eleven

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Hung Up - Madonna

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Was Harry komplett aus der Bahn warf, war das Lachen. Laut und echt und Louis.

Gleichzeitig aber auch nicht, denn Louis war auf einem Date und er lachte nicht auf Dates. Denn seine Dates liefen scheiße. Immer. Es gab keine Ausnahmen. Nicht ein einziger von diesen komischen Kerlen hatte es jemals geschafft, ein ehrliches Lachen aus Louis herauszubekommen – nur Harry war es gelungen.

Und doch hallte nun das Gelächter durch die Bar, so unverkennbar aus Louis' Mund, dass Harrys Kopf mit einem Ruck nach oben fuhr. Die Bewegung war derartig heftig, dass ein unangenehmes Ziehen durch seinen Nacken und bis in seinen Schädel schoss und den beinahe abgeflauten Kopfschmerz des gestrigen Tages wieder verstärkte. Dennoch verzog Harry nur kurz das Gesicht, ehe das Gefühl zu einer vollkommenen Nebensache wurde, denn... da saß er.

Mitten im Raum, an Tisch Nummer 9, sein Körper im Profil und einen Drink vor sich auf der Holzplatte. Wieder lachte Louis auf und warf dabei seinen Kopf nach hinten, fuhr sich dabei durch die Haare und stützte sich dann mit seinen Unterarmen auf dem Tisch auf, um seinen Gegenüber anzugrinsen und auf irgendetwas zu antworten, was dieser vermutlich gesagt hatte.

Harry wollte es gar nicht, aber noch bevor er sich darüber klar werden konnte, waren seine Augen zu Louis' heutigem Date weitergewandert, um abzuchecken, wer zu Hölle dieser Kerl war und wie er es wagen konnte, kein Arschloch zu sein. Sie hatten alle Arschlöcher zu sein. Das war die Regel.

Es hatte nie ein wirkliches Muster, nie einen wirklichen Typ gegeben, nach dem Louis seine Dates ausgewählt hatte – zumindest kein äußerlich erkennbares. Manche von ihnen waren groß gewesen, andere etwas kleiner. Mal waren sie blass gewesen, mal mit dunkler Haut. Blond, braun- oder ganz dunkelhaarig, manche muskulös, andere eher schmächtig oder dicklich. Harry hatte viele von ihnen gesehen und würde jeden einzelnen wieder auf der Straße erkennen können. Aber etwas zu finden, was sie alle äußerlich miteinander verbunden hätte? Das gab es einfach nicht.

Vielleicht hatte ihre einzige tatsächliche Gemeinsamkeit immer darin bestanden, dass sie alle Vollidioten waren. Und es gefiel Harry ganz und gar nicht, dass dieser Typ heute irgendwie aus dem Raster zu fallen schien.

Das Schlimmste war vor allem, dass er Louis nicht nur zu einem ehrlichen Lachen bringen konnte, sondern dass er dabei auch noch wie ein verdammter griechischer Gott aussah. Harry hasste ihn. Und dann hasste er sich selbst, denn – wie zur Hölle sollte er es jemanden verübeln können, wenn diese Person Louis zum Lachen bringen wollte?

Das hier war von Anfang an klar gewesen, oder etwa nicht? Er und Louis hatten nur gevögelt. Und auch das hatten sie bloß getan, weil Louis es einfach nicht hinbekommen hatte, innerhalb von zwei Monaten auch nur einen vernünftigen Typen zu daten. Harry war einfach naiv genug gewesen, zu hoffen, dass die Dinge einfach so weiterlaufen würden – dass ihr Gespräch nach der Clubnight tatsächlich etwas bedeutet hatte. Dass Louis nie an jemanden geraten würde, der ihn so behandelte, wie Harry ihn behandeln wollte. Ihn hätte behandeln können, wenn er nur einmal wirklich die Chance ergriffen hätte, vermutlich.

Es war wirklich unfair, dass diese Erkenntnis ausgerechnet jetzt kam, wo Louis dieser dunkelhaarigen Gottheit gegenüber saß und über ungefähr jede zweite Aussage von diesem lachen musste.

Am liebsten hätte Harry das Handtuch hingeworfen und wäre von der Bildfläche verschwunden, um es sich nicht länger anhören zu müssen. Aber das wäre nicht nur kindisch, sondern auch Niall und Elena gegenüber verdammt unfair, die heute mit ihm zusammen den Laden schmissen. Er würde die beiden bis voraussichtlich mindestens Mitternacht nicht allein lassen können – erst recht nicht, wenn der einzige Grund war, dass er Louis nicht mehr beim Spaßhaben zuschauen konnte, weil sich bei jedem einzelnen Lachen von diesem etwas in ihm zusammenzog.

Die nächsten paar Stunden gab Harry sich die größte Mühe, Tisch Nummer 9 aus seinem Gedächtnis zu radieren. Es gab ihn nicht mehr, er war einfach nur eine verpixelte Fläche in seinem Blickwinkel. Nichts daran war interessant (oder frustrierend) genug, um überhaupt hinzusehen. Das Lachen und die Gesprächsfetzen, die von dort aus zu ihm drangen? Nur Einbildung! Getränkebestellungen für Tisch Nummer 9? Bestimmt bloß ein Zahlendreher, den Elena gemacht hatte. Tisch Nummer 9 gab es schließlich nicht.

Etwa eine halbe Stunde vor Schichtende (kurz nach 1) hatte Harry vor lauter absichtlichem Ignorieren der unangenehmen Tatsachen Kopfschmerzen. Zudem taten ihm auch die Beine und der Rücken weh – und in seinem restlichen Körper breitete sich ebenfalls unermüdlich die Erschöpfung aus. Zwar hatte er heute Morgen nochmal extra Fieber gemessen und Niall als Beweis für seine Genesung ein Foto von den 37,8° geschickt, aber irgendwie fühlte er sich nun, nach fünf Stunden Arbeit, beinahe töricht, diesen Tag nicht noch pausiert zu haben.

Das vor seinem besten Freund zuzugeben, der ihn eh schon den gesamten Abend über besorgt musterte und dessen Blick er deshalb mied wie die Seuche, würde er allerdings nicht. Außerdem war ihm sowieso bewusst, dass er diesen Arbeitstag vermutlich nur hätte ausfallen lassen, wenn er auf seinem Sterbebett gelegen hätte. Möglicherweise war das ein ziemlich deutliches Zeichen dafür, dass er ein workaholic-Problem hatte, aber er konnte es sich nun mal einfach nicht leisten, die Bar – den Traum, den er unter Schweiß und ab und zu auch unter Tränen aufgebaut hatte – zu vernachlässigen. Auch nicht, wenn es dabei um seine eigene Gesundheit ging.

Was ihn jedoch am meisten auf die Probe stellte, war einfach noch immer die Tatsache, dass Louis auf einem Date war, das nicht absolut katastrophal lief. Er kam mit vielem klar (Krankheit, Stress und der Notwendigkeit der Boss-Aura, zum Beispiel), aber dass ausgerechnet der Typ, mit dem er eigentlich nur seit zwei Monaten Sex hatte, ihn an seine nervliche Grenze brachte, war absolut frustrierend.

Und vor allem war es peinlich, dass er seine beiden Kollegen ausgerechnet deswegen etwa zehn Minuten vor Schluss unter dem Vorwand allein ließ, er müsse nochmal nach irgendwelchen Rechnungen sehen und sie sollten in der Bar doch schonmal etwas Ordnung schaffen, ehe sie dicht machten. Natürlich war das Bullshit. Die Rechnungen existierten zwar, waren aber alles andere als dringlich und konnten auch in Ruhe im Laufe der Woche noch durchgesehen werden.

Aber die Wahrheit war wohl, dass Harry einfach nur feige war.

Er wollte nicht sehen, wie Louis zusammen mit dem gottgleichen Typen verschwand, den er ja anscheinend so lustig fand. Er wollte ihnen nicht nachsehen, wie sie das To Paradise verließen, vielleicht sogar Arm in Arm, und sich dabei nichts anderes wünschen, als dass Louis blieb. Er wollte sich nicht unweigerlich vorstellen müssen, was die beiden miteinander taten, sobald sie allein waren. Er wollte nicht daran denken, wie Louis diesen Typen mit zu sich nach Hause nahm – oder umgekehrt – und wie er sich ausziehen ließ, in einem Schlafzimmer, das nicht Harrys war. Wie seine Kleidung auf einen Teppich fiel, der nicht lavendelfarben war. Wie ein Lichtschein durch das Fenster auf seine Haut fiel, der nicht neonpink war. Wie seine Finger durch Haare fuhren, die nicht braun und lockig waren, und wie er einen Mund küsste, der ihn nicht schon unzählige Male geschmeckt hatte, nüchtern und betrunken und irgendwas dazwischen. Wie er eine Person vollkommen neu erkundete, während er bei Harry ganz genau wüsste, wo und wie dieser berührt werden wollte.

Er wollte es einfach alles nicht wissen, nicht denken, nicht viel zu bildlich vor seinem inneren Auge sehen. Er konnte es nicht, ohne das Gefühl zu haben, in Atemnot zu geraten.

Und doch zuckten die Gedanken viel zu grafisch durch seinen Kopf, brachten ihn dazu, seine Hände auf die Tischplatte zu drücken und seine Augen störrisch zusammenzukneifen, um das Brennen hinter seinen Lidern loszuwerden.

Er war dumm. So, so unendlich dumm, sein Herz an jemanden wie Louis zu verlieren, den er kaum kannte und der dennoch so vertraut war. Der ihm das Gefühl gab, sich fallen lassen zu können und nicht mehr denken zu müssen, und der in ihm doch nicht mehr gesehen hatte als einen rein körperlichen Zeitvertreib. Der die ganze Zeit nur darauf gewartet hatte, dass er jemand besseren fand – die Dates, die er jeden zweiten Tag mitgebracht hatte, waren immerhin deutlich genug gewesen, Harry war einfach nur zu blöd gewesen, diese offensichtliche Tatsache wahrzunehmen.

Oder zu verliebt, sagte eine böse kleine Stimme in seinem Kopf. Zu hoffnungsvoll, zu romantisch, zu naiv...

Ein Klopfen an seiner Bürotür ließ ihn zusammenfahren (und wie sehr verfluchte er sein Herz dafür, dass es noch immer als erstes auf Louis hoffte), dann begann er hastig, die Zettel auf seinem Schreibtisch herumzuschieben, um beschäftigt auszusehen, ehe er „Herein" rief.

Selbstverständlich war es nicht Louis, der seinen Kopf zur Tür hereinsteckte, sondern Niall.

Harry räusperte sich, ehe er seiner Stimme genug vertraute. Dann setzte er ein falsches Lächeln auf und sagte: „Hey, na? Was gibt's?"

„Hi", erwiderte sein bester Freund die Begrüßung, bevor er fragte: „Sag mal, äh... ist alles in Ordnung bei dir? Du wirkst etwas... neben dir."

Harry hoffte inständig, dass sein Lächeln keiner Grimasse glich, als er mit einer Hand abwinkte. „Nein, es ist alles okay. Ich bin nur etwas... müde, das ist alles."

Natürlich runzelte Niall sofort die Stirn. „Du bist immer noch nicht ganz fit von gestern, hab ich Recht? Mann, Harry, ich hab dir gesagt, du sollst dich noch einen Tag ausruhen, sonst-..."

„Nein, nein!", unterbrach Harry ihn hastig. Verdammt, es war so klar, dass Niall wieder sofort die Glucke raushängen ließ! „Ich bin wieder gesund, du hast doch meine Temperatur gesehen. Ich bin nur nicht richtig ausgeschlafen."

Wann war er das jemals? Er arbeitete durchgehend Nachtschichten!

Sein bester Freund wirkte ebenfalls nicht sehr überzeugt von der Erklärung, aber zu Harrys Glück schien er heute keine Zeit für großartige Diskussionen zu haben, weshalb er sich wohl oder übel damit zufrieden geben musste.

„Hm, okay", sagte er, dann schüttelte er den Kopf. „Was ich eigentlich sagen wollte: ich würde heute ganz gern pünktlich abhauen, will aber Elena vorne ungern ganz allein lassen..."

Harry warf einen Blick auf die Uhr und – oh, es war ja schon Zeit für den Feierabend! „Geh ruhig", sagte er und nickte, „Ich bin in einer Minute wieder vorne, und sperr ab. Gute Nacht."

„Gute Nacht, Boss." Niall streckte einen Daumen nach oben. „Und denkt dran, dass du morgen mit Jeggie und El allein bist, weil ich meinen freien Tag ganz bestimmt nicht wieder hergeben werde."

„Jaja, ich hab's auf dem Schirm." Harry verdrehte die Augen, musste nun aber doch etwas lächeln, auch wenn es vermutlich nicht seine obere Gesichtshälfte erreichte. „Hau schon ab!"

Sein bester Freund leistete dem Folge und zog die Bürotür wieder hinter sich zu. Sofort fielen Harrys Mundwinkel herunter und mit einem tiefen Seufzen rieb er sich einmal über das Gesicht, ehe er sich doch aufrappelte und selbst sein Büro verließ. Wie Niall war auch ihm nicht ganz wohl dabei, sein Küken um halb 2 ganz allein in der Bar stehen zu lassen, selbst wenn es nur die letzten paar Minuten zum Aufräumen waren.

Harry schob den Perlenvorhang in die Wandhalterung, trat durch den Durchgang in den Hauptraum – und blieb dann wie angewurzelt stehen. Elena war gerade noch dabei, die letzten paar Stühle umgedreht auf die Tische zu stellen und Niall war bereits weg, weshalb sie eigentlich die einzige Person hätte sein sollen, die sich noch im To Paradise aufhielt. Sie war es jedoch nicht.

Louis lehnte an der Bar, ganz allein und ohne seinem gottgleichen Date in Sicht. Seine Hände spielten mit einem vergessenen Bierdeckel, drehten ihn immer wieder auf der glatten Fläche des Tresens herum, wie einen Kreisel. Als Harry richtig in den Raum trat, sah er auf und lächelte ihn an, was das wohl Irritierendste überhaupt war.

„Hi!", sagte er, viel zu enthusiastisch für jemanden, der mit Harry eigentlich nichts mehr am Hut haben sollte. Wo zur Hölle war sein Date hin? Und warum war er noch hier, nach Ladenschluss?

Harry versuchte, unauffällig seinen Nervositätsanfall wegzuatmen. „Hi", erwiderte er die Begrüßung gepresst und sah sich zu Elena um, die ein paar Meter weiter gerade den letzten Stuhl umdrehte und anschließend ihre Hände an der dunklen Jeans abwischte.

„Danke, El." Harry nickte seinem Schützling zu. „Das passt dann schon, den Rest krieg ich auch allein hin. Wir sehen uns morgen, ja?"

Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Alles klar, bis morgen."

„Bis dann", sagte Harry, „Komm gut nach Hause." Er begleitete sie bis zur Eingangstür und sperrte hinter ihr ab, behielt sie durch die Glasscheibe aber noch im Auge, bis sie aus seinem Blickfeld verschwand. Eigentlich wusste er, dass er sie definitiv nicht verhätscheln musste, aber sie war einfach noch so jung und er war sich sicher, dass es wohl noch eine Weile dauerte, bis er seinen Beschützerinstinkt für sie zumindest zum Teil ablegen konnte.

Mit einem letzten, tiefen Atemzug zog Harry schließlich den Schlüssel aus dem Türschloss und drehte sich wieder um. Louis lehnte noch immer am Tresen, seine dunkelblauen Augen auf Harry gerichtet und eine Hand, die über die Bartstoppeln an seinem Kinn strichen.

Harry musste bei dem Anblick schlucken, dann erinnerte er sich daran, dass das hier ja vorbei war. Er sollte alle weiteren Gedanken und Erinnerungen an das Gefühl von Louis' Bartstoppeln auf seiner empfindlichen Haut aus seinem Kopf verdrängen. Es tat seinem Herzen nicht gut, an dieser Geschichte festzuhalten, wenn Louis ihn offensichtlich nicht mehr brauchte. Vermutlich war er nur hier, um Harry offiziell klar zu machen, dass ihre Hookups ab jetzt Vergangenheit waren.

Er war sich nicht sicher, ob er es in Worte verpackt haben wollte – reichte es denn nicht, dass er gesehen und gehört hatte, wie sehr Louis sein heutiges Date mit dem griechischen Gott genossen hatte?

Harry biss seine Zähne zusammen und durchquerte den Raum, bis er nur etwa einen Meter vor Louis stand. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und sah diesem fest in die Augen. „Du musst gar nichts sagen-...", begann er, doch weit kam er mit den Worten nicht.

„Gut", sagte Louis nämlich, „Das hatte ich auch nicht vor."

Im nächsten Moment hatte er den Abstand zwischen ihnen überbrückt und griff nach Harrys Hemdkragen, um ihn für einen Kuss an sich zu ziehen.

Es war ungezügelt, Louis' Finger in dem Kleidungsstoff. Ihre Lippen aufeinander, ihre Zungen, ihr Atem. Die Art, wie sich ihre Körper aneinanderpressten, wie Harry spüren konnte, dass Louis hart war. Das Verlangen, das durch seinen eigenen Körper rauschte wie ein Wildbrand, unaufhaltsam, gewaltig und vor allem heiß.

Und dann war es auf einmal irritierend, denn... was zur Hölle wurde das hier? Was taten sie? Was tat er? War es nicht vollkommen verwerflich, sich von Louis küssen zu lassen, während dieser gerade von einem Date kam, das er offensichtlich nicht vollkommen grauenvoll gefunden hatte? Machte diese Tatsache Harry nicht zu dem anderen Typen? Und warum fiel es ihm dann trotzdem so schwer, Louis zu stoppen? Seine Hände von Harrys Hemdkragen zu lösen. Ihn wegzuschieben, den Kuss zu unterbrechen. Seine eigenen Hände von Louis' Körper zu lösen. Der Sache ein Ende zu bereiten, bevor sie noch weiter gingen.

Noch während Harry sich diese Fragen stellte, noch während der letzte Gedanke in seinem Kopf verhallte, wusste er schon die Antwort darauf. Das hier war vermutlich seine letzte Chance, Louis nah zu sein, er konnte nicht anders, als sie zu ergreifen. Wahrscheinlich machte ihn sein Mitwissen über das Date zu einem Arschloch, wahrscheinlich würde er nicht einmal mit Niall darüber reden können, was er hier tat, weil es einfach eine absolute Katastrophe war, die objektiv gesehen nicht einmal annähernd vertretbar war.

„Nimm mich mit zu dir", sagte Louis und verdammt, Harry wünschte sich wirklich, er hätte die Willenskraft, Nein zu sagen. Doch ihm war bewusst, dass es dafür sowieso schon zu spät war. Er würde Louis mit in seine Wohnung nehmen, mit in sein Schlafzimmer, mit in sein Bett.

Vielleicht brach es dem gottgleichen Date an diesem Punkt noch nicht das Herz, wenn Louis mit jemand anderem schlief (nicht so, wie es Harrys Herz brach), aber ganz bestimmt verstieß es gegen irgendeinen moralischen Code.

Andererseits war das hier auch nicht einzig und allein Harrys Entscheidung – und gut möglich, dass das einfach sie beide zu Arschlöchern machte, wenn auch an unterschiedlichen Enden des Spektrums. Aber die Art, wie Louis ihn küsste – ihn und nicht sein Date – wie er extra auf Harry gewartet hatte, obwohl der Typ ja scheinbar kein Vollidiot gewesen war, machte, dass es ihm egal war.

Oder zumindest jetzt, heute Nacht. Ein schlechtes Gewissen würde er morgen nach dem Aufwachen noch immer haben können, aber dann würde Louis sowieso weg sein, sich das allerletzte Mal herausgeschlichen haben, während Harry schlief, und dann konnte er alle negativen Gefühle einfach gleichzeitig fühlen. Dann würde er sie nicht an das Jetzt vergeuden.

Das Jetzt, in dem er Louis' Lippen auf sich spürte, seinen hungrigen Mund, seinen heißen Atem. Das Jetzt, in dem Louis sich an ihn drängte und seine Finger in Harrys Kleidung, in seine Haut drückte, um ihn noch näher zu ziehen. Das Jetzt, in dem Harry seine Gedanken leise drehte und einfach nur fühlte, weil es das letzte Mal sein würde, das er die Gelegenheit dazu hatte. Das Jetzt, in dem er ignorierte, dass er eigentlich noch hinter der Bar hatte aufräumen musste, weil er Elena ja verfrüht nach Hause geschickt hatte. In dem er nicht einmal die Zeitschaltuhr einschaltete und einfach nur den zentralen Lichtschalter betätigte, bevor er hastig die Hintertür zusperrte, halb blind, weil Louis ihn dabei schon wieder küsste. In dem sie in vertrauter Manier die Treppenstufen hinauf stolperten und Louis ihn schließlich von innen gegen seine Wohnungstür drückte. In dem ihre Kleidung den Weg auf den lavendelfarbenen Teppich fand und sie in die Laken fielen. Im dem Louis' Hände überall waren, Harry sämtliche Geräusche der Lust entlockten, hart und sanft und neckend und treffsicher. In dem Louis in ihn eindrang, dabei seinen Hals küsste und seine Arme über seinem Kopf in die Matratze drückte, während Harry die Augen schloss, stöhnte und fühlte, fühlte, fühlte.

Er kam zuerst, und als Louis es schließlich ebenfalls tat und sich zurückzog, war er überreizt, erschöpft und atemlos, kaum in der Lage, seine Augen offen zu halten. Der Schweißfilm, der seine Haut überzog, kühlte aus und sorgte für eine unangenehme Gänsehaut. Am liebsten hätte Harry sich zugedeckt, aber er hatte weder körperlich noch mental die Kraft, sich zu bewegen. Erst jetzt wurde ihm wieder der pochende Kopfschmerz bewusst, den er bis zu diesem Punkt erfolgreich ignoriert hatte, und der nicht dazu beitrug, dass er sich in irgendeiner Weise mehr in der Lage fühlte, sich aufzuraffen.

„Hey", hörte er Louis' raue Stimme an seinem Ohr, „Bist du okay?"

Wenn er seine Lider ein winziges Bisschen öffnete, konnte er ihn über sich schemenhaft erkennen, beleuchtet von dem pinken Licht außerhalb des Fensters. Aber das gleiche Licht verstärkte den Schmerz hinter seiner Schläfe und so schloss Harry seine Augen wieder, gab nur ein Brummen von sich, das weder bejahend noch verneinend war.

Er war nicht okay, ganz und gar nicht, aber eigentlich hatte er vorgehabt, sich das erst am nächsten Morgen einzugestehen. Dass Louis ihn jetzt danach fragte, war absolut keine Hilfe dabei, seine Gefühle zu unterdrücken.

„Ich hab dir nicht weh getan, oder?", fragte Louis jetzt leise und obwohl Harry noch immer seine Augen geschlossen hatte, war er sich sehr sicher, Louis' besorgten Blick einmal prüfend über seinen Körper wandern zu spüren.

Harry schaffte es, seinen Kopf zu schütteln. Nein, Louis hatte ihm bei ihrem Sex keine Schmerzen zugefügt. Das Einzige, was wirklich mit ihm zu tun hatte, war Harrys Herzschmerz – und nicht einmal dafür konnte er direkt etwas.

Ein leises Seufzen ertönte, dann hörte und spürte Harry, wie Louis vom Bett aufstand. Sein Magen sackte ab. War es das? Würde Louis jetzt schon gehen? War das sein Abschied von Harry gewesen?

Doch die Schritte bewegten sich nicht aus dem Zimmer heraus. Stattdessen gab es ein klackendes Geräusch, gefolgt von ein paar weiteren, undefinierbaren. Und dann senkte sich die Matratze wieder und Louis murmelte: „Lass die Augen zu."

Harry wusste sofort, was es war, als das feuchte Material mit seiner Haut in Verbindung kam und ihm der vertraute, rosige Geruch seines Abschminkwassers in die Nase stieg. Mit sanften Bewegungen entfernte Louis mithilfe eines Wattepads das Makeup von Harrys Augenlidern und seinen Wangen, sorgsam darauf bedacht, nichts von der Flüssigkeit versehentlich in seine Augen gelangen zu lassen. Es dauerte deutlich länger, als Harry üblicherweise zum Abschminken brauchte, aber kein Laut der Beschwerde kam über seine Lippen. Stattdessen genoss er die beinahe streichelnden Berührungen von Louis' vorsichtigen Händen – besonders, da er im Moment vermutlich wirklich nicht selbst in der Lage gewesen wäre, dieses nötige Übel auf sich zu nehmen.

Louis ging sogar so weit, je einen Tupfen von Harrys Nachtcreme auf seiner Stirn und seinen Wangen zu verteilen, ehe er wieder vom Bett aufstand und die Kosmetikartikel wegräumte. Blinzelnd öffnete Harry ein Auge und sah ihm nach, doch Louis war noch immer nicht fertig. Anstatt zu gehen (oder, wie Harry naiverweise hoffte, zu ihm ins Bett zu kommen), bückte er sich zum lavendelfarbenen Teppich und hob Harrys Kleidung hoch, warf das Hemd und die Hose in den Wäschekorb neben der Tür, griff dann nach seinen eigenen Klamotten und legte sie zusammen, platzierte sie auf dem Hocker unter dem Fenster.

Erst, als er damit fertig war, zog er die Vorhänge ein Stück weiter zu und sah dann zu Harry, der zurücksah und gar nicht wusste, wie zur Hölle er mit dieser Situation umgehen sollte. Warum kannte Louis seine Abendroutine so in- und auswendig? Warum war es ihm je wichtig erschienen, sie sich zu merken? Und vor allem, sie nun anzuwenden?

„Du solltest schlafen", sagte Louis leise, während er über Harry hinweg auf die freie Betthälfte kletterte. „Man sieht dir an, dass du es nötig hast." Mit diesen Worten breitete er die Decke über ihnen beiden aus und drehte sich so herum, dass er Harry seitlich an sich ziehen konnte. Noch immer waren sie beide nackt, aber obwohl sich ihre Körper unter dem Stoff großflächig berührten, hatte es nichts sexuelles mehr an sich.

Viel mehr fühlte es sich für Harry an wie eine intime Verabschiedung. Als würde er es sich selbst ein letztes Mal erlauben, von Louis so vollkommen berührt zu werden, bevor all das am Morgen vorbei wäre.

Warme Lippen pressten sich in seinen Nacken und er biss sich auf die Zunge und unterdrückte die Tränen, schloss die Augen, ließ sich stattdessen in die Arme sinken, die um seinen Körper geschlungen waren.

„Gute Nacht, Harry", flüsterte Louis.

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