte laut auf, doch darauf hin wurde er sofort wieder ernst.
„Ich muss mich auf dich verlassen können, Jägerin, denn ich kann nicht kämpfen. Ich habe es nie gelernt und will es auch nicht. Hier bist du mir keine Hilfe, wenn meine Vermutung stimmt. Wir müssen aus der Synagoge raus! Also, beantworte mir meine Frage: hast du dich beißen lassen?"
Sie nickte.
„Und du hast ihn auch gebissen, nehme ich mal an!"
Wieder ein Nicken.
Er hob seinen Kopf.
„Da wunderst du dich noch? Hast du keine Veränderungen bemerkt?"
Sie knurrte kurz.
„Soll ich dir eine verdammte Liste geben? Ich muss dich jetzt hier weg bringen! Flynn wartet auf dich!"
Er hob beide Hände.
„Du hast Recht, es ist jetzt nicht dir richtige Zeit dafür. Lass uns verschwinden. Ich erkläre dir später alles, was ich darüber weiß! Los, verschwinden wir!"
Kurz vor dem Ausgang stoppte er und horchte an der schweren Tür.
„Da draußen ist jemand!"
Sie nickte. Sie konnte die Stimmen auch hören. Himmel, ihr wurde schlecht! Das durfte jetzt nicht wahr sein!
„Sonnenjäger! Verdammt! Was machen sie zu dieser Uhrzeit hier?"
Er schnaubte.
„Sie haben dich wohl verfolgt! Himmel, was machen wir jetzt?"
Sie versuchte zu lauschen, wie viele Stimmen sie unterscheiden konnte. Aber ihre Fähigkeiten waren wie weggeblasen!
Jason?
Ihr ging es auf einmal sehr schlecht und sie wünschte, Jason wäre bei ihr! Leise wimmerte sie.
Was ist mit dir los, Liebste? Warum geht es dir so schlecht?
Ich weiß es nicht!
Sebastian und Konrad sind auf den Weg. Sie sind gleich da und holen dich da raus!
Kaum hatte Jason das gesagt, hörte sie schon Konrads Stimme.
„Habe ich euch nicht schon tausend Mal erklärt, dass ihr nachts nichts auf der Straße zu tun habt? Ihr verdammten Pisser nehmt uns die Arbeit weg!"
Sie hörten Gemurmel und Joel kauerte sich neben Ava.
„Wir haben einen Vampir gesehen! Er ist in der Synagoge. Einer unserer Brüder kommt hier jeden Abend hin zum Gebet. Wir waren in Sorge um ihn!"
Joel schnaubte leise und flüsterte Ava zu: „Na klar tun sie das Ich bin ja auch so wichtig in ihren Augen!"
Sie hörten Konrad und Sebastian lachen.
„Ein Vampir! In der Synagoge! Ihr seid doch nicht ganz sauber im Kopf. Ein Vampir hält es weder in einer Synagoge, noch in einer Kirche, noch in einer Moschee aus. Was bringt man euch eigentlich bei?"
Joel nahm sich den Gebetsschal und die Kippe ab und legte beides um Ava.
„Bleib hier! Ich bin sofort wieder da!"
Sie wollte ihn aufhalten, konnte nun aber nicht einmal ihre Hand heben. Sie hatte das Gefühl, dass sie in eine Art Koma fiel. Joel schien eine Erklärung dazu zu haben und sie hoffte, dass es nur ein kurzfristiger Zustand war. Ansonsten würde Jason sie nie wieder aus den Augen lassen.
„Was ist denn hier los? Müsst ihr mich beim Gebet stören?", hörte sie Joel nach einer Weile sagen.
„Entschuldige, Bruder! Wir waren in Sorge um euch. Wir verfolgten einen Vampir. Und dieses Motorrad...!"
Joel schnaubte unwirsch und unterbrach sie somit, dann lachte er.
„Ist meines! Verschwindet jetzt. Die Mondjäger haben schon Recht! Ihr wisst nicht einmal, dass ein Vampir es keine fünf Minuten an so einen heiligen Ort aushalten kann. Ihr seid eine Schande! Ich werde es Dimitri melden müssen, dass ihr euch so vor den Mondpissern blamiert habt! Außerdem hätte ich den Vampirduft riechen müssen. Habe ich aber nicht! Ihr seht, ich bin nicht so unwissend, wie ich ab und zu dargestellt werde."
Er machte eine kleine bedeutungsvolle Pause.
„Ich mache euch einen Vorschlag. Wenn ihr euch jetzt ganz schnell verpisst, dann vergesse ich das Ganze und Dimitri erfährt nichts von eurem Fehlverhalten!"
Ava hörte, wie sie murrten, aber nach einer Weile verschwanden die Sonnenjäger.
Sie zitterte nun am ganzen Körper. Sie kauerte sich auf den Boden, aber es wurde nicht besser. Verdammte Scheiße. Was war nur los mit ihr? Sie hörte Jason in ihrem Kopf, allerdings war seine Stimme zu leise und verschwommen. Aber allein nur der Klang beruhigte sie etwas.
„Nimm sie und trage sie von dem Gelände hier! Lass ihr aber der Schal und die Kippa um. Es wird ihr bald besser gehen!"
Sie spürte, wie sie hoch gehoben wurde und spürte die kühle Nachtluft. Nach und nach ging es ihr wirklich besser. Sie öffnete die Augen und sah, dass Konrad sie in seinen Armen hielt. Auf einmal hörte sie auch wieder Jason, der unaufhörlich mit ihr sprach.
Es geht mir wieder besser, Liebster! Irgendwie hatte Joel den richtigen Riecher!
Bei allen Göttern, Geliebte! Du hast mir einen Schreck eingejagt. Ich konnte dich auf einmal nicht mehr hören oder spüren. Ich hatte verdammte Angst um dich. Mach, dass du wieder hier her kommst! Ich lasse dich nicht mehr aus den Augen bis es dir wirklich besser geht!
Sie versprach es ihm. Dann schaute sie zu Konrad.
„Ich kann laufen, Konrad!"
Zweifelnd ließ Konrad sie herunter. Erst als sie sicher vor ihm stand, atmete er erleichtert aus.
„Küken! Du hast da drinnen ausgesehen, als ob du am Krepieren wärst! Was war los?"
Sie hielt sich eine Hand an die Stirn. Ihre Kräfte kamen nach und nach wieder.
„Ich habe keine Ahnung! Ehrlich nicht! Aber jetzt ist alles wieder gut!"
Joel kam mit Sebastian zu ihnen. Er schob ihr Motorrad neben sich her.
„Jetzt ist sie wieder klar! Ihr solltet gehen. Im Gegensatz zu Ava kann Luna euch sehen. Und ich glaube nicht, dass sie eure Schwester in diesem Zustand sehen sollte. Ich kümmere mich um sie und bringe sie zu den Vampiren!"
Er stieg auf das Motorrad und bedeutete Ava, sich hinter ihn zu setzen.
Konrad und Sebastian nickten ihm noch zu, dann verschwanden sie, ohne Joel zu widersprechen. Das konnte Ava nun überhaupt nicht verstehen. Joel hatte zwar eine autoritäre Stimme, aber eigentlich ließen sich weder Sebastian noch Konrad davon beeindrucken.
„Warum kann Luna mich nicht sehen?", fragte sie.an.
Er sah sie ernst.
„Keine Zeit für Erklärungen. Sie können jeden Moment zurückkommen, wenn sie bemerken, dass ich geblufft habe. Lass mich dich zu den Katakomben bringen, dann erkläre ich dir alles."
Er startete den Motor und fuhr in einem halsbrecherischen Tempo los, das sie ihm nicht zugetraut hätte.
Kurz vor den Katakomben hielt er mit quietschenden Reifen an.
Beide rannten den steilen Weg hinunter. Jason erwartete sie schon am Eingang mit den beiden Wachen. Er war wütend, doch man konnte auch seine Angst in den Augen erkennen. Er rannte ihr entgegen und nahm sie in seine Arme.
„Noch einmal so einen Scheiß von dir, Ava, und ich werde..."
Ich hatte eine Scheißangst um dich! Tu mir so etwas nie wieder an!
Sie nickte ihm still zu. Nein, das wollte sie selbst nicht mehr erleben!
Joel gesellte sich zu ihnen. Ungefragt nahm er Jasons Kinn und betrachtete seinen Hals.
„Er war es, mh? Kein Wunder! Soviel Macht! Da wäre jeder schwach geworden! Ich denke, wir sollten uns jetzt mal unterhalten. Und zwar schnell, bevor ihr beide euch noch mehr in Gefahr bringt!"
Jasons Aufmerksamkeit war sofort geweckt. Er führte Joel in sein Büro, ohne Ava aus seinen Armen zu lassen.
„Du scheinst irgendetwas zu ahnen, dass wir nicht wissen!"
Joel lehnte sich an den Tisch und verschränkte seine Arme vor der Brust.
„Der Ire hat bestimmt erzählt, dass mein Ansehen bei den Sonnenjägern nicht so hoch ist, wie es mal war. Ich gehörte nicht mehr zum inneren Kreis. Das gab mir jedoch viel Zeit, mich mit den Büchern zu beschäftigen, die sie haben. Die Sonnenjäger haben alles aufgezeichnet, was in den letzten Jahrhunderten bei ihnen geschehen ist. Da habe ich eine Geschichte gelesen. Es ging zwar nicht um einen Mondjäger, aber es gab Parallelen. Es wäre jetzt mühsam, alles zu erzählen, deswegen die Kurzfassung. Ein Sonnenjäger hatte sich vor ein paar Jahrhunderten mit einer Vampirfrau eingelassen. Sie bissen sich gegenseitig und haben so ihre Fähigkeiten gemischt. Allerdings gehörten sie nicht mehr ihrer Fraktion an. Der Orden bekam Schiss. Soviel Macht konnten sie nicht kontrollieren. Sie töteten den Sonnenjäger und die Vampirfrau verschwand. Bis heute weiß niemand, ob sie überhaupt noch lebt!"
Jason erstarrte. Dann ging er zur Tür.
„Isabeau! Ich will sofort Isabeau sprechen!"
Dann wandte er sich wieder zu Joel.
„Uns ist also dasselbe passiert? Ava ist ein halber Vampir und ich..."
Joel nickte.
„Du bist ein halber Mondjäger. Hast du noch keine Veränderungen festgestellt?"
Jason zuckte mit den Schultern.
„Natürlich. Ich werde tagsüber müde und schlafe. Das ist mir noch nie passiert!"
Joel lachte.
„Dem Fürst sind natürlich nur die negativen Sachen aufgefallen, was? Es ist aber klar, dass du müde wirst. Es ist abnehmender Mond. Aber wie steht es mit deiner Reaktion? Deinem Körper? Deinem Verstand?" Er neigte sich leicht zu ihm vor. „Deiner Blutgier?"
Jason fuhr sich über das Gesicht.
„Verdammter Mist! Du hast Recht! Meine Blutgier ist so gut wie nicht mehr vorhanden! Meine Reaktionen sind um einiges schneller geworden. Mein Verstand ist rasiermesserscharf und mein Körper...ich will ja nicht behaupten, dass ich vorher ein Kümmerling war, aber jetzt...er ist perfekt! Meine Narben sind weg, ich sehe schärfer, was erschreckend ist! Aber auch gut!"
In dem Moment klopfte es an der Tür und Isabeau kam herein. Als sie Joel sah, zuckte sie einen Moment zusammen, fing sich aber sofort wieder.
„Ihr habt mich rufen lassen, mein Fürst?"
Jason sah ihr ernst ins Gesicht.
„Wie ich sehe, erschrecken dich Sonnenjäger immer noch, mh? Hat das einen besonderen Grund?"
Sie neigte den Kopf.
„Sonnenjäger bringen Vampire um!"
Joel schnalzte mit der Zunge, doch Jason sah sie weiter an, ohne auf ihn zu reagieren.
„Hat das nicht eher etwas mit deiner Vergangenheit zu tun? Sag mir, Isabeau, bist du nicht selbst ein Sonnenjäger?"
Isabeau riss den Kopf hoch und sah ihn erschrocken an. Dann neigte sie wieder den Kopf.
„Ja, zur Hälfte!"
Ava setzte sich stöhnend hin.
„Warum hast du uns nicht gewarnt?", fragte sie Isabeau.
Diese sah sie unverständlich an.
„Gewarnt? Vor was denn, Herrin? Schon als ich euch das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass ihr eine würdige Gefährtin für den Fürst seid. Das, was ihr miteinander teilt, ist ein wunderbares Geschenk, das leider nicht jeder zu würdigen weiß. Die meisten haben sogar Angst davor. Sie fürchten die Macht! Ihr vereinigt nun die Kräfte der Vampire und der Mondjäger. Und ihr strahlt eine unsagbare Macht aus, die sogar noch stärker ist, als damals bei Riccardo und mir. Es liegt wahrscheinlich daran, dass ihr beide vorher schon sehr mächtig wart. Wollte euch Luna nicht zu einem Mentor machen? Warum hatte sie das wohl vorgehabt? Ihr seid stark, Herrin! Allerdings stellt ihr euer Licht unter den Scheffel! Aber nun entfaltet sich endlich, was schon lange so sein sollte. Die Engstirnigkeit beider Orden sollte endlich Einhalt geboten werden! Dieses Reinheitsgeschwafel ist völlig absurd!"
Joel nickte.
„Selbst die Götter sind uneins, wenn es um solche Verbindungen geht. Allerdings gibt es nicht nur Vorteile. Du hast es selbst erlebt, Ava! In der Synagoge! Du verlierst deine Kräfte. Das ist bei Vampiren nun mal so!"
Ava schnaubte.
„Das weiß ich! Aber warum ist es hier nicht so? Hier ist schließlich auch heiliger Boden!"
Joel zuckte mit den Schultern.
„Das ist mir schleierhaft. Vielleicht liegt es daran, dass ihr hier gewandelt wurdet. Aber bei den Vampiren sollte man eine Schwäche feststellen und das ist nicht der Fall, richtig?"
Jason nickte.
„Das kann aber auch daran liegen, dass ich die Kirche und das Gelände gekauft habe!"
Joel schnalzte mit der Zunge.
„Das ist möglich! Ihr habt die Weihen aber so gelassen, wie sie waren?"
Jason nickte wieder.
„Das ist richtig! Warum sollte ich es ändern, wenn es einen Schutz für uns bildet?"
Joel lächelte leicht.
„Schlauer Fürst! Nun, denn! Meide Moscheen oder Synagogen, Ava. Es kommen wahrscheinlich noch mehr Veränderungen auf euch beide zu. Wenn ihr mich darüber informieren könntet, wäre das super. Ich will da unbedingt weiter forschen!"
Er verneigte sich leicht vor Isabeau.
„Ich glaube, dass ich aber erst andere Arbeit vor mir habe! Würden sie so nett sein, Lady Isabeau, mich zu den verdammten Iren zu bringen? Dann kann ich endlich meine eigentliche Arbeit aufnehmen. Dafür bin ich schließlich gekommen!"
Isabeau lächelte huldvoll und sie ließen die Jason und Ava alleine.
„Hat der Mistkerl jetzt gerade gesagt, dass ich sein Versuchstier werden soll?", hakte Jason nach.
Ava grinste.
„Das hat er wohl!"
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