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Kurze Frage vorweg: ist jemand von euch am Sonntag zufällig bei Louis in München? 👀 und wenn ja, besteht evtl. Interesse an einem kleinen Wattpad-Treffen vor dem Konzert? Würde mich freuen, ein paar von euch mal im real life kennen zu lernen 🥰

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Serial Monogamist - Ashe

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„Netter Schuppen, Styles. Sieht aus, als hätten sich die durchgelernten Nächte doch gelohnt, hm?"

Harry, der eben noch dabei gewesen war, die Kaffeemaschine aufzufüllen, brauchte einen kurzen Moment, um die seltsam bekannte Stimme zu identifizieren, dann jedoch wirbelte er mit großen Augen herum.

Liam?", fragte er fassungslos und ein grinsendes Gesicht begegnete ihm von der anderen Seite des Bartresens.

„Der bin ich."

„Oh mein Gott, ich fass es nicht!" Harry ließ die Kaffeemaschine links liegen und eilte um den Tresen herum, um seinen unerwarteten Besuch einmal fest in die Arme zu schließen. „Scheiße, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Fünf Jahre? Oder noch länger?"

Liam nickte. „Sowas im Dreh muss es sein."

Seine Stimme war tiefer, als in Harrys Erinnerung, außerdem trug er mittlerweile einen sauber gestutzten Bart. Liam war schon immer ein recht großer Mensch gewesen, doch nun unterstrichen seine deutlich breiteren Schultern diese Größe auch noch. Er sah gesund aus – sehr viel gesünder als damals noch – und Harry konnte es sich nicht nehmen, einen Kommentar zu machen: „Fuck, du siehst gut aus!"

Sein Freund lachte. „Danke. Ich fühl mich auch so. Du aber auch." Er hielt Harry auf eine Armlänge von sich weg, musterte ihn. „Gut und müde. Die Augenringe waren vor fünf Jahren noch nicht da."

Harry grinste und schüttelte Liams Hände ab. „Werd mal nicht melodramatisch. Ich arbeite in einer Bar und komm durchschnittlich so um drei ins Bett." Wenn Louis da war, meistens noch später. Aber das war im Moment wirklich nicht relevant. Stattdessen breitete Harry seine Arme aus. „Das ist der Traumjob, von dem ich immer geredet hab, Li."

Der Aussage folgte ein Rundblick durch das To Paradise, sowohl von Harry als auch von Liam.

„Ich muss auch sagen...", begann letzterer dann und sah wieder seinen Gesprächspartner an. „Du passt hier rein. Irgendwie hab ich das immer gesehen... du in einer Gaybar-"

„Queerbar", verbesserte Harry ihn automatisch, dann lächelte er entschuldigend. „Sorry. Ist ein bisschen eine Inklusions-Sache, die mir wichtig ist. Aber der offizielle Titel vom Paradise ist „Queerbar". Nicht nur LGB, sondern auch die restlichen Buchstaben."

Liam sah überrascht aus und kurz befürchtete Harry, dass er gerade auf eine sehr verdrehte Weise mansplainte – oder eher cisplainte – doch dann lächelte sein Freund nur. „Cool", sagte er, „Gefällt mir. Das passt noch mehr zu dir."

Harry lächelte zurück, dann ertönte ein Räuspern hinter ihm und erinnerte ihn daran, dass noch einiges zu tun war, bevor gegen 21 Uhr der große Ansturm begann.

„Sorry", sagte er über die Schulter zu Niall, der ihn und Liam mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. „Gib mir noch zwei Minuten, dann bin ich wieder dabei, ja?"

Niall zuckte mit den Schultern. „Was auch immer du sagst. Du bist der Boss."

Er machte sich wieder an seine Arbeit, während Harry sich zurück zu Liam umwandte. „Sorry", sagte er zum dritten Mal. „Die Arbeit ruft."

Sein Freund winkte nur ab. „Ich will dich nicht von deinem Job abhalten. Eigentlich warte ich eh nur auf meine Cousine und ihren Partner – ich bin quasi auf Durchreise und die beiden wollten sich mit mir hier auf einen Drink treffen. Der Vorschlag vom Laden kam von ihnen, aber ich bereue es definitiv nicht, hergekommen zu sein." Liam lächelte, dann wanderte sein Blick weiter zu Niall, neugierig. „Ihr wirkt vertraut. Ist er dein-..."

„Oh Gott, nein", unterbrach Harry ihn wieder und musste unpassenderweise an Louis denken. Heute war Montag. Heute würde er wieder an einem der Tische in der Bar sitzen. Nur mit Mühe riss sich Harry von dem Gedanken los. „Niall ist mein bester Freund und mein allerbester Mitarbeiter. Nicht zwingend in der Reihenfolge."

Liam lachte auf. „Verstehe", sagte er, dann ließ er seinen Blick wieder durch die Bar gleiten.

Harry gab ihm einen Knuff in die Seite. „Noch hast du freie Platzwahl. Ich würde mir einen guten suchen, in einer halben Stunde wird es hier nämlich deutlich voller. Aber vielleicht können wir später nochmal reden?"

„Klar, würde mich freuen." Liam grinste ihm zu, dann beobachtete Harry, wie er seine breite Statur in eine der hinteren Nischen quetschte – direkt unter die große Transpride-Flagge, die dort an der Wand hing. Harry musste lächeln, dann ging er zurück zu seiner Kaffeemaschine, die er vorhin links liegen gelassen hatte.

Niall, der ebenfalls hinter dem Tresen stand und dort die letzten Vorbereitungen für den Arbeitstag traf, sah ihn fragend an. „Und wer genau ist der Typ?", fragte er.

„Das ist Liam", sagte Harry und grinste. „Wir kennen uns von der Wirtschaftsschule. Er war derjenige, der mir jedes Mal in den Arsch getreten hat, wenn ich mich unmotiviert gefühlt hab."

Und er war auch der erste, dem Harry von seinem Traum erzählt hatte, irgendwann ein eigenes Etablissement zu besitzen. Es war eigentlich eine Schande, dass sie sich nach der Wirtschaftsschule aus den Augen verloren hatten – aber Harry hatte alle Hände voll zu tun gehabt, nicht in seinem Workload zu ertrinken, und Liam war mitten in seiner Transition und dabei gewesen, seine mentale Gesundheit in den Griff zu bekommen.

Ihn nach all dieser Zeit wieder zu sehen und schon auf den ersten Blick zu merken, wie viel besser es ihm ging, würde wohl ohne Frage Harrys Wochen-Highlight bleiben. Wenn das To Paradise heute nicht komplett überrannt wurde, konnte er sich vielleicht auch mal ein paar Minuten rausnehmen, um nochmal in Ruhe mit Liam über Gott und die Welt zu reden.

„Scheint ein ziemlich wichtiger Mensch für dich zu sein", sagte Niall. Er hatte durchaus Recht mit dieser Aussage, aber etwas in seiner Stimme sorgte dafür, dass Harry von seiner Tätigkeit aufsah und seinen besten Freund mit gerunzelter Stirn ansah.

„Jaah", machte er langgezogen. „Worauf genau willst du hinaus?"

Niall räusperte sich. „Lief da mal was zwischen euch?"

Harry riss überrascht die Augen auf. „Ääh, nein", sagte er, „Nein, ganz bestimmt nicht. Liam ist absolut hetero."

„Oh." Sein bester Freund sah verlegen aus. „'Tschuldigung, dann hab ich da wohl Geister gesehen. Es wirkte... flirty. Aber vielleicht bin ich auch einfach zu ace dafür."

„Flirty?", wiederholte Harry und musste lachen. „Nein, ich kann dir versprechen, dass Liam und ich nie eine Sache waren oder sein werden." Jetzt zuckte er mit den Schultern. „Aber vielleicht wissen wir das auch einfach beide gut genug, um ohne Gefahr so miteinander umgehen zu können."

Niall zog die Augenbrauen zusammen. „Bei mir weißt du das auch und trotzdem flirtest du nicht aus Spaß mit mir."

Harry legte den Kopf schief und musterte seinen besten Freund. „Weil ich mir ziemlich sicher bin, dass du dich damit nicht wirklich komfortabel fühlen würdest. Oder willst du, dass ich mit dir flirte?"

Niall sah regelrecht geschockt aus. „Bloß nicht!", sagte er und wich dramatisch einen halben Schritt zurück.

„Siehst du?" Harry lachte auf. „Ich kann deine Vibes durchaus richtig lesen, Nialler. Und bei Liam kann ich das eben auch."

„Mhm", machte Niall, dann hob er simultan eine Braue und einen Mundwinkel. „Ich bin gespannt, was Louis' Vibes dazu sagen."

***

Wie sich herausstellte, sagten Louis' Vibes vieles und nichts gleichzeitig – also zweideutig wie immer.

Der Typ, den er diesmal mit ins To Paradise gebracht hatte, machte zwar einen eher unscheinbaren Eindruck, hatte allerdings bereits beim Betreten der Bar seine Augen verdreht. Es würde Harry nicht wundern, wenn das Konzept seiner Inklusion hier nicht auf die offensten Ohren traf.

Bisher hatte Harry noch nicht wirklich viel davon mitbekommen, in welche Richtung das Gespräch zwischen den beiden verlief, aber dieses eine Mal lag es nicht daran, dass er mit aller Macht versuchte, Louis' Blick und dem Versprechen darin auszuweichen – heute war der Grund tatsächlich Liam.

Zwar würde seine Bar heute auch keinen schlechten Umsatz erzielen, aber schnell war Harry klar geworden, dass der große Ansturm wohl ausblieb, und dass Niall und Jeggie die Bedienung zumindest für eine gewisse Zeit auch allein stemmen können würden. Infolgedessen hatte er sich vom Getränkemischen abgeseilt und sich stattdessen zu Liam und dessen Gesellschafft an den Tisch gesetzt, um etwas zu quatschen. Dass Louis' Augen ihm gefolgt waren, war ihm nicht entgangen, doch schnell war dieses Wissen in den Hintergrund gerückt.

Liams Cousine hatte sich farblich der lesbischen Prideflagge angepasst (orangenes Strickoberteil, blassrosa Rock mit einem weißen Gürtel, und knallpinke Doc Martens – ob ihre Haare von Natur aus rot waren, hatte Harry noch nicht rausgefunden), ihr Partner hatte einen eher androgynen Style, wollte aber mit sie/ihr-Pronomen angesprochen werden.

Beide hatten ihn überschwänglich begrüßt und beteuert, wie cool sie das To Paradise fanden, besonders die Offenheit für alle Identitäten, die damit einherging.

Dieses Lob hatte Harry tatsächlich etwas schüchtern werden lassen, aber dann fing Liam an, an seinem Job interessiert zu werden: „Was bist du?", fragte er, „Der Manager?"

„Nicht ganz", sagte Harry mit vor Stolz geschwellter Brust und musste nun doch grinsen. „Ich bin der Eigentümer. Mir gehört der Laden, ganz offiziell und alles."

Sein Freund riss die Augen auf. „Nein!", sagte er, „Verarschst du mich? Scheiße ist das geil!"

Die nächsten Minuten bestanden aus allen möglichen detaillierten Fragen zu seinem Werdegang, dann der Entwicklung des To Paradise in den letzten vier Jahren, Interesse daran, wie Harry auf all die inklusiven Ideen gekommen war und schlussendlich schiere Begeisterung darüber, dass er tatsächlich die Wohnung direkt über der Bar hatte übernehmen können.

„Das ist so fucking praktisch, Mann!", lachte Liam und stieß ihm mit der Faust gegen die Schulter. „Du kannst quasi aus dem Bett fallen und bist direkt auf Arbeit."

Harry lachte mit, aber die Erwähnung seiner Wohnung erinnerte ihn wieder daran, was das eigentlich Praktische daran war. Wie eine Kompassnadel wanderte sein Blick gegen seinen Willen durch die Bar, bis er auf Norden landete und sich mehrere Sekunden lang dort festsetzte.

Erst, als Liam (der nichts davon mitbekommen hatte) weiterredete, löste er seine Augen von Louis' Statur, die heute in Skinnyjeans und einem verboten attraktiv ausgeschnittenem Shirt steckte. Der Inklusivitäts-Hasser saß ihm noch immer gegenüber.

Harry drehte demonstrativ den Kopf noch ein wenig mehr in Richtung Liam, schenkte ihm für die nächsten Minuten wieder seine ungeteilte Aufmerksamkeit, bis er sich schließlich entschuldigte und wieder zu Niall und Jeggie hinter die Bar trat, um den beiden eine kleine Atempause zu ermöglichen. Sein bester Freund verschwand als erster auf die Toilette, dann ging auch seine Aushilfe kurz.

„Dein wirtschafts-Kumpel sieht übrigens aus wie ein Bär", verkündete Jeggie, als xier wieder zu ihnen hinter die Bar trat.

Niall schnaubte. „Redest du von der Bezeichnung, die sich eine gewisse Gruppe schwuler Männer in den 80er Jahren gegeben haben, oder von der Plüschtier-Version? Ich seh nämlich nur das letzte."

Es war vermutlich als Scherz gemeint, aber Jeggie schien die Frage ziemlich ernst zu nehmen, denn xier legte den Kopf schief und unterzog das Subjekt ihres absurden Gespräches einer genaueren Musterung. „Nein, du hast Recht", sagte xier dann, „Es ist definitiv ein Plüschbär."

Harry sah die beiden mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Könnt ihr bitte nicht so komische Dinge sagen?", fragte er, „Vor allem nicht über einen Freund von mir, der by the way hetero ist? Und menschlich."

„Hey, irgendwie muss man doch die Zeit rumbekommen, wenn du uns hier das letzte bisschen Arbeit wegnimmst", scherzte Jeggie. „Bis eben waren Ni und ich noch beschäftigt genug, um auf seltsame Vergleiche unserer Kundschaft zu verzichten."

„Ach, dann ist es also meine Schuld?" Harry zog eine Augenbraue hoch. „Aber tja, wenn du das so siehst... ich muss mich eh noch um Bürokram kümmern, dann kann ich das ja direkt jetzt machen, wenn ihr euch sonst langweilt."

„Hey, so war das nicht gemeint", protestierte Niall, aber Harry zuckte bloß lachend mit den Schultern, während er schon den Ausschankraum verließ.

„Ihr könnt ja um Hilfe schreien, wenn wider Erwarten doch noch die Bude eingerannt wird. Und bis dahin bin ich im Büro."

Er grinste seinen beiden Mitarbeitern zu, dann folgte ein letzter Kontrollblick durch das To Paradise: Louis und sein Date, Liam und seine beiden Begleiter, hier und da eine kleine Freundesgruppe, dort zwei Frauen in einer Sitznische, weiter hinten ein knutschendes Pärchen und am Bartresen zwei je einzelne Personen am Handy – vielleicht noch irgendwer auf den Toiletten oder draußen beim Rauchen. Ein typischer Montagabend, Harry würde sich nicht beschweren. Dennoch reichten zwei Bedienungen vermutlich aus, um den Abend problemlos hinter sich zu bringen.

Zufrieden verschwand Harry durch den Torbogen in den schmalen Flur dahinter. Auch nach rechts, in Richtung der Toiletten, warf er einen kontrollierenden Blick, doch dort schien heute alles ruhig zu sein. Niemand, der Sex hatte, niemand, der Hilfe brauchte.

Stattdessen wandte er sich nun dem heruntergelassenen Perlenvorhand zu seiner Linken um und schob ihn mit einer Hand beiseite, um hindurch zu dem Teil zu treten, der nur Angestellte etwas anging. Hinter sich ließ er den Vorhang wieder zurückfallen, ehe er seinen Schlüsselbund zückte, um sein Büro aufzusperren. Ein letztes Mal lauschte er hinaus, ob Niall und Jeggie auch wirklich zu zweit klarkamen, dann aber trat er in den Raum und setzte sich an seinen Papierkram.

***

Seit etwa einer Dreiviertelstunde saß Harry an seinem Schreibtisch, als es an seiner Bürotür klopfte. Er war gerade komplett auf Nialls mit Überstunden überhäufte Gehaltsabrechnung fokussiert und das Klopfen war so zaghaft, dass er im ersten Moment glaubte, es sich eingebildet zu haben. Irritiert glitt sein Blick zur Uhr (eine Viertelstunde nach Mitternacht), dann zur Tür. Als es jedoch ein weiteres Mal klopfte, stand er so hastig von seinem Stuhl auf, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor.

„Ja?", rief er, während er die wenigen Schritte zur Tür hinter sich brachte. „Jeggie?"

Das war zumindest seine einzige Vermutung, denn sein bester Freund wäre nach dem ersten Klopfen auch ohne Einladung in den Raum gekommen. Als er jedoch die Bürotür öffnete, stand ihm keiner seiner beiden Mitarbeiter gegenüber.

Stattdessen war es eine junge Frau – Harry dachte, dass sie kaum älter als Elena sein konnte, vermutlich sogar noch jünger als 20. Ihre dunklen Locken trug sie in einem Afro, ihr Augen-Makeup war grün auf hellbrauner Haut. Und sie sah schrecklich ängstlich aus.

„Whoa", machte Harry, ehe er sich zusammenriss. „Hey. Ist alles in Ordnung?"

Die junge Frau gab ihm keine Antwort, sah sich nur nervös um.

Der Perlenvorhang hinter ihr war noch immer heruntergelassen und auch die Toiletten waren deutlich ausgeschildert, dass sie nur versehentlich vor seinem Büro stand, war also eher auszuschließen. Nun sah sich auch Harry um, doch die Perlen schirmten sie eigentlich gut vom öffentlichen Teil der Bar ab. Dennoch bekam er das Gefühl, dass hier etwas nicht ganz in Ordnung war.

„Brauchst du irgendwas bestimmtes?", fragte er die junge Frau – eigentlich war sie noch ein Mädchen – vorsichtig.

Sie zuckte mit den Schultern, aber nun nahm Harry das unterdrückte Zittern ihrer ineinander verknoteten Hände wahr. Seine Alarmglocken schrillten.

„Brauchst du Hilfe?", wollte er mit gesenkter Stimme wissen, „Fühlst du dich wegen irgendwas nicht sicher?"

Sie schluckte, dann flüsterte sie: „Ich glaube schon."

„Okay." Harry atmete durch. „Wärst du in Ordnung damit, erstmal ins Büro zu kommen und mir zu erzählen, was los ist?"

Das Mädchen (denn mit jeder nervösen Bewegung wirkte sie jünger) nickte, bevor sie an Harry vorbei in den Raum huschte und mit verschränkten Armen an der Wand stehen blieb.

Er schloss die Tür und drehte sich um. „Ich bin Harry", sagte er und versuchte, dabei seine eigene Nervosität zu unterdrücken. „Willst du dich hinsetzen?"

Mit einer Hand deutete er auf seinen Schreibtischstuhl, während er mit der anderen die Unterlagen auf der Tischplatte zusammenschob.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein", flüsterte sie, „Ist schon okay. Ich bin Anna."

„Alles klar. Anna." Harry ließ sich selbst auf seinen Stuhl sinken, um seine eigene Größe weniger bedrohlich wirken zu lassen. „Was ist passiert? Wobei brauchst du Hilfe?"

Anna holte einmal tief Luft. „Ich... ich bin auf einem Tinderdate", sagte sie dann leise, „Aber... es ist ganz anders, als ich dachte und... vielleicht übertreibe ich auch gerade, ich weiß nicht. Sorry."

„Hey", sagte Harry, „Du musst dich für nichts entschuldigen. Ist es dein Tinderdate, das dich unsicher fühlen lässt?"

Sein Gegenüber warf einen Blick zur Tür, als würde diese gleich aufgehen und ihr Date ausspucken. Dann sah sie zurück zu Harry und nickte. „Ich hab ihr gesagt, ich geh auf Toilette, aber wenn ich zu lange brauche und sie skeptisch wird..."

„Dann wird dir absolut nichts passieren", sagte Harry bestimmt, ohne jedoch lauter zu werden. „Du bist hier absolut sicher und ich werde dafür sorgen, dass das auch so bleibt, okay?"

Anna entspannte sich bei dieser Bestätigung sichtlich, wenn auch nicht vollständig, und sie nickte.

„Gut. Willst du mir erzählen, was genau passiert ist?"

Sie schluckte. „Das hier ist mein erstes Date mit einer Frau", sagte sie und wich Harrys Blick aus, als wäre das eine Sache, die ihr peinlich sein musste. „Aber ich wusste nicht, dass sie so viel älter ist als ich."

„Wie alt ist sie denn?", fragte Harry vorsichtig nach. „Und wie alt bist du, wenn ich fragen darf."

„Ich bin neunzehn", sagte Anna leise, „Und sie ist fast dreißig. Das stand aber nicht in ihrer Tinder-Bio. Da stand nur in my 20s oder so."

Harry zog die Augenbrauen zusammen. „Verstehe", sagte er, „Und was noch?"

Anna schluckte. „Sie ist einfach... ganz komisch die ganze Zeit. Sie meinte, sie wohnt mit ihrem Bruder zusammen und sie sagt ständig, dass er uns abholen und zu ihnen bringen kann, wenn ich will. Aber irgendwie fühlt es sich nicht an wie eine echte Wahl, die ich hab. Ich hab ihr zwar mehrmals gesagt, dass ich morgen zeitig raus muss, aber sie scheint den Wink nicht zu kapieren. Sie trinkt auch schon die ganze Zeit Cocktails und will mir ständig welche mitbestellen." Kurz unterbrach sie sich, um zittrig Luft zu holen. „Vorhin hat sie nur von ihrer Ex geredet, und dass sie von ihr mehrmals betrogen wurde. Und ich weiß nicht, ob es nur als Witz gemeint ist, aber sie sagt auch, dass sie in der Lage wäre, bisexuelle Frauen „umzudrehen" und macht ständig Andeutungen, es bei mir auch hinkriegen zu können."

Harry ballte seine Hände zu Fäusten, um seine Wut zu unterdrücken. Verdammte Scheiße, ganz bestimmt nicht in seiner Queerbar.

„Was brauchst du?", fragte er Anna, „Ein Taxi, um nach Hause zu kommen? Ich kann dich aus dem Hinterausgang rausbringen, dann bekommt sie nichts davon mit."

Große, grün umrandete Augen sahen ihn an. „Wäre das... wäre das möglich?"

„Ich glaube sogar, es wäre echt nötig", erwiderte Harry und versuchte, sich noch nicht die Gewitterlaune anmerken zu lassen, die sich in ihm anstaute. Seinem Ärger Luft machen würde er erst, wenn er dieser jungen Frau vor ihm geholfen hatte. „Hattest du noch eine Jacke oder so, die du brauchst?"

Anna schüttelte den Kopf. „Ich hatte nur das Hemd hier an. Und meine Tasche hab ich mitgenommen."

„Alles klar." Harry nickte. „Soll ich dir ein Taxi rufen? Oder hast du jemanden, der dich abholen kann?"

Sie zögerte. „Ich kann versuchen, meine Schwester zu erreichen."

„Natürlich. Du kannst so lange einfach hier im Büro bleiben."

„Danke", flüsterte Anna, das Handy bereits am Ohr.

Harry winkte ab. „Das ist das letzte, wofür du dich bedanken musst." 

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