Unter Wasser - 02

Vorgabe: Eine Geschichte, die unter Wasser spielt

Einatmen. Ausatmen.

Einatmen. Ausatmen.

Langsam öffnete Claudia ihre Augen und blickte durch die Taucherbrille. Vor ihr erstreckte sich ein klares Blau, das in der Peripherie dunkler und dunkler wurde. Die Stille war ohrenbetäubend. Das kühle Wasser wie eine Liebkosung auf ihrem Körper, der im Schwimmanzug steckte.

Langsam bewegte Claudia ihre Beine und nutzte den Antrieb, den die Schwimmfüße ihr lieferten, und tauchte weiter in die Tiefe. Unter all diesem Blau wurde nach einiger Zeit etwas anderes sichtbar. Farben. Muster. Leben.

Die Freude begann in ihrem Bauch zu kribbeln, als sie sich dem Korallenriff näherte. Fische in lila, orange, gelb und blau flitzten umher. Große Muscheln in tiefem Grün oder dunklem Lila, mit helleren Flecken, sodass sie fast wie menschliche Iriden wirkten, thronten auf den beigen Korallen. Tang und andere Unterwasserpflanzen ließen ihre langen Arme nach oben schlängeln, von den Strömungen hin und her bewegt.

Für Claudia war das hier das Paradies auf Erden. Oder eher das Paradies unter Wasser.

Eine ganz andere Welt, in der sie sich jedoch viel mehr daheim fühlte als an Land.

Langsam, fast ehrfurchtsvoll bewegte sie sich weiter, hob die Unterwasserkamera an und schoss einige Fotos eines Clownfisches. Kurz darauf entdeckte sie eine kleine Ansammlung von Seeigeln, deren schwarze, lange Stacheln beeindruckend und beängstigend zugleich durch das Wasser schnitten.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Claudia einen sich bewegenden Schatten und kurz setzte ihr Herzschlag aus. Doch nicht ein Hai, sondern Thomas schwamm auf ihre Seite, lächelte sie mit seinen Augen durch die Taucherbrille an.

Dies war ihr erster gemeinsamer Urlaub, nachdem sie sich letztes Jahr über eine Dating-App kennengelernt hatten. Ihre gemeinsame Liebe zum Reisen und Tauchen hatte sie schnell zusammengeführt. Monatelang hatten sie ihren Trip nach Ägypten geplant, gestern Abend waren sie angekommen und jetzt schon befanden sie sich endlich dort, wo sie sich die letzten Wochen über hingeträumt hatten.

Claudia streckte den Arm aus und drückte Thomas sanft die Hand. Dann widmete sie sich wieder der Tier- und Pflanzenwelt, die sich wie ein lebendiger Regenbogen vor ihnen erstreckte.

Sie hatten Sauerstoff für eine ganze Stunde und Claudia gedachte, die Zeit gut auszunutzen, jeden einzelnen Augenblick zu genießen. Nicht nur die Eindrücke, sondern auch das Gefühl ihres Körpers, der mühelos durch das Wasser schwebte.

Konzentriert blieb Claudia so nah am Riff wie möglich, studierte die Tiere, schoss unzählige Fotos, fokussierte sich auf ihr direktes Blickfeld, war sich jedoch immer der Nähe von Thomas bewusst, der hinter ihr tauchte. Auch er hatte eine Kamera dabei, machte aber nicht wie sie Fotos, die redigiert und verkauft werden sollten, sondern zu Studienzwecken. Als Meeresbiologe widmete er sich auch in seiner Freizeit der Unterwasserwelt und was man lernen konnte.

Nach geraumer Zeit entdeckte Claudia eine weitere Ansammlung von Seeigeln. Begeistert schoss sie ein paar Fotos und hob darauf den Kopf, um Thomas auf sich aufmerksam zu machen. Sie spürte immer noch seine Anwesenheit hinter sich, bemerkte aber überraschend, dass er irgendwann an ihr vorbeigeschwommen war und sich jetzt vor ihr befand.

Ein kalter Schauer lief ihren Rücken hinunter und eine Gänsehaut legte sich über ihre Haut, vom Haaransatz bis zu den Zehen. Mit pochendem Herzen drehte sie ihren Kopf nach hinten zu dem Schatten, der ihr die letzten Minuten über gefolgt war.

Ein Hai.

Grau, geschmeidig, grazil fast schon in den fließenden Bewegungen.

Und gefährlich.

Die Angst schnürte ihr die Kehle zu und unwillkürlich schwamm sie näher zum Riff. Wie sollte sie Thomas auf sich aufmerksam machen, der noch nichtsahnend die Umgebung erkundete, ohne auch den Hai auf sich aufmerksam zu machen?

Sie hatte schon hunderte von Tauchsessions hinter sich, doch noch nie hatte sie sich so ausgesetzt gefühlt. Noch nie war ein Hai ihr so nahe gekommen.

Wie sollten sie es überhaupt weg von dem Hai schaffen?

Das Taucherboot lag ungefähr fünfzig Meter vom Riff entfernt, sie müssten die Strecke über offenes Meer zurücklegen, um in Sicherheit zu gelangen. Eine leichte Beute für das Raubtier, das sich fortan hinter ihr befand.

Vielleicht verzog der Hai sich von selbst. Doch wie lange mussten sie darauf warten? In weniger als zehn Minuten mussten sie den Anstieg beginnen, bevor ihnen der Sauerstoff ausging.

Claudia brach der Schweiß aus, was im kühlen Nass unmöglich schien. Langsam bewegte sie sich vorwärts und näherte sich Thomas, der noch nichts vom Drama bemerkt hatte. Endlich erregte sie seine Aufmerksamkeit und mit dem Daumen zeigte sie nach hinten. Thomas folgte der Bewegung und erstarrte beim Anblick des Hais.

Er überlegte. Claudia konnte es daran erkennen, dass er den Kopf leicht schief legte und sich ruhig verhielt. Eine Geste, die sie schnell lieben gelernt hatte.

Dann sah er wieder zu ihr, legte seine Hand beruhigend auf ihre Schulter. Seine Gelassenheit steckte Claudia an und ihre Atmung wurde ruhiger. Thomas war Meeresbiologe. Er wusste sicherlich viel über Haie, mehr als sie immerhin.

Und er hatte schon einen Plan. Mit Gesten gab er ihr zu verstehen, dass sie warten sollten, bis der Hai an ihnen vorbeigeschwommen war. Dann sollten sie sich auf den Weg zum Boot machen. Claudia nickte, ignorierte dabei den Kloß in ihrem Hals.

Thomas schien ihre Angst zu spüren, denn er hängte sich die Kamera um den Hals und zog sie in seine Arme, strich ihr mit sanften Bewegungen über den Rücken. Sie wollte sich schon nach dem Hai umsehen, als er sie wieder zu sich drehte.

Fokus auf mich, nicht auf den Hai, war die Aussage.

Claudia nickte, spürte mit jeder Faser ihres Körpers, dass der Hai immer näher kam, sah aber nur in die gutmütigen Augen ihres Freundes.

Als der Hai auf ihrer Höhe war, drehte Thomas sie so, dass er sie mit seinem eigenen Körper gegen den Hai abschirmte, der harmlos durch das Wasser glitt und kein Interesse an ihnen zu haben schien. Es war ein Schwarzspitzen-Riffhai, stellte sie an der schwarzen Finne fest, und hätte sie nicht solche Angst, könnte sie das Tier vielleicht sogar bewundern.

Er war nicht groß, vielleicht nur etwas mehr als eineinhalb Meter lang und sie konnte sich erinnern, einmal gelesen zu haben, dass diese Haie typisch ungefährlich waren. Erleichterung floss durch ihre Adern. Wäre dies ein Tigerhai gewesen, wäre ihre Furcht mehr als berechtigt gewesen.

Sie sahen dem Hai nach, wie er weiter schwamm und kurz darauf hinter dem Riff verschwand. Begab er sich gerade auf die andere Seite?

Claudia sah wieder zu Thomas, hörte ihre eigene Atmung überdimensional laut. Er wartete noch kurz, dann nickte er, griff sie bei der Hand und gemeinsam schwammen sie los. Weg von der relativen Sicherheit, die das Korallenriff ihnen bot, und direkt ins tiefe, offene Meer.

Claudia schob ihre Angst beiseite, nutzte das Adrenalin, das durch ihren Körper rauschte, um extra Kräfte in ihre Schwimmzüge zu legen. Ein Kribbeln fuhr über ihren Körper.

Nicht nach hinten gucken. Nicht nach hinten gucken.

Weiter vorne erkannten sie den Schatten des Taucherboots. Der Anblick von Sicherheit und Rettung gab ihr einen weiteren Energieschub. Die Zeit verlief wie in Slowmotion, gleichzeitig geschah alles ganz schnell.

Sie erreichten endlich das Boot, durchbrachen die Wasseroberfläche und zogen sich an der Leiter hoch. Über ihnen Licht, Sonne, Rufe, Hektik. Nasse Körper, müde Glieder, rasender Puls.

Claudia zog sich die Taucherbrille vom Gesicht und atmete die frische Luft ein, während sie auf dem Boot lag und in den Himmel guckte. Während ihre Brust sich hob und senkte, drehte sie den Kopf und sah Thomas an.

"Shark, shark!", rief der Bootskapitän und zeigte ins Wasser, woraufhin ein ganzer Schwall auf Arabisch aus ihm herausbrach.

"Shark, shark. Sag bloß", murmelte Claudia und ein Kichern bahnte sich seinen Weg aus ihrer Kehle. Thomas, der auch auf dem Rücken liegend neben ihr zu Kräften kam, sah sie mit funkelnden Augen an. Ein erleichtertes Lächeln lag auf seinen Lippen und plötzlich bebte seine Brust, bevor sein tiefes Lachen an Claudias Ohren drang.

"Shark, shark", sagte auch er belustigt und die ganze Anspannung strömte aus ihren lachenden, überanstrengten Körpern heraus, während das Boot in den Wellen des Roten Meeres schaukelte, irgendwo unter ihnen ein Hai sein Unwesen trieb und das Gefühl, lebendig zu sein, alles war, was etwas bedeutete.


1.334 Wörter

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