Kapitel 8


Das Wochenende hat wie erhofft meine Energiereserven wieder vollgetankt, sodass ich am Montagmorgen trotz des düsteren Februarwetters ausnahmsweise gut aus dem Bett komme. Selbst die wirren Träume, die mich jeden Morgen verfolgen, scheinen heute einmal leicht von mir abzufallen und ich bin dankbar, als ich sie in die übliche Truhe tief in meinem Gedächtnis sperren kann, kaum dass der Wecker klingelt.

Mit einem Tatendrang, den ich selten verspüre, schwinge ich mich aus dem Bett. Das übliche Kissen fliegt zu meiner Mitbewohnerin und trifft sie perfekt mitten im Gesicht, was den imaginären Stadionsprecher in meinem Kopf verkünden lässt: Drei Punkte für diesen herausragenden Wurf! Die Menge kann sich kaum halten!

Ich unterdrücke ein Kichern, so kindisch ist die Vorstellung, aber irgendwie habe ich Lust darauf etwas durchgeknallt zu sein. Und diese seltene Stimmung würde ich mir sicherlich nicht kaputt machen. Trotzdem versuche ich meinem Alter gerecht zu handeln und gehe zu Silvia hinüber, um sie einmal an der Schulter zu rütteln, nachdem sie selbst von dem Kissen nicht wirklich wach geworden ist. Dafür, dass wir auf engsten Raum zusammenwohnen, kennen wir einander nicht sonderlich gut. Ich weiß nur, dass sie einen Freund hat, der hier in der Stadt wohnt, und sie deswegen eigentlich die Hälfte der Woche nicht hier ist. Und das stört mich sicherlich nicht. Wenn es eins gibt, worüber man in einem Wohnheim froh ist, dann über jeden Quadratmeter, den man allein für sich hat. Das andere, was ich über sie weiß, ist dass sie eine notorische Verschläferin ist und deswegen schon oft genug Ärger bekommen hat. Meine Energie am Morgen reicht selten, um auch noch sie zu motivieren aufzustehen, aber heute scheint da eine Ausnahme zu sein.

„He, aufwachen! Es ist schon halb acht."

Lüge. Aber es funktioniert. Innerhalb von einer Sekunde sitzt Silvia kerzengerade im Bett und starrt mich aus schreckgeweiteten Augen an. „Was?! Oh mein Gott, ich darf nicht schon wieder zu spät kommen! Professor Burton wird mich noch aus dem Kurs schmeißen!"

Ich beiße mir auf die Wange, um nicht zu lachen, als meine Mitbewohnerin schneller als ich es bei ihr bisher jemals gesehen habe, ihre Sachen zusammenpackt und Richtung Bad verschwindet. Ich bin mir sicher, ihr wird der Schwindel auffallen, sobald sie die Waschräume betritt. Aber bis dahin wird sie wach genug sein, um nicht sofort im Stehen wieder einzuschlafen und doch noch zu spät zu kommen.

Gemütlich mache auch ich mich daran meine Sachen zu richten und hole eine stylisch verwaschene schwarze Hose aus dem Schrank gepaart mit einem kurz geschnittenen hellrosa Pulli. Dazu meine Biker Boots und das Outfit ist simpel, aber perfekt. Meine Routine im Waschraum erledige ich, ohne mich von den Blicken der anderen runterziehen zu lassen. So gut wie heute ist es mir schon lange nicht mehr gelungen alles an meinem Schutzschild abprallen zu lassen und erst auf dem Weg zu meinem heiß ersehnten Kaffee fange ich mich langsam an zu fragen, woher die gute Laune eigentlich stammt.

Klar das Wochenende hat wirklich Spaß gemacht. Nach der Partynacht am Freitag ging es Samstag in eine Bar mit jeder Menge Cocktails, die die netten Jungs vom Nachbartisch ausgegeben haben. Ich habe geflirtet und viel gelacht, mehr ist jedoch nicht passiert. Was wiederum bedeutet, dass der Abend sich nicht besonders von den anderen Wochenenden hervorhebt. Freitag wiederum...

Wahrscheinlich zeugt es mal wieder von meinem eher fraglichen Charakter, dass der Gedanke an Sean – und den Sieg, den ich über ihn errungen habe – mir ein Lächeln aufs Gesicht zaubert, das ich versuche hinter meinem Schal zu verstecken als ich wie jeden Tag das Café betrete. Selbst jetzt verschafft es mir noch einen Kick an den Abend zu denken. An den Rausch, als wir auf der Tanzfläche standen. Vielleicht hat mein vom Alkohol vernebeltes Gehirn die ganze Situation auch verklärt, aber sowas habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Gut möglich, dass das vor allem an dem Spiel liegt, das sich seit letzter Woche im Fitnessstudio zwischen uns entwickelt hat. Gekrönt von seiner Aussage ich sei eine Bohnenstange – die er mit seinem Verhalten direkt Lügen gestraft hat. Aber als ich mit Sean zusammen gewesen bin, hat nichts anderes gezählt. Außer er und der Beweis, dass ich sehr wohl auch für ihn attraktiv bin. Eins zu Null für mich, würde ich sagen. Und ich bin gespannt auf die nächste Runde.

Ich bin nur halbherzig bei meiner Flirteinlage mit Matt dabei, der daraufhin etwas enttäuscht wirkt. Aber um daran etwas zu ändern bin ich selbst zu überrascht von einer Erkenntnis, die mir mit einem Mal kommt. Der Grund wieso ich so energiegeladen bin und dem Tag fast begeistert gegenüberstehe, ist dass ich kaum abwarten kann, endlich ins Fitnessstudio zu gehen. Und das nicht um wie üblich für einen kurzen Moment allen Sorgen aus meinem Kopf zu entkommen. Sondern weil ich wissen will, wie es dieses Mal zwischen Sean und mir sein wird. Ob wir weiter unser Blickduell führen werden. Ob die gleiche Spannung zwischen uns herrschen wird wie im Club. Es macht Spaß mir mögliche Szenarien vorzustellen. Und am meisten gefällt mir eins, dass ich mir in meinen morgendlichen Kursen bis ins kleinste Detail ausmale. Davon wie ich ihn dieses Mal direkt anschauen würde... nur um dann provokant eine Augenbraue hochzuziehen.

Allein die Vorstellung reicht, um mich selbstbewusst den Kopf heben zu lassen und mit dem Gefühl, allen Blicken und dem Getuschel überlegen zu sein, am Mittag die Mensa zu betreten. Wie immer stellt sich das Kribbeln in mir ein, das Adrenalin so vielen Menschen entgegenzutreten. Aber ausnahmsweise kippt es nicht in Angst um, so wie die ganzen letzten Monate. Ich lasse mich nicht einschüchtern, sondern ziehe, wie schon Millionen Mal in meinem Kopf geübt, die Augenbraue hoch, während ich mit einem süffisanten Lächeln den Blicken einiger Mädchen begegne. Und es fühlt sich so verdammt gut an das Ganze endlich mal wieder nicht nur zu spielen.

Beflügelt von dem Selbstvertrauen gehe ich zur Essensausgabe und hole mir meinen üblichen Salat. Danach steuere ich auf den Eishockey-Tisch zu und für einen kurzen Moment schlägt mein Herz schneller. Was wenn ich Sean bereits hier begegne?
Aber ich rüge mich selbst für den Gedanken. Zum einen, weil ich an einer Hand abzählen kann, wie oft ich den ruhigen Eishockeyspieler hier in der Mensa gesehen habe, und zum anderen, weil es auch kein großes Ding wäre. Ja, wir hatten was miteinander gehabt. Das zählt aber auch für einige andere Jungs in diesem Raum, ja sogar an dem Tisch, auf den ich zusteuere. Das einzig Besondere an dem Ganzen ist, das die anderen mich nicht erst Stunden vorher beleidigt hatten als ich mit ihnen geschlafen habe. Ich zwinge mich also selbst dazu ruhig zu bleiben und die Gesichter am Tisch nicht genauer zu mustern, wie ich es sonst auch tue. Sean ist, wie erwartet, nicht darunter.

„Row, das kannst du uns nicht antun!"

Caleb reißt mich mit seinem verzweifelten Ausruf aus meinen Gedanken und lässt mich interessiert das Geschehen beobachten, während ich mich auf den Platz neben meiner besten Freundin fallen lasse. Diese wird gerade von einer Horde Jungs umschwärmt, die sie alle flehentlich betrachten. Gray sitzt lässig neben ihr, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und mit einem belustigten Lächeln auf den Lippen.

„Was kann sie euch nicht antun?"

Mit einem neugierigen Halbgrinsen mische ich mich ein und ernte dafür ein paar verwunderte Blicke. Eigentlich halte ich mich aus dem Großteil der Gespräche raus, seitdem Row und ich Stammgast an diesem Tisch geworden sind. Den anderen zuzuhören macht mir nur immer wieder allzu deutlich, dass ich außerhalb meines Territoriums – dem Flirten – eher wenig zu sagen habe. Aber heute verspüre ich die Lust mich einzumischen. Außerdem geht es um Row. Und was meine beste Freundin betrifft, ist auch meine Angelegenheit.

„Oh, sie bringt die Jungs um ihr wöchentliches Freibier", meint Gray amüsiert und obwohl ich noch nie dabei gewesen bin, weiß ich sofort von was er spricht. Das Pub Quiz. Jeden Dienstag findet im städtischen Irish Pub ein Wissensquiz statt, dessen Gewinner für den Abend alle Pitcher aufs Haus bekommt. Row war vergangenen Oktober von Gray einmal mitgeschleppt geworden – und seitdem zur Legende aufgestiegen. Kein Wunder, denn niemand kommt meiner Meinung nach an Rows Intellekt heran. Sie räumt jedes Mal ab, wenn sie von den Jungs verpflichtet wird mitzukommen. Und anscheinend sind diese davon inzwischen etwas verwöhnt.

„Oh nein!", gespielt schockiert lege ich mir eine Hand aufs Herz. „Das ist ja wirklich grausam von ihr. Eine Zumutung! Wie könnte man für seine Getränke nur selbst bezahlen?"

Beim letzten Satz lasse ich meinen Blick mit einem Augenrollen über die Jungs gleiten, die davon jedoch nicht sonderlich beeindruckt wirken.

„He, du sagst das jetzt so daher, aber weißt du wie viel Pitcher inzwischen drauf gehen, nachdem wir Monate lang alles frei Haus bekommen haben?" Als würde er von einem ernstzunehmenden Problem reden schüttelt Caleb den Kopf. „Das sprengt meinen finanziellen Rahmen. Wie soll ich meinen Eltern erklären, dass ich mehr Taschengeld brauche?"

Bei der Aussage bricht Gray in Gelächter aus und ich sehe, dass auch Bas und Lee ein paar Plätze weiter belustigt schnauben. Nur Row scheint sich die Worte wirklich zu Herzen zu nehmen, denn sie kaut auf ihrer Unterlippe und fährt sich mit einem Finger über den Piercing in ihrer Augenbraue. Eine so typische Geste für sie, genauso wie es viel zu typisch für sie ist einen Blödmann wie Caleb ernst zu nehmen. Ein warmes Gefühl erfüllt meine Brust, weil ich meine Row wiedererkenne. Dieses süße kleine Mädchen, das einfach niemandem etwas abschlagen kann. Und für die ich da sein kann.

„Oh, da fällt dir sicherlich was ein. Ein paar Mädels zahlen dir bestimmt dein Bier, wenn du dafür ein bisschen Muskeln zeigst... oder du nimmst einfach mal ein Buch in die Hand und gewinnst selbst das Quiz."

Ich lehne mich vor und schnippe Caleb gegen die Stirn, woraufhin dieser sich schmollend in seinem Stuhl zurücklehnt. Herrjemine, was für eine Dramaqueen. Und Row ist natürlich mal wieder viel zu gutherzig.

„Sorry Caleb. Vielleicht bin ich ja mit dem Aufsatz früher durch und kann doch noch kommen." Ehrlich zerknirscht betrachtet sie ihre Hände. Ich will ihr gerade eine Hand auf die Schulter legen und ihr klar machen, dass es absolut nichts gibt, wofür sie sich entschuldigen muss, da zieht Gray sie schon in seine Arme.

„Gott Bunny, wenn du dich für eins nicht entschuldigen musst, dann dafür diesen Vollidioten nicht ihr Freibier zu gewinnen! Die sollen Mal weniger saufen und sich dafür mehr auf dem Eis anstrengen."

Ich lasse meine Hand wieder senken und knirsche mit den Zähnen. Früher wäre das mein Job gewesen. Ich war diejenige gewesen, die Row gut zuredet und sie ermutigt für sich einzustehen. Aber Mal wieder zeigt sich wie inzwischen anders doch alles geworden ist. Wie überflüssig ich bin...

Ich will mich davon nicht runterziehen lassen, trotzdem kann ich nicht vermeiden, dass meine Stimmung die restliche Pause lang nicht mehr so gut ist, wie davor. Ich rede ein bisschen mit Row, halte mich aber ansonsten wieder bedeckt und bin um ehrlich zu sein dankbar, als ich wieder in meinen Kurs gehen und für mich sein kann. Es ist viel einfacher in meiner Fantasiewelt zu leben und mir meinen ruhmreichen Moment gegenüber Sean auszumalen, als mich damit zu beschäftigen, wie mein Leben inzwischen aussieht. Also lasse ich zu, dass meine Gedanken wieder abdriften, bis ich nach meinem letzten Kurs am Nachmittag zu meinem Ford laufe. Ich fühle mich ungewohnt energiegeladen. Als hätte ich mich gerade mit Kohlenhydraten vollgeschlagen und dazu noch einen Energydrink gehabt. Meine Füße können kaum ruhig halten und ich singe laut bei den Liedern mit, die aus den Lautsprechern meines Autos plärren. Wow, das Training wird hammermäßig!

Sobald ich am Fitnessstudio angekommen bin, rase ich auch schon rein und bin in Rekordzeit umgezogen. Mit meiner Wasserflasche bewaffnet und die Kopfhörer bereits aufgesetzt gehe ich zu meiner üblichen ersten Anlaufstelle – die Laufbänder. Dabei versuche ich mich so normal wie möglich zu verhalten, auch wenn ich schwer an mich halten muss nicht dämlich zu grinsen. Kein Blick zum Reha-Raum, bis ich nicht schon ein paar Minuten gelaufen bin. Das habe ich mir fest vorgenommen.

Also stelle ich meine Flasche mit einem tiefen Atemzug und einem möglichst normalen Gesichtsausdruck ab. Dann steige ich aufs Laufband und lasse es anlaufen, wie an jedem anderen Tag auch. Die Routine schenkt mir einen herrlichen Frieden, auch wenn das aufgeregte Kribbeln in meinen Fingern nicht ganz verschwindet. Vielleicht ist es komisch das zu sagen, aber es fühlt sich an wie nach Hause kommen. Und zum ersten Mal kommt mir Sean nicht mehr wie ein Eindringling vor.

Kaum sind meine Gedanken wieder bei ihm schaffe ich es kaum noch meinen Kopf davon abzuhalten, sich von ganz allein in die Richtung zu drehen, wo ich ihn vermute. Aber ich beherrsche mich noch für ein paar Minuten. Genieße es dem Drang zu widerstehen und mir selbst damit zu beweisen, wer die Kontrolle hat. Erst als ich mir sicher bin, es wirkt eher wie beiläufig, hebe ich den Kopf und... starre auf nichts. Der Raum ist leer und die Enttäuschung überschwemmt mich so plötzlich, dass ich kurz aus dem Schritt gerate.

Schnell fange ich mich wieder und knirsche heftig mit den Zähnen, so dumm fühle ich mich. Schon wieder hat dieser Kerl es geschafft mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und dieses Mal nicht mal mit etwas was er getan hat, sondern einfach damit, dass er nicht da ist! Das darf ja wohl nicht wahr sein!

Wütend beschleunige ich das Tempo, bis mein Herz rast und ich kaum noch mit dem Atmen nachkomme. Aber das ist gut so. Das ist die Strafe für meine Schwäche. Außerdem täuscht es über das andere Gefühl in meiner Brust hinweg. Traurigkeit.

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