Kapitel 31
Ich hatte schon viele Abstütze. Bin an Orten aufgewacht, ohne zu wissen wie ich dort hingekommen bin, oder mit Menschen, an die ich mich nur noch verschwommen erinnern kann. Ich hatte auch schon Kater, die mich einen ganzen Tag ausgeknockt haben und trotzdem glaube ich, habe ich mich noch nie so beschissen gefühlt wie am Sonntag Morgen, als ich aus der Polizeiwache trete.
Mein Hals ist trocken und wund, sodass das Stöhnen als ich von der Sonne geblendet werde, sich mehr wie ein Raspeln anhört. Ich bleibe eine Sekunde stehen, schirme meine Augen ab, und versuche mich an die Helligkeit zu gewöhnen. Es ist wohl einer der wenigen Momente, in denen ich verfluche, dass das Wetter für die nächsten Tage super gut gemeldet ist. Denn das Licht lässt das schmerzhafte Pochen in meinen Kopf fast unerträglich anschwellen und ich hätte alles dafür gegeben, von niemanden hier gesehen zu werden. Stattdessen läuft bei dem Sonnenschein Passant nach Passant an mir vorbei und da mein Makeup inzwischen bestimmt mehr wie das von einem Clown aussieht, kann ich ihnen die komischen Blicke nicht Mal verübeln.
Mit ein paar tiefen Atemzügen versuche ich die aufsteigende Scham hinunterzuschlucken. Was erstaunlich erfolgreich ist, wahrscheinlich weil meinem Körper jegliche Energie fehlt. Ich habe die Nacht kein Auge zubekommen und die netten Unterhaltungen, die ich mit den Polizisten führen musste, haben auch nicht gerade dazu beigetragen, dass ich zur Ruhe gekommen bin. Auf der anderen Seite kann ich wohl froh sein, jetzt überhaupt schon wieder rauszukommen. Da wir nichts haben mitgehen lassen und auch kein Sachschaden entstanden ist, waren die Polizisten milde gestimmt. Zudem habe ich erst in der Befragung erfahren, dass Heather die Tür gar nicht aufgebrochen hat, sondern sie nicht abgeschlossen war, was wohl auch dazu beigetragen hat, dass ich heute Morgen meine Eltern anrufen und auf Kaution rauskommen durfte.
Trotzdem sitze ich tief in der Scheiße und der Gedanke daran lässt mein Herz in die Kniekehlen sacken. Das Eishockeystadion wird von den Finanzstiftern des Colleges mitfinanziert, was so viel heißt, wie dass der Dekan wahrscheinlich schon morgen früh erfährt was passiert ist. Ich habe gerade nicht die Kraft mir auszumalen, was das für Konsequenzen haben wird. Mal ganz davon abgesehen, dass meine Eltern stinkt wütend sind. Ich habe selten erlebt, dass sich mein Vater groß in die Erziehung einmischt, aber das „wir reden später" am Telefon hat sich angehört, als würde sich das jetzt ändern.
Nun zieht sich meine Brust doch in einer Mischung aus Verzweiflung und Scham zusammen und ich reibe mir mit einem Wimmern über das Gesicht. Wie konnte das alles nur passieren? Gestern Morgen war alles noch gut. Ich hatte eine Zukunft und ich hatte Sean, wenn auch nur einen Teil von ihm... und innerhalb von vierundzwanzig Stunden habe ich alles in den Sand gesetzt. Und das traurigste daran ist wohl, dass ich eine Nacht in Polizeigewahrsam verbracht habe und trotzdem die Hälfte der Zeit nur an Sean denken konnte.
Am liebsten wäre ich auf den Boden gesunken und nie wieder aufgestanden.
„Alexis!"
Erschrocken fährt mein Kopf hoch und ich traue meinen Augen nicht, als ich Row erblicke, die aus dem Beifahrerfenster von Grays Auto winkt. Ungläubig blinzle ich. Was macht sie denn hier?
„Komm, wir bringen dich heim."
Row sieht fertig aus. Als hätte sie heute Nacht ähnlich viel Schlaf bekommen wie ich. Trotzdem kommt es mir so vor, als würde sich in dieser beschissenen Situation ein kleiner Streif am Horizont auftun, als sie mich anlächelt. Anlächelt als wäre alles wie immer.
Ich habe nicht gedacht, dass mein Körper immer noch dazu in der Lage ist, aber meine Augen fangen an zu brennen. Wie kann es sein, dass nach all der Scheiße, in die ich schon geraten bin, Row immer noch da ist? Womit habe ich das verdient?
Ich weiß es nicht, aber ich bin viel zu glücklich ein freundliches Gesicht zu sehen, um jetzt daran zu zweifeln. Stattdessen schniefe ich einmal und raffe mich auf, zu dem kleinen Parkplatz zu laufen, auf dem meine beste Freundin mit ihrem Freund auf mich wartet. Ich kann mir nur vorstellen, wie das Ganze auf die beiden wirken muss, aber ich bin mir zu hundert Prozent sicher, ich schneide nicht gut ab. Daher traue ich mich kaum ein schüchternes Lächeln zu Gray zu werfen, als ich neben dem geöffneten Beifahrerfenster stehen bliebe.
„Hey."
Row zieht mich durch die kleine Öffnung sofort in eine Umarmung und mir wird erst klar, wie dringend ich das gebraucht habe, als ich ihren vertrauten Geruch zittrig einatme. Unsicher blicke ich über ihre Schulter zu Gray, doch anstatt Missgunst oder Wut schlägt mir nur Freundlichkeit entgegen, als er mit einer Kopfbewegung zur Rückbank deutet und sagt: „Komm, spring rein."
Ein markerschütterndes Gefühl der Dankbarkeit fährt durch mich und mein Hals ist so zugeschnürt, dass ich nur ein Nicken vollbringe. Ich löse mich von Row und drücke nochmal kurz ihre Schultern, in der Hoffnung mit dieser Geste ein Teil dessen sagen zu können, wofür mir die Worte fehlen. Dann husche ich zur hinteren Tür und gleite mit gesenktem Kopf auf die Rückbank. Ich bin so sehr mit dem Chaos in mir beschäftigt, dass mir gar nicht auffällt, dass ich hier nicht alleine bin, bis mir eine flauschige Decke über die Schultern und ein Wasser in die Hand gelegt wird.
Überrascht fährt mein Kopf herum. Lee, mit seinen verstrubbelten Locken und dem immerwährenden Lächeln, sitzt neben mir und zieht mich ohne einen Kommentar dicht an sich in seine Arme. So fahren wir los. Ich eingemummelt in eine Decke, die einen Teil der Taubheit in mir schmelzen lässt, und mit einem stützenden Arm um mich, während stumme Tränen über mein Gesicht rollen. Keiner im Wagen fragt was passiert ist. Und ich könnte nicht dankbarer sein.
Gray fährt uns zu meinem Wohnheim und obwohl ich sie nicht darum gebeten habe, steigt Row so selbstverständlich mit mir aus, dass ich sie am liebsten direkt wieder umarmt hätte.
„Schreib, wenn ich dich wieder einsammeln soll." Gray gibt meiner besten Freundin einen Kuss zur Verabschiedung und auch wenn ich versuche mich nicht komisch zu fühlen, komme ich mir wie ein Eindringling vor. Die beiden hatten bestimmt für heute besseres geplant als meinen verkaterten Arsch von der Polizeiwache abzuholen. Ich habe die Decke bei Lee auf der Rückbank gelassen, aber jetzt hätte ich doch gern wieder etwas, um mich drunter zu verstecken.
Row nickt und tritt von dem Auto weg, damit Gray losfahren kann. Ich hebe die Hand und winke den beiden zum Abschied, weil ich immer noch nicht weiß, was ich sagen kann, um auszudrücken wie leid mir das alles tut. Umso mehr Zeit vergeht, desto mehr kommt mir das ganze wie ein schlechter Traum vor. Doch sich vor der Wahrheit zu verschließen bringt nichts: ich habe es wirklich vermasselt.
Ein stechender Kopfschmerz setzt ein und erinnert mich daran, dass ich keinen Schlaf dafür aber einen fetten Kater habe. Ein kleiner hoffnungsloser Laut entkommt mir, der Row veranlässt sich zu mir zu drehen. Selbst jetzt kann ich in ihren Augen keine Enttäuschung oder Wut erkennen, was mir völlig unbegreiflich ist. Ich verachte mich ja sogar selbst, sollte sie mir dann nicht erst Recht eine Standpauke halten?
Aber nichts dergleichen kommt von Row. Stattdessen hakt sie sich lediglich bei mir unter und zieht mich sanft in Richtung Haustür. „Komm, wir gehen hoch."
Dankbar die Führung jemand anderem überlassen zu können, schlurfe ich Row hinterher. Die Treppen kamen mir noch nie so lang und anstrengend wie heute vor und ich bin froh, dass Row mich nicht losgelassen hat. Ansonsten wäre ich nach dem ersten Stockwerk wahrscheinlich einfach auf einen Ansatz gesunken und dort sitzen geblieben. So schaffen wir es im Schneckentempo bis hoch zu meinem Zimmer, dass sich Gott sei Dank als leer entpuppt, als Row für uns die Tür aufschließt. Silvia scheint unterwegs zu sein, was mir einiges an Scham erspart.
Ich werde bis zu meinem Bett geführt und auch wenn es mir schrecklich peinlich ist so schwach zu sein, sinke ich sofort mit einem Stöhnen in die Kissen. Dabei führt der schnelle Wechsel in die Horizontale dazu, dass sich die Welt dreht, und ich drücke mir eine Hand auf die Augen, um dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Gott, diesen Kater habe ich wohl verdient.
Row hantiert derweil im Zimmer herum, aber mir fehlt die Energie zu schauen was sie macht. Stattdessen strample ich so lange herum, bis ich es geschafft habe die Schuhe von meinen Füßen zu streifen, um sie unter die Decke zu ziehen. Am liebsten hätte ich mich ganz unter die Decke verkrochen und so getan als würde die ganze Welt nicht existieren. Aber die Wasserflasche, die mir in der nächsten Sekunde unter die Nase gehalten wird, ist noch etwas verlockender.
Begierig greife ich danach und leere sie in einem Zug bis zur Hälfte. Was etwas zu schnell ist für meinen malträtierten Körper, denn für einen Moment glaube ich, es kommt direkt wieder hoch. Stattdessen entkommt mir ein Rülpser, der so unpassend erscheint zu der Scheiße in der ich stecke, dass ich nicht anders kann als loszulachen. Und wie ich lache. Bis mein Bauch schmerzt und meine Augen tränen.
Ich weiß selbst, dass ich mich dabei verzweifelt oder sogar verrückt anhöre, aber es fühlt sich so gut an, dass ich einfach nicht aufhören kann. Es fühlt sich so gut an über diesen ganzen Irrsinn zu lachen. Darüber, dass ich mich zum ersten Mal verliebt habe, nur um mit gebrochenen Herzen in einer Ausnüchterungszelle zu landen. Das hört sich nach der Art Pech an, die ich magisch anziehe.
Dieser Gedanke lässt das Lachen zu einen Glucksen und letztendlich zu einem Schniefen abklingen. Es braucht einen Moment, bis ich meine Augen blinzelnd wieder scharf stellen kann. Row kniet vor meinem Bett, den Mund zu einem schiefen Lächeln verzogen und eine Augenbraue erhoben. Ihr Blick sagt gerade zu „Und, ist der psychotische Schub vorbei?", aber das kann man ihr wohl nicht übel nehmen.
Mit einem Räuspern wische ich die Nässe von meinen Wangen, die ausnahmsweise nicht vom weinen kommt. Dann stütze ich mich in eine sitzende Position, auch wenn das den Raum zum Kreisen bringt. Aber ich weiß, dass es an der Zeit ist zu reden. Und auch wenn ein bisschen Lachen nichts an der Situation ändert, fühle ich mich jetzt zumindest für dieses Gespräch bereit.
„Woher wusstest du wo ich bin?" Meine Stimme klingt rau und ich nehme noch einen Schluck vom Wasser, in der Hoffnung dass es dadurch besser wird.
„Naja, nachdem Lee zu uns kam und meinte du bräuchtest dringend etwas Ablenkung habe ich nach dir gesucht, aber dich nirgendwo gefunden. Lee hatte nicht genau erzählt was vorgefallen ist und da ich dachte, vielleicht weiß er wo du bist, habe ich Sean angesprochen." Ich zucke zusammen als Seans Name fällt und richte ungläubig meinen Blick auf Row. Mir schießen sofort tausende Fragen durch den Kopf, die ich gerne alle gestellt hätte. Wie hat er gewirkt? Hat er sich Sorgen gemacht? Aber keine davon schafft es aus meinem Mund. Ich sollte das nicht wissen wollen. Ich sollte nicht innerhalb von einer Sekunde vergessen, worum es eigentlich geht, nur weil sein Name gefallen ist. Und trotzdem lausche ich jedem von Rows Wörtern, als sie weiter erzählt.
„Er war irgendwie komisch drauf. Kühl, distanziert. Da habe ich schon ein ungutes Gefühl bekommen. Aber zumindest konnte er mir sagen, dass du mit Elisa, Heather und zwei Kerlen weggegangen bist."
Er hat mich also auch gesehen. Mein Hals schnürt sich zu. Hat er vielleicht gedacht, ich hätte etwas mit einem der Jungs? War er sauer oder verletzt? Am liebsten hätte ich nach meinem Handy gegriffen und ihm alles erklärt. Dass ich mit niemandem etwas hatte und es auch nicht will. Aber das kann ich nicht, weil ich seine Nummer nicht habe. Weil er gar kein Interesse daran hat, was ich mache oder nicht mache. Die kleine Blase der Hoffnung, die für einen Moment in mir aufgestiegen ist, zerplatzt in meiner Brust.
„Es tut mir wirklich leid, Lex. Lee hat mir im Nachhinein erzählt was er beobachtet hat. Es tut mir Leid, dass es nicht so gelaufen ist, wie du es dir erhofft hast."
Row sieht tatsächlich deswegen niedergeschlagen aus und auch wenn die Worte lieb gemeint sind, bohren sie noch tiefer in der Wunde. Ich will nicht über Sean reden. Oder darüber dass die Sache zwischen uns vorbei ist. Daran zu denken fühlt sich an wie einen Dolch in meiner Brust umzudrehen. Also lenke ich das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema.
„Und wie hast du herausgefunden, dass ich verhaftet wurde?" Es laut auszusprechen, hinterlässt einen schlechten Nachgeschmack auf meiner Zunge.
„Oh, in dem ich Elisa über eine Stunde terrorisiert habe, bis sie endlich ans Telefon ging. Sie war total angepisst, aber versprochen ich war angepisster. Erst Recht als sie erzählt hat, wo sie war. Oder besser gesagt, von wo sie gerade floh und weshalb." Rows Wangen glühen geradezu vor Wut und das ist wirklich ein seltener Anblick.
„Sie meinte Heather wäre voll auf Pillen und ins Eishockeystadion eingebrochen. Daraufhin haben sie und die Kerle die Beine in die Hand genommen, aber du wärst so dumm gewesen, Heather suchen zu gehen. Um ehrlich zu sein weiß ich nicht mehr was sie sonst gesagt hat, weil ich nur noch rot gesehen habe. Typisch für diese Schlange, dass sie die erste ist die wegrennt, dabei bin ich mir sicher sie war selbst nicht unbeteiligt an der Idee."
Mit einem Schnauben verschränkt Row die Arme und ich blinzle sie ungläubig an. „Warte und du bist nicht sauer?" Sauer, weil es wirklich sau dämlich von mir war dort zu bleiben. Oder generell mitzugehen.
Ihr Blick schießt zu mir und die steile Falte zwischen Rows Augenbrauen glättet sich wieder. „Auf dich? Nein. Es war vielleicht dumm aber auch sehr loyal von dir, Heather nicht allein zu lassen. Ich bin eher... verwirrt. Was habt ihr beim Eishockeystadion getrieben? Und wieso bist du nicht einfach zu mir gekommen?"
Beim letzten Satz klingt Rows Stimme verletzt und ich bin mir sicher, es wird nicht das letzte Mal sein, dass in diesem Gespräch Scham in mir aufsteigt. Unbehaglich spiele ich am Rand meiner Decke herum.
„Diese zwei Kerle, die dabei waren, sind auf die Idee gekommen. Ich glaube sie sind nicht so gut auf das Eishockeyteam zu sprechen und wollten... keine Ahnung was sie eigentlich wollten. Oder wieso ich mit bin. Ich weiß selbst, wie dumm das war. Wahrscheinlich wollte ich einfach..." Wahrscheinlich wollte ich einfach, dass es sich wie früher anfühlte, wenn ich mit Elisa und Heather unterwegs war. Spaß, Zerstreuung. Einfach vergessen, was sich alles verändert hat.
Als ich dieses Mal zu Row aufblicke sehe ich das erste Mal eine Anklage in ihren Augen. Eine Anklage, die alt vertraut ist. Wieso rennst du weg, anstatt dir mit deinen Dämonen helfen zu lassen? Eine gute Frage, die ich selbst nicht beantworten kann.
„Es tut mir leid. Es tut mir wirklich so leid, Row." Meine Stimme klingt erstickt und ich suche in ihrem Gesicht nach Vergebung. Nach Vergebung für alles was an mir falsch ist. Aber als sich ihre Augen trüben und sie den Blick senkt, weiß ich, dass Row mir diese nicht geben kann.
„Du musst dich nicht bei mir entschuldigen, Lex. Es ist dein Leben, dass du zerstörst."
Die Worte schlagen ein wie ein Kommet. Denn Row hat Recht. Es ist niemand zu Schaden gekommen außer mir. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich vom College fliege, ist nahezu bei hundert Prozent. Zumal ich von Glück reden kann, wenn es nur ein Bußgeld für den Einbruch gibt. Im schlimmsten Fall... eine Gänsehaut überzieht mich und hätte ich was im Magen gehabt, wäre es jetzt wohl auf dem Boden gelandet. Es gibt niemanden, der mir die Vergebung geben kann, die ich suche.
Ein Seufzen reißt mich aus dieser Erkenntnis und Row wirkt, als müsse sie die gleichen bedrückenden Gedanken wie ich abschütteln, als sie fortfährt. „Wie auch immer, danach haben Gray und ich uns ein Taxi genommen und sind so schnell wie möglich zum Stadion gefahren. Aber da ist die Polizei bereits mit euch abgefahren und nach einigen Diskussionen hatte Gray mich überzeugt, dass es keinen Sinn hat mitten in der Nacht auf der Wache aufzuschlagen, sondern wir bis morgen warten sollten. Ich habe zwar kein Auge zugemacht, aber so konnte Gray wenigstens fahren, als ich ihn direkt um acht Uhr aus dem Bett geschmissen habe."
Row schmunzelt und ich weiß, dass sie das Ende mit Absicht so flapsig erzählt, um die Stimmung zu lockern. Aber alles hat seine Grenzen und ich befürchte gerade kann niemand mehr die Stimmung retten.
„Jetzt bist du dran. Was ist passiert Lex? Und ich meine damit alles."
Also auch Sean. Meine Schultern verspannen sich, aber die Antwort bin ich Row schuldig. Ich lasse mich wieder zurück in die Kissen sinken und für einen Moment überlege ich, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Wenn ich sage, dass ich zu fertig bin um jetzt zu reden, wird Row es mir durchgehen lassen. Auf der anderen Seite bin ich emotional so erschöpft, dass es vielleicht leichter ist es jetzt auszusprechen als später.
„Es hat mit Kayla angefangen. Sie hat mir erzählt, dass es momentan mit Elijah schwer läuft und dass er ihr nicht mehr die Aufmerksamkeit schenkt, die sie sich wünscht und verdient. Es war so leicht zu ihr zu sagen, dass sie für sich einstehen soll, und dann ist mir aufgefallen wie wahr mein Rat auch im Bezug auf meine eigene Situation ist." Ich suche Rows Blick in der Hoffnung auf Halt, als ich die nächsten Worte sage. „Row, ich war so dumm. Ich habe mich verliebt, obwohl er von Anfang an klar gemacht hat, was das zwischen uns ist. Wie konnte das nur passieren?"
Ich bringe es nicht übers Herz Seans Namen auszusprechen. Es ist als würde ich ihm dann noch mehr Macht über mich geben, als er eh schon hat. Und das kann ich nicht. Nicht mehr.
Ein trauriges Lächeln umspielt Rows Lippen als sie auf rutscht und mir sanft über den Kopf streichelt. „Gefühle scheren sich um sowas nicht, Lex. Sie kommen wie sie wollen und an ihnen ist nichts schlimmes."
Mein nächster Atemzug entkommt mir nur zittrig. „Aber es tut so weh. Es tut so weh zu wissen, dass er mich nicht will. Ich habe ihn drauf angesprochen, habe ihm mein Herz offenbart. Und er war so kalt."
Ich pumpe Luft in meine Lungen und wieder hinaus, bis das Brennen in meiner Brust etwas nachlässt. Dann öffne ich die Augen, weil ich Row sehen will. Sehen will was sie denkt. Das Mitleid steht ihr ins Gesicht geschrieben, während sie mir wiederholt über den Kopf streichelt.
„Ich habe mir schon gedacht, dass du mehr Gefühle für ihn entwickeln wirst. Eigentlich habe ich es sogar gehofft. Ich dachte Sean... ich dachte er würde dir gut tun und dir Halt geben."
Ihre Worte bringen mich zum Lachen. Ein heißeres, schmerzerfülltes Lachen. Weil ich das auch dachte. Seans Geborgenheit hat sich nach Heilung angefühlt. Ein Weg raus aus der Düsternis meines Lebens. Aber was habe ich schon zu bieten, um das zu verdienen?
„Wer hat schon Lust, jemanden Halt zu geben, der wie ich am Abgrund taumelt? Eigentlich kann ich es ihm nicht Mal verübeln." Ich schnaube bitter auf und Row sieht aus, als würde sie mir gerne all den Schmerz abnehmen. Aber das kann sie nicht, das ist meine Bürde, die ich Schultern muss.
„Ach was Lex, so darfst du nicht denken..."
„Row er hat es selbst gesagt. Seine Worte waren: ich bin nicht dafür verantwortlich deine Scherben aufzusammeln. Und er hat Recht."
Schock steht in Rows Gesicht geschrieben und irgendwie tut es gut, dass ich nicht die einzige bin, die unter der Heftigkeit dieser Worte erzittert. Aber ich will nicht lange darüber reden. Also entziehe ich mich ihrer Hand und wende mich ab.
„Ich bin wirklich müde. Können wir das Gespräch vielleicht später weiterführen?"
Es bleibt einige Sekunden still, aber dann spüre ich, wie sich jemand zu mir ins Bett legt und im nächsten Moment liegen Row und ich angekuschelt aneinander, wie schon so oft in unserem Leben. Die Gewissheit nicht allein zu sein nimmt mir einen Teil meiner Anspannung und gibt mir Hoffnung tatsächlich schlafen zu können.
Ich bin schon halb im Land der Träume, als ich Row leise sagen höre: „Das hätte er nicht sagen sollen. Vielleicht hat er nicht die gleichen Gefühle für dich, aber das rechtfertigt nicht diese Aussage."
Row und ich wachen am späten Nachmittag auf und leider stellt sich das Ganze auch jetzt nicht nur als ein böser Traum heraus. Mein Kater ist zu einem unangenehmen Pochen in der Schläfe abgeklungen, dafür habe ich ein pelziges Gefühl im Mund und rieche wahrscheinlich wie King Kong. Trotzdem hätte ich mich am liebsten nicht aus dem Bett bewegt, denn auch wenn es nur eine Illusion ist, kommt es mir so vor, als würde die Welt sich nicht weiterdrehen, solange ich mich nicht bewege. Dann wird dem College der Vorfall niemals gemeldet und mir steht auch kein unangenehmes Telefonat mit meinen Eltern bevor. Alles bleibt einfach im Hier und Jetzt eingefroren.
Allerdings neigt meine beste Freundin dazu knallharte Realistin zu sein und da ich mich vorhin davor gedrückt habe ihr die eigentliche Katastrophe des gestrigen Abends zu erzählen, darf ich das nach dem Aufwachen nachholen.
Also fange ich bei den zwielichtigen Kerlen und den Drogen an, erzähle von dem Eishockeystadion und meinem Streit mit Elisa bis schließlich zu meiner dummen Entscheidung, Heather hinterherzugehen. Im Nachhinein weiß ich wirklich nicht was mich geritten hat. Ich habe zwar nicht damit gerechnet, dass die Polizei so schnell auftauchen würde, aber egal wie hätte ich niemals einen Schritt in das Gebäude setzen sollen. Ich hatte sogar von dem stillen Alarm gewusst und trotzdem hat mein betrunkenes Hirn den Hochmut besessen zu glauben, ich käme damit davon. Vielleicht mag es ein edles Motiv gewesen sein, Heather nicht allein zu lassen, aber letztendlich war es vor allem dumm. Es kann mich alles kosten. Meine Zukunft, mein zu Hause hier.
Der Gedanke allein lässt Übelkeit in mir aufkommen und als Row fragt, ob ich mit zu Gray und Lee will, ist meine Antwort ein entschiedenes Nein. Ich weiß es zu schätzen, dass die drei mich abgeholt haben und mich nun auch noch ablenken wollen, aber das Letzte was ich will ist mich gerade dem Urteil anderer zu stellen.
Row davon zu überzeugen, dass sie mich allein lassen kann, ist jedoch ein anderes Unterfangen und letztendlich muss ich ihr meinen Haustürschlüssel mitgeben, damit sie im Notfall reinkommt und mich bei ihr zu melden. Ich würde ihr gerne versichern, dass es zu so einer Situation nicht kommen wird. Aber um ehrlich zu sein kriecht bereits jetzt eine lähmende Müdigkeit in meine Knochen. Ich kenne dieses Gefühl und ich habe selbst Angst, was es mit mir anstellen wird. Also gebe ich ihr den Schlüssel und bin froh als ich schließlich allein bin zu den Duschen zu schlurfen und mich so lange unter das heiße Wasser zu stellen, bis ich rot wie ein Krebs anlaufe. Trotzdem fühle ich mich eine Sekunde nachdem ich mich in ein Handtuch gewickelt habe wieder kalt und taub. Es ist die Scham gemischt mit einer Gewissheit, das dieses Mal nicht alles wieder gut wird, die mich von innen heraus paralysiert. Ich fühle mich zu nichts anderem im Stande, als mich direkt wieder ins Bett zu verziehen.
Und genau in diesem liege ich nun seit... hm keine Ahnung wie lang eigentlich genau. Silvia ist vor einiger Zeit zurück gekommen und ich bin froh, dass wir nicht ein so enges Verhältnis haben, dass sie fragt was los ist. Sie wirft mir nur einen komischen Blick zu, was daran liegen könnte, dass ich bis zu den Ohren in meine Decke gerollt bin und mich keinen Millimeter bewege. Dann zuckt sie mit den Schultern setzt sich auf ihr Bett und fängt mit Kopfhörern an etwas auf ihrem Tablet zu schauen. Eine tolle Idee für einen Sonntagabend. Ich könnte auch einen Film anmachen oder zumindest Musik hören. Allerdings würde das bedeuten, dass ich mich aus meiner Starre lösen müsste. Und das will ich nicht. Ich will nichts weiter als hier zu liegen und ein und aus zu atmen. Immer wieder ein und aus. Es ist so einfach und doch manchmal so schwer. Ein und aus. Mehr muss ich nicht machen, um zu leben.
Es dämmert draußen und wird schließlich dunkel, aber all das zieht einfach an mir vorbei. Ich schlummere immer Mal wieder ein und dieser Zustand aus wach und Schlaf hat ausnahmsweise etwas angenehmes an sich. Allerdings war wohl klar, dass diese herrliche Taubheit nicht für immer anhalten kann.
Ein Klingeln lässt mich zusammenzucken und als wäre damit eine Blase zerplatzt, merke ich mit einem Mal wie sehr meine Gelenke von der starren Position schmerzen und wie trocken mein Hals ist. Mit einem Stöhnen vergrabe ich den Kopf unter der Decke, doch es bringt nichts. Als es das nächste Mal geklingelt ist das Geräusch noch immer schrill und unüberhörbar.
„Silvia!", rufe ich in der Hoffnung, dass meine Mitbewohnerin mich hört, aber Noice Canceling stellt sich als mein Erzfeind heraus. Danach hoffe ich, dass wer auch immer vor der Tür wartet, es vielleicht aufgegeben hat, aber ein drittes Klingeln zerstört diese Hoffnung schnell.
Mit einer Mischung aus Stöhnen und Wimmern strample ich mich von meiner Decke frei und die Welt schwankt ordentlich, als ich nach dem langen Liegen mich in die Aufrechte stütze. Ich gebe mir eine Sekunde, in der der ungebetene Gast zum vierten Mal klingelt, und es tut gut die ganzen negativen Emotionen in mir auf den Fremden zu projizieren, als ich zur Tür schlurfe und deutlich angepisst die Gegensprechanlage bediene. „Ja?!"
„Essenslieferung!" Ein starker Akzent macht es im ersten Moment schwer zu verstehen, was der Mann vor der Tür sagt. Aber schließlich drehe ich mich zu Silvia und brülle dieses Mal so laut, dass sie mich hören muss: „SILVIA!"
Meine Zimmergenossin zuckt zusammen und nimmt die Kopfhörer raus. „Was ist?"
Es ist wahrscheinlich gemein, denn sind wir Mal ehrlich es ist nicht der Pizzabote, der mich so aufregt. Aber in diesem Moment tut es zu gut, meine Wut an irgendwas auszulassen. Also bin ich wütend, dass ich aus meinem Bett musste um Silvias Essen anzunehmen. Ich drücke den Türöffner, bevor ich mich mit verschränkten Armen an sie wende. „Wenn du Essen bestellst, wäre es nett, wenn du dich nicht mit deinen Kopfhörern taub machst."
Unverständnis zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab und es ist Silvia anzumerken, dass sie sich nicht einfach so anzicken lassen wird. „Ich war vor einer Stunde mit meinem Freund essen. Ich habe sicherlich nichts bestellt."
Ich möchte schon etwas erwidern, aber da erklingt die Stimme des Lieferbotens vor unserer Zimmertür. „Hallo?"
Mit einem letzten Blick zu Silvia, da mich schulterzuckend anschaut, drehe ich mich seufzend um und öffne die Tür.
„Hören Sie, Sie müssen sich in der Tür geirrt hab..." ich verstumme mitten im Satz, als mein Blick auf den großen Pizzakarton fällt, den der Mann bei sich trägt. Dort ist mit einem Permanentmarker groß draufgeschrieben: Iss das Alexis.
Der Pizzabote, der mich wohl eh nicht verstanden hat, nutzt meine Sprachlosigkeit und drückt mit den Karton in die Hand. Dann dreht er sich mit einem „Bitteschön! Guten Appetit!" um und ist verschwunden.
Baff stehe ich da und lasse die Zimmertür hinter mir zufallen. Silvia schaut mich fragend an, doch ich kann nur den Kopf schütteln und die Pizza auf meinem Schreibtisch abstellen. Wo ist mein Handy?
Suchend sehe ich mich um und schüttle letztendlich meine Bettdecke aus, aus der mein Handy purzelt. Als ich drauf schaue habe ich fünf verpasste Anrufe von Row plus einige WhatsApp Nachrichten.
Die letzte lautet „wenn du mir nicht gleich schreibst, komme ich direkt wieder vorbei" und erst jetzt fällt mir wieder ein, dass ich ihr versprochen hatte ein Statusupdate zu geben. Ich fluche leise und tippe schnell eine Entschuldigung ein.
Allerdings ist Row nicht die einzige, die mir geschrieben hat. Da ist eine Nachricht von einer unbekannten Nummer und bei dem Anblick fängt mein Herz an zu rasen. Vielleicht bereut Sean seine betrunkenen Worte. Vielleicht...
Doch das Profilbild zeigt jemand anderen, als ich mir erhofft habe. Es ist wohl unfair, dass Lees Anblick mir Tränen in die Augen treibt, aber die Enttäuschung bricht wie eine Welle über mir zusammen und lässt die Hoffnung in meinem Herzen zu einem schmerzenden Etwas verkümmern.
Lethargisch lese ich mir seine Nachricht durch und bringe seine Worte mit der Pizza vor mir in Verbindung. Aber richtig zu mir durchdringen tun sie nicht. Genauso wenig wie der leckere Duft, der meinen Magen zum Knurren bringt. Es fühlt sich weit entfernt an, als Erinnerungen an die Nächte mit Sean hoch schwappen. An Tiefkühlpizzen und Arme, die mich festhalten. Letztendlich rolle ich mich in meinem Bett zusammen ohne ein Stück angerührt zu haben.
Ich wusste immer, dass ich richtiges Glück nie erreichen werde. Nicht so wie Row mit Gray. Trotzdem hat sich die Zeit mit Sean so angefühlt, als wäre etwas in greifbare Nähe gekommen, das sich besser als alles andere in meinem Leben angefühlt hat. Ich hätte jede Sekunde davon mitnehmen sollen, die sich mir geboten hat. Denn jetzt wo ich es zerstört habe, fühle ich mich nur umso leerer.
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