Kapitel 33
Irgendwann ringe ich mich dazu durch, meinen Eltern in einer kurzen Nachricht die Entscheidung des Dekans mitzuteilen. Leider lässt ihre Antwort nicht lange auf sich warten und lässt mich endgültig in mich zusammensinken.
Dad: Wir kommen
Natürlich hätte ich mir denken können, dass sie so reagieren. Und in Anbetracht dessen, dass ich innerhalb einer Woche aus dem Wohnheim raus muss, sollte ich sogar dankbar sein, Hilfe zu bekommen. Aber es sorgt nur dafür, dass ich mich noch schlechter fühle. Ich war froh von zu Hause rauszukommen. Nicht mehr die verkorkste Dynamik zwischen meinen Eltern mitzubekommen und mein eigenes Ding machen zu können. Meine Eltern hier zu haben wird sein, wie mich fünf Jahre in meine Vergangenheit zurückzuckersetzen. Und das ist das Letzte was ich jetzt brauchen kann.
Gray hat mich nicht nach Hause gefahren. Anscheinend haben die Drei in meiner Abwesenheit den Entschluss gefasst, dass man mich nicht allein lassen sollte. Also wurde ich zu Lee und Gray nach Hause gebracht. Seitdem hat man mir etwas gekocht, mich mit den Jungs vor die Playstation gesetzt und alles erdenkliche getan, damit ich mir nicht zu viele Gedanken machen kann. Ich weiß die Geste zu schätzen, trotzdem würde ich mich am liebsten in eine dunkle, stille Ecke verkriechen. Was auf der anderen Seite wahrscheinlich genau der Grund ist, weshalb man mich keine Sekunde aus den Augen lässt.
Ich schäme mich selbst ein bisschen, dass mir erst eine Stunde später klar wird, dass Row, Gray und Lee alle ihre Vorlesung für mich ausfallen lassen. Das habe ich nicht verlangt und auch nicht verdient, aber ich möchte die Bemühungen wertschätzen. Also lächle ich, lasse mich darauf ein in Need for Speed gegen Lee zu kämpfen, auch wenn meine Niederlage gewiss ist, und esse etwas von dem Nudel-Gemüse-Auflauf, den man mir hinstellt. Ich mache alles mit und es hilft tatsächlich, zumindest bis ich abends nach Hause gefahren werde und mir bewusst wird, dass es nicht länger mein zu Hause sein wird. Genauso wie dieser Tag eine schöne Auszeit vom Alltag war, den ich nie wieder haben werde.
Kein Kaffee von Matt mehr, bevor die Vorlesungen beginnen. Kein Hinfiebern, bis die letzte Stunde vorbei ist und ich ins Fitnessstudio kann. Nie mehr das berauschende Gefühl, wenn ich in die volle Mensa trete und weiß es liegt in meiner Macht, was die anderen von mir denken. Alles was ich mir nach der Schule mühsam aufgebaut habe, um nie wieder das Opfer zu sein, hat mit Carly angefangen zu bröckeln und ist jetzt endgültig in sich zusammengefallen.
All diese Gedanken kreisen in meinem Kopf, als ich mit Row zusammen in meinem Bett liege und eigentlich schlafen sollte. Ich konnte sie nicht überzeugen mich allein zu lassen, aber zumindest hat sie mir versprochen morgen in ihre Vorlesungen zu gehen. Sie soll ihr Leben hier nicht wegen mir vernachlässigen. Das könnte ich mir nicht verzeihen. Wie sie selbst gesagt hat, bisher habe ich zumindest nur mein Leben kaputt gemacht. Das muss ich jetzt nicht auf andere ausdehnen.
„Was ist los Lex? Kannst du nicht schlafen?"
Erschrocken drehe ich mich zu Row um, von der ich dachte, dass sie bereits schläft. Doch sie blinzelt mich müde an und nachdem ich den ganzen Tag kaum ein Wort herausgebracht habe, platzt hier im Schutz der Dunkelheit die eine Frage aus mir heraus, die ich die ganze Zeit verdrängt habe. „Was mache ich jetzt nur Row?"
Meine Stimme kratzt und ich versuche erst gar nicht zu verbergen, wie sehr mir diese Frage Angst bereitet. Row bewegt sich und ihre Antwort lässt etwas auf sich warten. Aber was erwarte ich auch? Keiner wird mir einfach so die Lösung all meiner Probleme sagen können. Und das ist auch von niemandem die Verantwortung, außer von mir.
„Ich kann es dir nicht sagen, Lex. Was willst du denn machen?"
Das ist einfach: ich will weiter in der Illusion leben, die ich mir hier aufgebaut habe. Mit dem Status, den ich mir erkämpft habe, und der Unberührbarkeit, die ich eisern aufrecht erhalte. Ich möchte das Collegeleben von vorne bis hinten auskosten, bis die Erinnerungen an die Schule dahinter verblassen. Und am Ende will ich einen Abschluss, der mir Anerkennung bringt. Ich will einen Beruf von Status, in dem Menschen vor Neid zu mir aufblicken und nie wieder jemand über mich Lachen wird. Aber das kann ich jetzt nicht mehr haben.
„Ich weiß es nicht. Alles was ich immer erreichen wollte ist Status. Nicht mehr das unterste Glied der Nahrungskette sein."
Wieder bleibt es einige Sekunden still, die mir Zeit lassen in Selbstmitleid zu versinken. Ich will mich einfach nur zusammenrollen und in der Zukunftsversion versinken, die ich mir immer gewünscht habe. In dem Gefühl unbesiegbar zu sein. Wenn keiner dir etwas kann, weil du ganz oben bist. Doch als Row letztendlich spricht reißen ihre Worte mich zurück in die Realität.
„Aber das ist doch kein Ziel, Lex. Das hat doch nichts damit zu tun, was du gerne machst oder was dir beruflich liegt. Du machst deine Zukunft zum Mittel um ein Gefühl zu erreichen, das von selbst entsteht, wenn du dir wirklich einmal Gedanken machst, was du willst. Das Leben ist nicht nur Prestige."
Ich antworte nicht, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Mein Leben hat seit Jahren die gleiche Struktur. Ich mache Sport, um dünn zu sein. Ich gehe in meiner Vorlesungen, um einen Job zu haben, in dem ich nicht für andere die Drecksarbeit mache. Ich freunde mich mit den richtigen Menschen an, um Connections zu haben. Mich gut – ja, mich überlegen zu fühlen - ist mein Lebensziel, weil es garantiert, das nie wieder jemand auf mir herumtrampelt. Lieber sterbe ich, als nochmal die unbeliebte fette Kuh zu sein.
„Ich bin nicht wie du Row. Ich habe nicht die eine Sache, die mich begeistert. Mein Ziel ist der Vergangenheit zu entkommen und nach allem was ich durchmachen musste, kann man auch nicht mehr von mir erwarten."
Die Worte sind ehrlicher als alles was ich jemals gesagt habe. Es ist die Wahrheit meines Lebens und ich akzeptiere die traurige Gewissheit, die sich in mir breit macht.
„Vielleicht ist genau das der Fehler." Rows Stimme klingt hart und ich bin so tief in meinen Gedanken versunken, dass es einen Moment braucht, bis zu mir durchdringt, was sie sagt. „Ich will gar nicht klein reden was dir passiert ist. Gott, das ist das letzte was ich will. Aber du kannst mehr von dir erwarten. Du rennst von der Vergangenheit davon, anstatt auf deine Zukunft zu. Dabei könntest du alles machen was du willst, Lex. Unabhängig von dem was die Stimmen der Vergangenheit sagen. Momentan lebst du so, wie sie es dir vorgeben. Du sagst du willst nicht mehr am Ende der Nahrungskette sein? Dann hör auf dich unter die Fuchtel der Meinung anderer zu stellen."
Das sitzt tief und dieses Mal hat es mir wirklich die Stimme verschlagen. Ich kann nur da liegen und in die Dunkelheit starren, während die Worte nachwirken. Vor mir erklingt ein Seufzen und als Row dieses Mal spricht klingt in ihrer Stimme Bedauern mit.
„Es tut mir leid, wenn die Worte zu hart waren. Ich habe nur Angst, dass wenn du nicht jetzt aufwachst und endlich siehst wer du heute bist, anstatt deinem vergangenen Ich zu entfliehen, dass es dann zu spät sein könnte. Du hast viele Stärken, allem voran einen Kopf, der durch die dickste Betonwand kommt. Nicht viele hätten es geschafft die eigene Ernährung und Bewegung so umzustellen wie du. Wenn dein Ziel nicht nur wäre dünner zu werden, sondern gesund zu leben, glaube ich könntest du daraus Großes machen."
Wahrscheinlich sollte ich darauf etwas erwidern. Ihr sagen, dass ich ihre Ehrlichkeit schätze. Aber um ehrlich zu sein bin ich zu schockiert, um das überzeugend sagen zu können. Ich wusste das Row meinen Lebensstil nicht schätzt. Aber mir war nicht bewusst, dass sie es so negativ sieht. So düster und selbstverloren. Dabei beschreibt das doch perfekt, wie ich selbst mein Leben einschätze. Ich habe mich schon lange aufgegeben. Wieso erschrickt es mich also so sehr, es von jemand anderem zu hören?
Als ich nach Minuten immer noch nichts gesagt habe wünscht Row mir bedrückt eine gute Nacht. Doch ich liege noch lange wach und lasse mir die gefallenen Worte durch den Kopf gehen.
Den Mittwoch bin ich größtenteils für mich allein und fange an wie in Trance meine Sachen zusammenzupacken. Silvia war über Nacht nicht da, weshalb ich ihr noch nicht sagen konnte, dass sie bald keine Zimmergenossin mehr haben wird. Ich bezweifle allerdings, dass es sie sonderlich interessiert. Trotzdem fühlt es sich komisch an, als das Zimmer auf meiner Seite kahler wird, während sich meine Koffer füllen. Zudem zwängt es die Frage in den Vordergrund, wo es mit mir hingehen soll. Meine Eltern haben angekündigt, dass sie morgen im Laufe des Tages ankommen werden und ich bin mir sicher, dass sie mich mit nach Hause nehmen wollen. Aber allein der Gedanke lässt in mir Übelkeit aufkommen, also verdränge ich ihn schnell wieder.
Row kommt zum Mittagessen vorbei und ich weiß das liegt vor allem daran, dass sie sich vergewissern will, dass ich auch wirklich etwas esse. So war es schon oft genug, aber dieses Mal fühlt es sich noch schlechter an als sonst. Ich will nicht, dass man mich bemuttern muss. Und nach unserem Gespräch fühlt es sich peinlich an, wie sie mir einen Salat vorsetzt und darauf besteht, dass ich dazu ein Stück Baguette esse. Als wäre ich ein Pflegefall, gelähmt von meiner Vergangenheit. Unbehaglich essen wir zusammen und ich schäme mich, als mir klar wird, dass ich ohne sie wahrscheinlich tatsächlich das Mittagessen ausfallen gelassen hätte. Dabei merke ich, wie die Energie meinem Körper gut tut. Wieso fühle ich mich also schlecht mir selbst das Essen zu gewähren? Row hat Recht, das hat schon lange nichts mehr mit Gesundheit zu tun. Ich habe mich lang genug mit Ernährung beschäftigt, um es besser zu wissen.
Als Row wieder geht bin ich noch nachdenklicher als zuvor. Dabei vermischt sich unser Gespräch von gestern mit Fetzen von Erinnerungen an Sean. Hat er nicht auch gesagt, dass mich das Laufband nicht zu meinen Zielen bringen wird? Dass ich dünn genug bin, mir jedoch Muskeln fehlen? Es ist ein dumpfer Schmerz an ihn zu denken, aber zum ersten Mal seit dem Wochenende habe ich das Gefühl diese Gedanken zulassen zu müssen. Es hat etwas therapeutisches mein Leben der vergangenen zwei Jahre Revue passieren zu lassen, während ich es gleichzeitig in Koffern verstaue. Das Fazit ist ziemlich traurig, vor allem als ich versuche meine Handlungen aus einer neuen Sicht zu sehen. Aus einer Sicht, die mir Row vor Augen geführt hat und leider nur zu gut erklärt, wie ich zuletzt mit Heather bei der Polizei landen konnte. Kann es wirklich sein, dass ich mir andere Ziele setzen kann, als aus dem Schatten der fetten Kuh zu treten? Darf ich wagen nach mehr zu greifen?
Es fühlt sich riskant an. Als würden andere Träume gleichzeitig dazu führen, dass ich wieder die unscheinbare hässliche Alexis von früher werde. Auf der anderen Seite wohin hat mich mein bisheriges Streben gebracht? Ich bin vielleicht durch meine Kurse durchgekommen, aber hervorragend war ich nicht in dem was ich getan habe. Meine miserable Vorbereitung auf das Gespräch mit dem Dekan war Beweis genug. Ich habe die Fächer belegt, weil Jura für mich mit Ruhm verbunden ist. Interesse an den Gesetzparagraphen oder wie man sie auslegen kann, hatte ich über die Prüfungen hinaus jedoch nicht.
Als es Abend wird habe ich mein Leben gedanklich einmal auf den Kopf gestellt und fühle mich verlorener als davor. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich meiner eigenen Einschätzung trauen kann und nachdem Silvia zurückkommt und ich ihr erklärt habe, weshalb das halbe Zimmer leer ist, will ich hier einfach nur noch raus. Wahrscheinlich habe ich es verdient, dass es mir miserabel geht, doch wenn ich meine Eltern morgen irgendwie aushalten will, muss ich jetzt auf andere Gedanken kommen.
Praktischer Weise ist es Mittwoch und so ist eine Idee, wie ich das schaffen kann, nicht weit weg. Row muss ich nicht zweimal fragen, als ich sie auf die Sneak Peak einlade. Allerdings ist sie ausnahmsweise nicht die einzige Person, die ich anschreibe. Gray und Lee haben die letzten Tage so viel für mich gemacht, dass ich mich freue, als die beiden nach dem Training mit uns ins Kino kommen. Zudem schaffen es die zwei Eishockeyspieler tatsächlich, die eher bedrückte Stimmung zwischen Row und mir aufzulockern. Ich lache sogar und davon nicht zu wenig, als Lee mit mir den Film von vorne bis hinten zerreißt. Es ist eine erholsame Pause, die mich als ich ins Bett falle seit langem das erste Mal richtig durchatmen lässt.
Rauskommen war im Vergleich zu in meinem Selbstmitleid zu versauern definitiv die bessere Idee. Allerdings hält das den nächsten Morgen nicht davon ab zu kommen. Pünktlich wie ein Uhrwerk reisen mich meine Albträume seit langem wieder aus dem Schlaf. Dieses Mal schaffen sie es jedoch mich zu überraschen, sodass ich keuchend und nach Luft japsend da liege, nachdem ich mich endlich aus den Fängen des Schlafes winden konnte. Mit aufgerissenen Augen starre ich an die Decke und versuche meine Gedanken zu sortieren. So hart haben sie mich schon lange nicht mehr erwischt, was daran liegen könnte, dass ich nach über einer Woche Frieden wohl unvorsichtig geworden bin. Bedauern macht sich in mir breit, denn ich weiß, dass meine albtraumfreie Zeit viel mit Sean zu tun hatte. Weil er mir eine Sicherheit gegeben hat, die ich so lange nicht mehr kannte. Vielleicht war deswegen dieser Traum auch anders als alle zuvor. Er ist viel verschwommener in meinem Kopf, anders als die Erinnerungen, die mich jahrelang nachts heimgesucht haben. Es war mehr ein Gefühl und unzusammenhängende Bilder gewesen, was die Erfahrung jedoch nur noch intensiver gemacht hat.
Ich war alleine. In meinem Traum war ich völlig alleine. Niemand, der mich hänselt oder fertig macht. All das Gespött hatte ich überwunden. Und doch ging es mir schlechter als jemals zuvor. Denn da war keine Row. Keine Kayla oder auch nur eine Elisa oder Heather. Ich war abgeschottet von jedem, gefangen in einer eisernen Rüstung aus Arroganz und Abweisung. Und ich war selbst schuld daran.
Obwohl ich weiß, dass es nur meine Vorstellung war, die mit mir durchgegangen ist, wird mein Herz schwer. Könnte ich Row wirklich verlieren? Sie ist seit der Schule meine Konstante. Aber es hat sich so viel verändert, sie hat sich verändert. Und das ist absolut nicht negativ gemeint. Sie ist an einem guten Ort angekommen und ist endlich aus dem Teufelskreislauf unserer Vergangenheit raus. Ich weiß, dass sie eine gute Zukunft vor sich haben wird. Egal, ob ich noch in ihrem Leben bin oder nicht. Also was passiert, wenn ich wirklich mit zu meinen Eltern fahren muss? Wenn uns hunderte von Kilometern trennen, während sie voranschreitet und ich in der Vergangenheit versauere?
Ein ungutes Gefühl breitet sich in mir aus und droht mich zu lähmen. Row ist die eine Sache, die ich nicht auch noch verlieren kann. Was soll ich denn ohne sie machen? Mein Hals ist zugeschnürt und ich kralle mich an meiner Decke fest. Der Gedanke allein fühlt sich an wie einen Körperteil von mir zu verlieren. Gleichzeitig fühle ich mich meinem Schicksal ausgeliefert. Was soll ich denn machen, außer fürs erste zu meinen Eltern zu ziehen? Ich brauche ein Dach über den Kopf und habe quasi keine Ersparnisse. Ich bin völlig mittellos, weil einen Job anzunehmen sich immer mit meiner Vorstellung vom College gebissen hat. Ich wollte so viel Zeit und Freiheit wie möglich. Hört sich jetzt im Nachhinein ziemlich dumm an.
Ich liege bestimmt eine Stunde so da, während meine Gedanken nicht aufhören darum zu kreisen. Silvia steht in dieser Zeit auf, macht sich fertig und geht, während ich mich nicht einmal bewegt habe. Mir fehlt der Antrieb. Jede neue Sorge scheint meinen Körper noch schwerer zu machen und mich tiefer in die Kissen zu drücken. Ich versuche mir etwas von der Unbeschwertheit des gestrigen Abends in den Kopf zu rufen, weil ich weiß, dass ich aufstehen muss. Ich darf nicht hier versacken. Und doch schaffe ich es nicht.
Es braucht Row, die gegen Mittag in mein Zimmer platzt, um mich aufzuschrecken. Ein Blick auf mich reicht und das Lächeln auf ihrem Gesicht verblasst. Bestimmt hat ihr der gestrige Abend Hoffnung gemacht. Und jetzt enttäusche ich sie wie so oft damit mich selbst hängen zu lassen. Es tut mir so leid, trotzdem kann ich sie nur anschauen.
Für einen Moment sieht Row verloren aus. Als wüsste sie auch nicht mehr weiter und mein Herz schreit, dass sie mich bitte nicht aufgeben soll. Nicht auch noch sie. Und heute scheine ich noch einmal Glück zu haben. Sie nimmt einen tiefen Atemzug, strafft die Schultern und als sie zu mir kommt, duldet ihre Stimme keinen Widerspruch. „Alexis, du stehst jetzt auf und gehst duschen. Deine Eltern können jede Sekunde hier sein und ich werde nicht zulassen, dass sie dich so sehen."
Ich werde am Arm gepackt und in eine Aufrechte gezogen, was mich schwindeln lässt. Mir entkommt ein kleines Wimmern, aber ich wehre mich nicht, als Row mich auf die Füße zwingt und mir Kleider in die Hand drückt, die sie aus einer der gepackten Koffer zieht. Kurz schießt mir durch den Kopf, dass ich einen anderen Pulli habe, der besser zu der Jeans passt. Aber mein Hals fühlt sich zu trocken an, um Worte herauszubekommen. Stattdessen folge ich Row einfach zu den Duschen und nicke, als sie fragt, ob ich es ab hier alleine schaffe. Es ist beschämend genug, dass sie die Frage für nötig hält.
Im Schneckentempo schäle ich mich aus meinen Klamotten und stelle mich unter den heißen Wasserstrahl. Es ist eigentlich viel zu warm, aber die Hitze bringt das Gefühl in meinen Körper zurück. Also bleibe ich so lange ich kann darunter stehen, wasche mich und nehme einen tiefen Atemzug, bevor ich wieder aus der Dusche steige. Mein Kopf schmerzt, fühlt sich aber trotzdem klarer als davor an und für Row, versuche ich diesen Zustand beizubehalten. Also sehe ich zumindest zurechnungsfähig aus, als ich zu ihr zurück ins Zimmer gehe. Sie macht gerade mein Bett und hat auch sonst einen Teil des Chaoses, das ich gestern beim Packen erzeugt habe, zur Seite geräumt.
Das Wort „Danke" brennt mir auf der Zunge, doch bevor ich es aussprechen kann, lässt meine Klingel Row herumfahren. Auch ich zucke zusammen, was vor allem daran liegt, was jetzt auf mich zu kommt. Als Row mich sieht huscht ein erleichtertes Lächeln über ihr Gesicht und sie drückt meine Hand auf dem Weg an mir vorbei zum Türöffner. „Das nenne ich Timing."
Ja, schlechtes Timing. Von mir aus hätten meine Eltern sich bis heute Abend Zeit lassen können. Aber allem Anschein nach sind sie in aller Frühe aufgebrochen, um jetzt schon hier zu sein. Am liebsten hätte ich mich wieder in meinem Bett versteckt. Stattdessen stelle ich mich neben Row an die Tür und warte darauf, dass meine Eltern die Treppen zu uns heraufgekommen sind.
Man hört die beiden, lange bevor man sie sieht. Mein Vater beginnt ungefähr bei der Hälfte der Treppen an zu fluchen, während meine Mom versucht ihn zu beschwichtigen. Aber so wie ich Dad kenne ist er generell schon so schlecht drauf, dass das vergeudete Lebensmühe ist. Schließlich tauchen sie am Treppenabsatz auf. Zuerst die breite Gestalt meines Vaters, dahinter meine Mom. Mein Magen macht komische Dinge, aber ich behalte eine neutrale Miene auf. Auch als Dad mich anschaut und der Blick schon reicht, dass ich am liebsten im Boden versinken würde. Er ist stinkwütend.
„Hallo ihr zwei, ich hoffe ihr hattet eine gute Fahrt!" Row strahlt über das ganze Gesicht und ich bin dankbar, dass sie die Begrüßung übernommen hat. Ich habe nämlich keine Ahnung wie ich mich verhalten soll. Allerdings scheint mein Vater keine Lust auf Small Talk zu haben.
„Es sind sechs Stunden und das um meine Tochter abzuholen, die vom College geflogen ist. Eine gute Fahrt kann man das wohl nicht nennen."
Ich zucke zusammen und mache wie selbstverständlich Platz, als mein Vater vor mir steht. Neben ihm fühle ich mich lächerlich klein, als wäre ich fünf und hätte richtig Mist gebaut.
Er schaut sich in der leer geräumten Hälfte des Raumes um und nickt am Ende, als wäre er einverstanden mit dem was er sieht.
„Wie ich sehe hast du schon das Meiste gepackt. Dann schaffen wir es heute Abend noch nach Hause zurück."
Warte, was? Stocksteif stehe ich da, während auch Row neben mir der Mund auffällt. Er will noch heute zurückfahren? Keine Ahnung was ich mir gedacht habe. Aber zumindest eine Nacht hatte ich mir hier noch erhofft. Eine Nacht, um eine Wunderlösung zu finden.
„Ihr seid doch gerade erst angekommen. Bleibt doch lieber eine Nacht. Die Fahrt ist viel zu lang um Hin- und Rückweg an einem Tag anzutreten", stottert Row, die von der Ankündigung meines Vaters wohl genauso schockiert ist wie ich.
„Ich bleibe hier nicht länger als nötig. Es war schon schwer genug den heutigen Tag frei zu bekommen. Manche Menschen haben zu arbeiten."
Das geht gegen mich und ich bin zu nichts in der Lage, außer mich so klein wie möglich zu machen.
„Derek, ich bitte dich. Du überfährst die beiden ja gerade zu", schält sich da meine Mutter ein, die anders als ihr Mann nicht direkt in den Raum marschiert ist. Stattdessen hat sie sich zu Row und mir gestellt und legt nun fürsorglich einen Arm um mich. Die Geste ist lieb gemeint, fühlt sich jedoch falsch an. Ich habe es nicht verdient, dass man mich in Schutz nimmt.
„Ich mache klare Ansagen, um Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Man hat ja gesehen in was sich unsere Tochter sonst hineinmanövriert. Sie kommt mit nach Hause. Jetzt."
Panik steigt in mir auf. Nach Hause. So fühlt sich die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin schon lange nicht mehr an.
„Das muss nicht sein. Alexis kann auch eine Zeit bei mir wohnen, bis sie was gefunden hat. Ich habe genug Platz und ihr müsstet euch um nichts kümmern..."
In Rows Stimme klingt die gleiche Verzweiflung mit, die ich in mir fühle. Sie greift nach meiner Hand und ich klammere mich mit allem was ich habe an sie.
„Damit sie weiter verantwortungslos in den Tag rein leben kann?" Mein Vater stößt ein schnaubendes Lachen aus und meine Hoffnung sinkt, auch nur einen Tag rausschlagen zu können.
„Derek!" Meine Mom schlägt einen Tonfall an, den man nur selten bei ihr hört. Danach wird alles wild und durcheinander. Row versucht es weiter mit logischen Argumenten, während mein Vater auf stur schält und nichts an sich heranlässt. Mom will die Wogen glätten, aber dafür ist es schon längst zu spät. Die Worte und Sätze fliegen um mich herum und obwohl es hier um mein Leben geht, bin ich die einzige, die dazu nichts zu sagen hat. Es wird einfach über meinen Kopf hinweg geredet, bis ein Pochen in meiner Schläfe schlimmer und schlimmer wird.
Hört auf. Hört auf. „Hört auf!"
Meine Stimme schneidet durch den Raum und lässt die Diskussion verstummen. Stattdessen schauen alle zu mir, während mein Herz galoppiert und mein Atem mir nur keuchend entkommt. Es ist einfach alles zu viel. Die letzten Tage. Die letzten Monate. Ach, eigentlich mein ganzes Leben.
Ich brauche eine Pause. Das ist der letzte Gedanke, bevor mein Kopf ausschaltet und der Instinkt übernimmt. Ich entreiße mich Moms Griff, drehe um und stürme aus dem Zimmer, nachdem ich im Vorbeigehen mir meine von gestern noch gepackte Tasche gegriffen habe. Die Treppen bin ich wahrscheinlich noch nie schneller runtergerast, während ein Chor aus Stimmen nach mir ruft. Aber ich halte nicht inne. Mir egal, ob mein Vater später nur noch wütender sein wird. Ich brauche Abstand und zwar von allem hier.
Also mache ich das einzige, was sich richtig anfühlt. Ich setze mich in mein Auto, drehe meine Musik auf höchste Lautstärke und fahre. Ich fahre bis ich die Stadt hinter mir gelassen habe und die Häuser Felder und Wiesen weichen. Ich fahre bis die Musik nicht nur ein Dröhnen in meinen Ohren ist, sondern ich Melodie und Text wieder erkenne. Ich fahre bis sich Muskel um Muskel in mir entspannt und die Panik in meinem Kopf Klarheit weicht.
Es ist wie ich es mir vor Wochen gewünscht habe. Die Sonne scheint und auch wenn es etwas frisch ist, kann ich die Fenster runterlassen. Der Wind schmeckt nach besseren Tagen und Freiheit. Und endlich ist da genug Platz in meinem Kopf, um mich dem zu stellen was Row und selbst Sean bereits gesagt haben. Wer bin ich? Und noch viel wichtiger: Wer will ich sein?
Als ich Stunden später zum Wohnheim zurückkehre habe ich vielleicht noch nicht die Antwort oder den perfekten Plan. Aber eins weiß ich ganz genau: Hier ist mein zu Hause und ich werde den Teufel tun und mit meinen Eltern zurückfahren.
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