Kapitel 32


Ich schaffe es nicht am Montag in meine Vorlesungen zu gehen. Wahrscheinlich hätte ich meine letzte Chance dazu genießen sollen, bevor man mich in hohem Bogen von dem College wirft, aber auch nur daran zu denken mich zu bewegen hört sich wie ein Marathon an. Also bleibe ich liegen genauso wie gestern Abend und die ganze Nacht. Dabei krampft mein Magen inzwischen vor Hunger und jeder andere hätte sich wahrscheinlich die Pizza geholt. Aber ich genieße das Gefühl. Die Leere und das Ziehen. Sie erinnern mich daran, dass es zumindest eine Sache gibt über die ich Kontrolle habe. Die mich unterscheidet von meinem früheren dicken Ich.

Wie so oft ziehen Erinnerungen in meinem Kopf vorbei und je länger ich im halbdämmrigen Zustand daliege, desto mehr vermischt sich Vergangenheit mit Gegenwart. Irgendwann ist es Seans Stimme, die mich Fette Kuh schimpft. Er ist es, der mich in der siebten Klasse auf ein Date einlädt, um mir am Ende mit all seinen Freunden eine Falle zu stellen. Er ist es, der mich an meine Wertlosigkeit erinnert. Ein zerbrochener Scherbenhaufen. Es ist wie eine Dauerbeschallung meines Unterbewusstseins und mir fehlt selbst die Energie dafür, darunter zu leiden. Stattdessen lasse ich es einfach auf mich einprasseln, verliere mich in meinem Hunger, der sich besser anfühlt als die Erkenntnis wie sehr ich mein Leben vermasselt habe, und hoffe, dass die Leere bald alles verschlingt. Mich verschlingt.

Irgendwann platzt Row in mein Zimmer. Silvia ist schon lange weg, was heißt dass es wahrscheinlich Mittag ist, und obwohl ich mich Frage, was meine beste Freundin hier macht, schaffe ich es kaum den Kopf zu heben. Row sieht mehr als nur besorgt aus, als sie ins Zimmer tritt und sich umschaut. Ich weiß, dass sie mit mir redet, während sie ihre Tasche abstellt, einen prüfenden Blick in den Pizzakarton wirft und die Schultern hängen lässt, doch was sie sagt bekomme ich nicht mit. Sie ist enttäuscht und das tut mir Leid. Es gesellt sich zu den vielen Dingen, die mir leid tun.

Danach ist sie neben mir, zwingt mich in die Aufrechte und droht mir mit allerlei, wenn ich nicht etwas von dem esse, was sie mir mitgebracht hat. Also lasse ich mich darauf ein, auch wenn alles nach Pappe schmeckt. Ich schiebe Biss für Biss mechanisch in mich, bis Row zufrieden wirkt. Ich weiß, davor wäre sie niemals gegangen. Selbst jetzt wirkt sie nicht, als würde sie gehen wollen, obwohl ich genau mitbekomme, dass sie immer wieder einen Blick auf ihre Uhr wirft. Bestimmt fängt bald ihre Vorlesung an und ich rechne es ihr hoch an, dass sie trotzdem hier ist. Sie ist eine viel bessere Freundin, als ich es verdient habe. Also mobilisiere ich meine letzten Kraftreserven und unterhalte mich mit ihr. Ich verspreche an mein Handy zu gehen und was zu essen, bis die steile Sorgenfalte auf ihrer Stirn sich glättet. Das ist gut. Sie soll sich keine Sorgen machen und erst Recht nichts von ihrem Studium verpassen, um mich zu umsorgen. Sie hat eine so strahlende Zukunft vor sich. Und ich bin der Stein an ihrem Bein. Das will ich nicht. Ich war lang genug egoistisch und habe sie mit mir runtergezogen. Jetzt kann ich zumindest eine Sache für sie tun und so lange Lächeln, bis sie aus der Haustür ist. Damit sie ihr Leben lebt.

Der Gedanke treibt mich an und obwohl das Lächeln auf meinem Gesicht nicht echt ist, haucht es mir ein bisschen Leben ein. Ich berühre zwar nichts von den Snacks, die Row mir dagelassen hat, aber zumindest komme ich meinem Versprechen nach und nehme mein Handy mit, als ich mich zurück ins Bett lege.

Mir ist gar nicht aufgefallen, wie viele verpasste Anrufe ich habe. Von Row und meinen Eltern. Vielleicht weil ich es auch gar nicht wissen wollte. Aber ich weiß, dass ich das Gespräch mit meinen Eltern nicht herauszögern kann. Sie haben eine Antwort darauf verdient, weshalb sie ihre Tochter an einem Sonntagmorgen aus dem Polizeigewahrsam holen müssen. Ich bin selbst Schuld an meiner Lage. Zumindest eine Erklärung sollte ich abliefern können.

Also rufe ich zurück, auch wenn mein ganzer Körper dagegen rebelliert. Es ist die schlimmste Stunde meines Lebens den beiden bis ins kleinste Detail zu erzählen was passiert ist. Natürlich lasse ich Sean außen vor. Er hat mit dem Ganzen nichts zu tun, immerhin war es meine bewusste Entscheidung ins Auto einzusteigen, genauso wie es meine bewusste Entscheidung war, Heather ins Stadion hinterherzulaufen. Mein Vater ist außer sich vor Wut. So hat er seine Tochter nicht erzogen. Nicht so dumm und unverantwortlich. Die Beleidigungen prallen an mir ab, wahrscheinlich weil ich jeden seiner Vorwürfe schon selbst gedacht habe. Er hat mit jedem Wort Recht, wieso sollte ich mich also dagegen wehren? Meine Mom versucht trotzdem dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Sie redet davon, dass wir schon alles wieder hinbekommen und ich stimme ihr zu, auch wenn ich es keine Sekunde glaube. Wenn sie denken es wird alles gut, ist dieses Gespräch vielleicht schneller beendet. Und tatsächlich zerrt meine Mom schließlich Dad vom Hörer. Ich soll ihnen Bescheid geben, wenn das College sich bei mir meldet. Sie lieben mich und werden sich informieren, was zu machen ist. Meine Antwort besteht aus einem „Alles klar", bevor ich dankbar auf den roten Hörer drücke.

Danach sitze ich mehrere Minuten wie erstarrt da. Ich würde gern behaupten, dass ich mir Gedanken über meine Zukunft mache und wie es weitergehen könnte. Aber um ehrlich zu sein ist mein Kopf wie leer gefegt. Ich starre einfach Löcher in die Luft, bis mein Handy einen Ton von sich gibt. Da ich nicht will, dass Row in fünf Minuten wieder vor meiner Tür steht, gehe ich direkt dran, muss jedoch überrascht feststellen, dass es gar nicht sie ist.

Es ist eine Insta-Benachrichtigung und kurz flammt Panik in mir auf. Es ist wie ein Flashback zu dem Tag, als Carly mich in ihrem ersten Schmutzpost markiert hat und es dauert Sekunden, bis ich wirklich registriere was da auf meinem Handy steht. Es ist eine Direktnachricht und verwirrt gehe auf das dazugehörige Profil. Es ist der gleiche Lockenkopf, der mit schon gestern auf WhatsApp entgegen gelächelt hat und auch wenn ich genervt schnaube, schleicht sich Neugierde unter meine Taubheit.

Ich klicke auf das Reel, das er mir zugesendet hat, und lasse es bestimmt drei Mal laufen, bis mein Körper darauf reagiert. Das Video zeigt eine kleine Robbe die in SlowMo niest. Mehr nicht. Und trotzdem steigt aus meinen Tiefen ein Lachen empor, als sich das Video wieder und wieder abspielt. Es ist so sinnbefreit, so bedeutungslos und doch das herrlichste, das ich gefühlt seit Jahren gesehen habe. Also lache ich. Ich lache bis das schwere Gewicht, das mich zu erdrücken droht, etwas leichter geworden ist.

Mit einem Doppelklick like ich die Nachricht im Chat und will schon vom Robben-Video aus weiter durch die Reels scrollen, als mich drei Punkte, die angeben, dass Lee schreibt, innehalten lassen. Kurz darauf fliegt bei mir eine weitere Nachricht ein, die aus einem Daumen nach oben und einem Daumen nach unten mit einem Fragezeichen dahinter besteht. Die Nachricht überrascht mich und macht mir erst bewusst, was Lee geschafft hat. Ich bin kein Zombie mehr und werde trotzdem nicht von Scham und Schuld überrollt. Es ist wie das Auge des Sturms. Eine kleine ruhige Oase und ich wünschte ich könnte meine Dankbarkeit mit mehr als einem Daumen nach oben ausdrücken.

Aber der scheint Lee zu reichen, denn kaum dass mein Emoji ihn erreicht hat werde ich überflutet von süßen Tier-Reels. Mit jedem neuen wird das Lächeln auf meinem Gesicht breiter und manchmal lache ich Tränen so knuffig sind die Hunde, Katzen und Co. Um Lee etwas entgegenzusetzen, fange ich irgendwann ebenfalls an Videos rauszusuchen und unser Chat wird zum Kriegsgebiet. Es ist kindisch und wahrscheinlich sollte ich in Anbetracht meiner Situation anderes tun. Aber es ist auch heilsam. So heilsam, dass ich dieses Mal die Pizza anrühre, als der Pizzabote von gestern am Abend erneut vor meiner Tür steht. Und so heilsam, dass ich mich am aller meisten dafür schäme, Lee die letzten Monate abblitzen gelassen zu haben.

Keine Ahnung wieso, aber noch bevor der Dienstagmorgen richtig hereinbricht, weiß ich, dass es heute so weit ist. Es ist ein Gefühl in mir und auch wenn es gelogen wäre zu sagen, ich bin vorbereitet darauf, habe ich die Energie aufzustehen. Ich schaue mir die letzten Videos an, die mir Lee gestern geschickt hat, als ich schon eingeschlafen war, und die putzigen Tierchen geben mir den Antrieb aus dem Bett zu steigen. Ich greife in meinem Schrank zu einer schlichten Jeans und dem weitesten Strickpulli den ich habe, gehe zu den Duschen und mache mich fertig. Trotzdem bin ich dankbar dabei für mich zu sein. Es ist bereits nach neun, was heißt das alle in ihren Vorlesungen sind und ich niemandem die Stirn bieten muss. Es ist okay, dass ich völlig fertig aussehe, auch nachdem ich mich geschminkt habe. Und es ist auch okay, dass meine Beine unter mir nachgeben, als der gefürchtete Anruf kommt. 14 Uhr im Büro des Dekans. Viel mehr wird mir nicht gesagt, was meiner Fantasie den Platz lässt sich das schlimmste auszumalen. Wird die Polizei dort sein? Könnte es passieren, dass sie mich erneut mitnehmen?

Den Kopf in den Händen vergraben hocke ich auf dem Boden vor den Waschbecken und atme einige Male zittrig durch. Egal was passiert, ich habe mir das selbst eingebrockt. Jetzt muss ich die Suppe auch wieder auslöffeln. Leider hilft das nicht viel dagegen, wie scheiße ich mich fühle. Die bleierne Schwere kehrt in meine Gliedmaßen zurück und ich beeile mich auf mein Zimmer zu kommen, bevor ich es nicht mehr schaffe. Ich hasse es, dass ich so schwach bin. Dass ich mich am liebsten wieder im Bett vergraben hätte. Und am meisten hasse ich, dass ich Row brauche, um das Ganze durchzustehen. Sie ist mit meinen Eltern die einzige, der ich von der Vorladung erzähle und ich weiß nicht ob ich mich mehr schäme oder ihr dankbar bin, als sie sofort schreibt, dass sie mich begleitet. Es ist so erbärmlich, aber auf der anderen Seite bin ich mir nicht sicher, ob ich alleine auch nur den Weg dorthin bewältigen könnte.

In der Hoffnung wie gestern Ablenkung zu finden scrolle ich den ganzen Vormittag durch Insta, aber leider besteht mein Feed größtenteils aus Models, deren Anblick mich nur noch tiefer runterzieht. Diese Frauen haben alles erreicht. Erfolg, Anerkennung. So wollte ich immer sein. Stattdessen habe ich mein Leben gegen die Wand gefahren. Es ist wie Folter sich Bild für Bild anzuschauen und doch dauert es Ewigkeiten, bis ich es schaffe das Handy zur Seite zu legen und stattdessen wieder Löcher in die Luft zu starren.

Warten ist das schlimmste. Man weiß was kommt und muss trotzdem die Zeit absitzen, während die Nervosität steigt und steigt. Normalerweise wäre ich jetzt wohl ins Gym gegangen. Wäre gelaufen, bis für all meine Probleme kein Platz mehr in meinem Kopf ist. Aber allein der Gedanke ans Fitnessstudio lässt mir alle Haare zu Berge stehen. Es ist für mich so unweigerlich mit Sean verbunden, dass ich nicht einmal weiß, ob ich jemals wieder einen Schritt dort hineinsetzen kann. Nicht ohne daran zu denken, wie es mit ihm war und das halte ich nicht aus. Also bleibe ich in meinem Wohnheimzimmer, während der Zeiger auf der Uhr Minute um Minute vorkriecht, und denke an erstaunlich wenig.

Erst Row, die mich auf dem Handy anruft, reißt mich aus dieser Starre. Ich zucke zusammen und werde mir erst darüber bewusst, dass es halb zwei ist, als ich den Anruf entgegennehme.

„Ja?"

„Hey, wir sind da."

Ich wusste nicht, dass ich einen Fahrservice bekomme, noch das noch jemand anderes als Row da sein würde. Aber es ist mir egal. Wahrscheinlich hätte es mich letzte Woche noch gekümmert, wer mich so sieht. Jetzt glaube ich, ist sowieso alles verloren. Es würde mich wundern, wenn der Einbruch nicht bereits seinen Weg in die Gerüchteküche gefunden hat. Also antworte ich nur mit einem kurzen Okay, schmeiße das Nötigste in meine Handtasche rein und komme mir vor wie auf dem Weg zur Beichte. Was irgendwie auch ein passender Vergleich ist. Ich befürchte der Dekan wird nur nicht ganz so vergebend sein wie Gott.

Mein Magen ist zu einem festen Knoten zusammengeballt als ich die Treppe runter und raus in die Sonne trete. Die Helligkeit lässt mich blinzeln und irgendwie will der strahlende Sonnenschein nicht zu dem passen, was mich erwartet. Das Wetter ist seit Monaten endlich wieder gut, so wie ich es mir die ganze Zeit gewünscht habe. Und trotzdem kann ich mich nicht darüber freuen. Ich senke nur den Kopf, um nicht mehr frontal in das Licht zu schauen und beeile mich dann zu Grays inzwischen vertrauten Jeep zu eilen. Er steht mit heruntergelassenen Fenstern am Bordstein und ein Blick verrät mir, dass Rows wir sie, Gray und Lee einschließt. Wow, habe ich jetzt sowas wie meinen eigenen Fanclub?

Der Gedanke ist unangebracht und gemein. Denn um ehrlich zu sein bin ich mehr als nur dankbar, als ich in den Jeep klettere und von freundlichen Gesichtern begrüßt werde. Ich weiß nur nicht anders mit der Situation umzugehen.

„Hi." Ich versuche mich an einem Lächeln, das durch meine Nervosität aber etwas zittrig ausfällt. Mit dem Auto dauert es keine zehn Minuten zu den Verwaltungsgebäuden des Colleges.

„Hey." Row dreht sich vom Beifahrersitz zu mir um und drückt mir aufmunternd die Hand. Es hilft nicht viel, trotzdem ist es ein schönes Gefühl. Sobald Gray jedoch den Motor startet, muss sie sich wieder nach vorne drehen und meine Nervosität schlägt langsam in Panik um. Oh Gott. Was soll ich eigentlich dem Dekan sagen? Gibt es irgendetwas, das die ganze Situation besser machen kann? Mir fällt zumindest nichts ein und mit einem Mal wünschte ich, ich hätte die Zeit gestern und heute genutzt. So sitze ich mit leeren Händen da. Eine schlechtere Jura Studentin als mich kann es kaum geben.

„Ich hab was für dich." Ein Becher stößt an meine Hände, die unruhig über meine Oberschenkel gefahren sind, und überrascht schaue ich zu Lee, der neben mir sitzt. Das übliche Lächeln ziert sein Gesicht und wenn ich nur ihn anschaue, kann ich mir fast einbilden, das alles normal ist. Allerdings versucht Lee meine Aufmerksamkeit auf den Becher in seinen Händen zu ziehen und es dauert einen Moment, bis ich Matts Handschrift auf dem Kaffeebecher erkenne.

„Du hast...", zu ungläubig, um zu wissen was ich eigentlich sagen will, starre ich einfach auf das Getränk und kann nicht fassen, dass Lee sich die Mühe gemacht hat. Es ist ein fettarmer Caramel-Latte und auch wenn Matt sich eindeutig nicht so viel Mühe bei diesem Becher gegeben hat, wie wenn ich bei ihm bestelle, bin ich unheimlich gerührt von der Geste.

„Er ist Koffein frei. Ich habe mir gedacht, wir müssen dich nicht hibbeliger machen als nötig."

Ein Zwinkern schwingt in Lees Stimme mit und als ich dieses Mal zu ihm auf schaue, muss ich an mich halten, ihm nicht um den Hals zu fallen. Stattdessen nehme ich ehrfürchtig den Kaffee entgegen und hauche ein leises „Danke". Mehr bekomme ich nicht zustande und es ist Lee hoch anzurechnen, dass er es erfolgreich geschafft hat mich von dem mir Bevorstehenden abzulenken. Die Panik ist weniger geworden und wann auch immer sich die Enge in meiner Brust wieder einstellen will, nehme ich einfach einen Schluck Kaffee.

Das funktioniert ganz gut bis der Kaffee leer ist und wir vor einem großen sandsteinfarbenen Gebäude halten. Es ist das älteste Gebäude auf dem Campus mit einer breiten Treppe, die zu einem großen Portal führt, und Stuck an der Fassade. Bereits dieser Anblick flößt Respekt ein und während ich heftig schlucken muss stellt sich mir die Frage, ob das Absicht ist. Mich lässt es auf jeden Fall fügsam werden.

„Soll ich mit reinkommen?"

Row hat sich wieder zu mir umgedreht, doch auch wenn mir das Herz bis zum Hals schlägt, muss ich das ab hier selbst durchstehen. Also schüttle ich nur den Kopf und öffne mit zittrigen Händen die Autotür. Mein Gehirn fühlt sich wie leergefegt an und ich weiß nicht Mal ansatzweise, wie ich mich gleich vor dem Dekan rechtfertigen soll. Das kann man mir wahrscheinlich ansehen, denn Gray halt mich mit einem „Hey Alexis" auf, gerade als ich die Füße auf die Straße setze.

Ich hebe den Blick und werde von einem sanften Lächeln begrüßt. „Egal was da drin passiert, wir werden danach hier auf dich warten."

Das Alles wird gut schwingt in seiner Stimme mit, so ganz daran glauben kann ich daran gerade jedoch nicht. Ich versuche mich an einem schrägen Lächeln, es fällt aber eher erbärmlich aus. „Danke, dass ihr alle mitgekommen seid." Dann werfe ich einen letzten Blick zu Row, die versucht ihre Besorgnis mit einem Lächeln zu kaschieren. Aber das wäre gar nicht notwendig. Ich weiß, wie schlecht es für mich aussieht.

Mit einem tiefen Atemzug drehe ich mich um und zwinge mich die Treppe hinauf. Das kurze Gespräch hat geholfen, doch jetzt schlägt die Nervosität in einer Welle über mir zusammen. Mein ganzer Körper prickelt, während sich meine Handflächen klamm und kalt anfühlen. Doch ich gehe weiter und schaffe es auch irgendwie am Empfangsschalter nach dem Büro des Dekans zu fragen. Die Frau dahinter schaut mich über ihre Brille hinweg auf eine Art an, die mir das Gefühl gibt, als wüsste sie ganz genau, weshalb ich hier bin. Vielleicht tut sie das auch. Ich bin mir sicher allzu regelmäßig werden keine Studenten zum Dekan vorgeladen. Das gibt mir allerdings kein besseres Gefühl.

Ich werde ins zweite Obergeschoss geschickt und bei Gott, so zittrig haben sich meine Knie noch nicht Mal nach dem Training mit Sean angefühlt. Sean... keine Ahnung wieso ich ausgerechnet jetzt an ihn denken muss. Vielleicht ist es meine Art mich abzulenken. Allerdings findet das mein Herz gar nicht witzig. Stattdessen zieht es sich schmerzhaft zusammen und auch wenn der Gedanke kindisch ist, fühlt es sich so an als wäre alles nur halb so schlimm, wenn er draußen auf mich warten würde. Wenn ich wüsste, dass ich mich einfach in seinen Arme fallen lassen und die Welt vergessen könnte.

Aber das kann ich nicht und ich sollte dankbar für die Menschen sein, die wirklich draußen auf mich warten. Zumindest meinem Kopf ist das bewusst.

Oben angekommen geht es einen langen Flur runter, bevor ein kleines Sekretariat das Dekansbüro vom direkten Zugang trennt. Spätestens hier bin ich wohl bekannt, denn die Sekretärin schaut mich kaum an, da schickt sie mich schon zu einem kleinen Wartebereich mit der Info, das man mich abholen wird. Also sitze ich wieder herum, nur das ich dieses Mal kaum still sitzen kann. Stattdessen wippt ein Knie die ganze Zeit auf und ab, während meine Gedanken rasen.

Wie bekannt ist der Vorfall eigentlich inzwischen? Ich war den vergangenen Tag so versunken in meinem Loch, dass ich nicht einmal weiß, ob darüber in den Nachrichten berichtet wurde. Oder wie es Heather geht. Eigentlich weiß ich nicht Mal, ob Anklage erhoben wurde und der Gedanke wie blind ich in dieses Gespräch rein gehe, erweckt Übelkeit in mir.

Aber jetzt kann ich auch nichts mehr daran ändern. Gerade als ich nach meinem Handy greifen will, um zumindest ein paar dieser Fragen zu klären, taucht eine vertraute Gestalt im Sekretariat auf, während zugleich die Tür zum Dekansbüro aufgeht.

Den Mund bereits geöffnet, um nach Heather zu rufen, die sich bei der Sekretärin anmeldet, springt mein Blick zum Dekan, dessen Gesichtsausdruck mich zum verstummen bringt. Ich habe unseren Dekan bisher nur bei öffentlichen Ansprachen zu Gesicht bekommen. Damals kam er mir auf der Bühne immer klein vor. Doch in seinem dunkelgrauen Anzug, mit dem gepflegten Vollbart, der von grau und schwarz durchzogen ist, und den streng geschnittenen Gesichtszügen wirkt er Angesicht zu Angesicht verdammt groß und respekteinflößend. Die Tatsache, dass er über meine Zukunft bestimmen kann, mindert diesen Eindruck auch nicht gerade.

„Ms. Denver und Ms. van Raven, Sie können direkt mit mir mitkommen."

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Heather ähnlich blass aussieht wie ich und auch wenn ich selbst keine Zuversicht habe, versuche ich ihr aufmunternd zuzulächeln. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht, dass wir zusammen vorgeladen werden könnten. Doch es hat etwas beruhigendes nicht allein in das Büro treten zu müssen, auch wenn Heather mich kaum ansieht.

Der Raum schreit nach Tradition und altem Geld. In der Mitte steht ein massiver Holzschreibtisch, hinter dem Regale voller Bücher stehen. In einer Ecke gibt es zwei Ledersessel und ich wünschte, wir würden uns dort reinlümmeln, anstatt am Schreibtisch Platz zu nehmen. Allerdings geht es hier wohl kaum darum, uns ein wohliges Gefühl zu vermitteln.

Mit Staunen lasse ich meinen Blick über die Gemälde und Bücher an der Wand streifen. Es sieht genau so aus wie ich mir ein Dekansbüro vorstelle. Leider führt das jedoch zu noch mehr Ehrfurcht in mir, während mein Selbstbewusstsein kleiner und kleiner wird.

„Setzen."

Das Wort schneidet durch die Luft und lässt mich zusammenzucken. Mir ist vor lauter staunen gar nicht aufgefallen, dass der Dekan bereits auf einem imposanten Sessel hinter dem Schreibtisch Platz genommen hat. Heather ging es wohl ähnlich, denn auch sie zieht die Schultern hoch und beeilt sich der Aufforderung nachzukommen. Dabei schaut sie mir wohl zum ersten Mal direkt in die Augen und wenn mir die Schuld genauso ins Gesicht geschrieben steht wie ihr, wird das ein kurzes Gespräch.

Es bleibt einige Sekunden still, während der Dekan uns einfach nur mustert. Ich habe die Hände im Schoß gefalten und umklammere sie gegenseitig so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. Dabei rauscht mir das Blut in den Ohren so laut, dass ich seine Lippen genau im Blick halte, um nicht zu verpassen, wenn er etwas sagt.

„Ich glaube, ich muss Ihnen nicht erklären, weshalb Sie hier sind."

Wohl kaum. Trotzdem schiebt uns der Dekan zur Erinnerung eine Tageszeitung unter die Nase und mein Magen verkrampft sich, als ich die Schlagzeile lese.

Party, Drogen und Einbruch – gelangweilte Studentinnen oder verzogene Gören?

Ich überfliege die ersten Zeilen und auch wenn mich das schlechte Gewissen weiter fest im Griff hat, regt sich bei dem reißerischen Artikel erster Widerwille in mir. Erstens stand ich nicht unter Drogeneinfluss. Und zweitens hört sich das ja so an als wären wir chronisch unterfordert und hätten nichts besseres zu tun, als irgendwo einzusteigen.

„Das ist aber so nicht ganz korrekt. Wir..."

„Es ist mir egal, ob das nicht ganz der Wahrheit entspricht." Die Stimme des Dekans ist so scharf, dass ich erneut zusammenzucke und mir auf die Zunge beiße. Es brennt und schmeckt nach Eisen, aber der Schmerz ist eine willkommene Ablenkung. „Es ist was die Öffentlichkeit liest und glaubt. Wir sind vielleicht nicht Harvard, aber der Ruf dieses Colleges ist trotzdem meine erste Priorität. Und Sie haben ziemlichen Mist gebaut."

Es wird erneut still und ich weiß nicht was ich sagen soll. Mich entschuldigen? Mich erklären? Letztendlich ist es Heather, die sich zu Wort meldet.

„Das ist uns bewusst, Sir und es gibt wohl nichts, um das wieder gut zu machen. Mir war in dieser Nacht nicht klar, was für Konsequenzen es haben würde, als ich merkte, dass die Tür unverschlossen war. Ich kann zu unserer Verteidigung nur sagen, dass es zu keiner Sachbeschädigung kam und wir nur in das Gebäude hineingelaufen sind."

Heathers Stimme klingt beeindruckend ruhig. Allem Anschein hat sie sich besser vorbereitet als ich und auch wenn ich gerne korrigiert hätte, dass ich ihr nur hinterhergelaufen bin, bin ich dankbar, dass sie zumindest Partei ergriffen hat. Allerdings scheint das den Dekan wenig zu überzeugen.

„Dass Sie sich der Konsequenzen nicht bewusst waren, wundert mich nicht bei dem Drogen-Cocktail, den man in Ihrem Blut gefunden hat."

Der sitzt tief. Heather zieht die Schultern noch etwas höher und hat nichts mehr zu erwidern.

Der Dekan nimmt einen tiefen Atemzug, als würde er sich selbst zu Ruhe ermahnen. Als er darauf fortfährt klingt er wieder etwas gehaltener.

„Aber Sie haben Recht. Es ist zu Ihrem Glück, dass nichts beschädigt wurde und die offene Tür ein massives Sicherheitsleck war. Wir haben daher davon abgesehen Anzeige zu erstatten."

Das hört sich überraschend gut an. Ich kann meinen Ohren kaum glauben und auch Heather stößt ein erleichtertes Seufzen aus. Vielleicht wird ja doch alles...

„Trotzdem", die Hoffnung, die sich in mir gebildet hat zerspringt in tausend Scherben. „können wir ein solches Verhalten an diesem College nicht dulden. Sie werden beide mit sofortiger Wirkung suspendiert."

Die Worte kommen so unvermittelt, dass sie mich unvorbereitet erwischen, obwohl ich es doch schon die ganze Zeit befürchtet habe. Ich sitze da wie in Schockstarre und kann nur dem Echo in meinem Kopf lauschen. Keine Anzeige. Mit sofortiger Wirkung suspendiert.

„Was?! Nein, das können Sie nicht machen! Meine Eltern zählen darauf, dass ich diesen Abschluss mache. Ich..."

„Ms van Raven, das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor Sie in ein vom College finanziertes Gebäude einsteigen."

Die Stimme des Dekans erlaubt keinen Widerspruch und während Heather verstummt breitet sich bei mir der Schrecken aus. Meine Eltern haben bereits alles Erspartes in diese Ausbildung gesteckt. Ich bezweifle, dass sie mir ein Studium noch einmal von vorne finanzieren können. Geschweige denn wollen. Ich schlucke hart und denke an die langen Diskussionen zurück, die nötig waren, damit meine Eltern mich überhaupt herlassen. Ich wollte immer mehr erreichen. Einen Job mit Ansehen. Und jetzt habe ich meine Chance darauf verspielt.

Meine Hände zittern und ich verschränke sie noch etwas fester ineinander.

Heather neben mir nimmt einen tiefen Atemzug. Danach spricht sie mit so ruhiger Stimme, als hätte sie ihr Schicksal akzeptiert. „Da haben Sie Recht. Meine Handlungen waren verantwortungslos und inakzeptabel. Aber Alexis hat nichts falsch gemacht, außer mich von noch größeren Dummheiten abbringen zu wollen. Geben Sie zumindest ihr eine zweite Chance."

Mein Blick fährt überrascht zu ihr herum, doch Heather schaut stoisch zum Dekan. Dieser lässt langsam den Blick von ihr zu mir gleiten und ich merke wie mein Gesicht unter der genauen Musterung heiß wird. Bitte Gott. Bitte sei mir einmal gnädig. Doch letztendlich schüttelt der Dekan den Kopf.

„Ich habe die Polizeiberichte durchaus gelesen und weiß, welche Angaben Sie beide gemacht haben. Sollte Ms Denver tatsächlich nur Ihretwegen in das Gebäude reingegangen sein, so sollte Sie das nächste Mal früher eingreifen, anstatt erst wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Wir können nicht nachprüfen, was an diesem Abend genau passiert ist. Noch wird es etwas an den Nachrichten verändern, die von zwei Studentinnen sprechen. So Leid es mir also für Sie beide tut, der Entschluss ist gefallen."

Ich höre geradezu den Hammer im Gericht fallen und mein Herz sinkt. Auch Heather scheint unser Schicksal endgültig akzeptiert zu haben. Sie sitzt da als hätte man einer Marionette alle Schnüre durchgeschnitten, während der Dekan die Formalien runterrattert. Wir haben innerhalb einer Woche aus dem Wohnheim auszuziehen. Die Vorlesungen dürfen wir mit sofortiger Wirkung nicht mehr besuchen. Alle Prüfungsleistungen werden uns aberkannt. Und, und, und. Ich glaube die Hälfte nehme ich gar nicht richtig wahr, so sehr sind meine Gedanken in einem Karussell gefangen. Ich werde keinen Abschluss machen. Keine Anwältin werden. Das wenige, was ich mir von meiner Zukunft vorstellen konnte, verblasst und hinterlässt ein großes schwarzes Loch.

Als wir schließlich vom Dekan entlassen werden ist wahrscheinlich geradeso eine halbe Stunde vorbei. Trotzdem hat sich in meinem Leben alles verändert. Weder Heather noch ich reden bis wir am Portal des Gebäudes stehen. Ich glaube wir sind beide zu sehr unter Schock. Außerdem, was soll man schon sagen? Mir fällt zumindest nichts ein.

Allerdings hält Heather mich an der Schulter zurück, gerade als ich raustreten will. Zu erschöpft von allem was passiert ist, um überrascht zu sein, drehe ich mich halbherzig zu ihr um. Jedoch habe ich nicht damit gerechnet, dass sie mich mit Tränen in den Augen anschaut.

„Alexis, es tut mir so leid." Mit einem zittrigen Atemzug lässt Heather ihre Hand fallen und nun bin ich doch erstaunt.

„Ich wollte nicht, dass das alles passiert. Ich habe einfach nicht nachgedacht, als ich gemerkt habe, dass die Tür unverschlossen ist. Ich war einfach..." Wieder muss Heather mit einem tiefen Atemzug ihre Stimme davon abhalten zu brechen. „ich war total auf Drogen und habe dich mit in mein Loch gezogen. Es tut mir Leid. Ich wünschte ich hätte den Dekan überzeugen können zumindest dich zu verschonen. Ich wünschte, ich wäre erst gar nicht in das Eishockeystadion rein."

Ein freudloses Lachen entkommt ihr und der verzweifelte Unterton darin lässt Mitleid in mir aufkommen. Lächerlich, immerhin bin ich in der gleichen Situation wie sie. Und es wäre gelogen zu sagen, dass ich mir noch kein einziges Mal gedacht habe, ich hätte Heather nicht hinterher gehen sollen. Oder noch besser, sie hätte niemals auf diese dumme Idee kommen sollen. Trotzdem tut es mir leid, denn aus ihrer Stimme sprechen Selbstvorwürfe, die einen zerfressen.

„Heather, hör auf damit." Nun werde ich überrascht angeschaut und auch wenn ich es nicht über das Herz bringe zu lächeln, greife ich kurz nach ihrem Arm und drücke ihn. „Es war meine Entscheidung dir zu folgen und dafür kann ich gerade stehen. Beschäftige dich mit deinem Leben und Lastern, aber lade dir nicht auch noch meine auf."

Mehr habe ich nicht zu sagen und als ich mich dieses Mal umdrehe und durch die Tür trete, werde ich nicht aufgehalten. Wie schon zuvor blinzele ich in die Sonne und brauche einige Sekunden, bis sich meine Augen an das Licht gewöhnt haben. Und erschreckender Weise sieht die Welt dann genauso aus wie sonst auch immer. Einige Studenten eilen auf dem Weg vorbei, um es noch rechtzeitig zur Vorlesung zu schaffen. Die Sonne blitzt durch kahle Bäume und ein Auto wartet am Straßenrand. Es ist alles wie zuvor. Nur mein Leben hat sich verändert.

Mit schwerem Herzen gehe ich die Treppenstufen hinunter auf Grays Jeeps zu. Row springt raus, bevor ich das Auto erreicht habe, und auch wenn sie es nicht laut ausspricht fragen ihre Augen: „Und?"

Tja, was und? Ich wurde vom College geschmissen, habe meine Zukunft zerstört und sollte mir wahrscheinlich dringend einen Alternativplan suchen. Allerdings ist mein Kopf zu nichts anderem fähig als in einer Tour „fuck, fuck, fuck" zu denken.

Oh Gott, ich muss mir wirklich Gedanken machen, wie es jetzt weitergehen soll. Ich brauche eine neue Wohnung. Einen Job. Und eine Idee, was ich aus mir machen will. Und ich bin hoffnungslos überfordert dafür auch nur einen Anfang zu finden. Unsicherheit breitet sich in mir aus und schnürt meinen Hals zu. Es ist als würde erst jetzt die Realität bis zu mir durchdringen. Ich bin zu nichts anderem fähig, als stumm den Kopf zu schütteln, aber die Nachricht kommt wohl auch so bei Row an.

Ihr hoffnungsvoller Gesichtsausdruck zersplittert und als ihre Schultern herabsinken, habe ich das Gefühl mein Spiegelbild vor mir zu sehen. Ich werde nicht mehr mit Row zusammen studieren. Vielleicht muss ich sogar von hier wegziehen. Der Kloß in meinem Hals wird noch größer.

Ohne ein Wort schließt mich Row in die Arme.Allerdings finde ich dieses Mal keinen Trost darin. Dafür fühlt es sich zu sehrwie ein Abschied an.

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