Kapitel 3
Irgendwie geht auch der Nachmittagsunterricht vorbei. So ist das mit der Zeit. Sie geht um, egal wie langsam und quälend es auch sein mag. Aber zumindest habe ich etwas, worauf ich mich freuen kann, während mein Dozent irgendetwas über Unternehmensjura erzählt. Mein Fuß steht die letzten zehn Minuten vor Unterrichtsende nicht mehr still, sondern wippt unruhig neben meiner Sporttasche auf und ab, die geradezu nach mir ruft. Ich muss hier endlich rauskommen, weg von all den Menschen und mich bewegen. Sport hat wohl die gleiche Bedeutung für mich wie für Row Bücher. Ohne bin ich nicht ich. Ohne würde ich komplett durchdrehen.
Beinahe hätte ich erleichtert aufgeseufzt, als der Dozent endlich seinen Vortrag beendet und uns entlässt. Aber stattdessen zwinge ich mich noch ein paar Sekunden ruhig sitzen zu bleiben, um zu warten bis die Leute um mich herum ihre Sachen zusammengepackt haben, und tausche dabei freundliche Floskeln aus. So wie sich das gehört, auch wenn ich mich am liebsten an allen vorbei aus dem Raum gedrängt hätte. Zu Melanie, einer kleinen Brünetten deren Bruder im Semester über uns ist und zu dem Typus schnuckeliger Musiker gehört, sage ich wie schön ihre neuen Schuhe sind. Darauf erzählt sie mir wie viel Glück sie hatte, dieses Paar im neuen Outlet Center genau in ihrer Größe noch ergattert zu haben und ich gebe irgendwelche zustimmenden Laute von mir, während mein Blick immer wieder zur Tür abgleitet, aus der sich die ersten Studenten drängen. Glücklicherweise gesellt sich dann jedoch Dave zu uns und beendet damit diese höchst interessanten Ausführungen mit einem seiner eher weniger guten Scherzen. Aber auch Dave gehört zu den Leuten, mit denen man lieber gutstehen will. Sein Vater ist ein angesehener Anwalt und noch wichtiger, die Familie ist schon seit Ewigkeiten Teil der Fraternity Verbindung, die neben guten Partys die beste Connection in die Berufswelt darstellt, die man an diesem College finden kann. Also lache ich zusammen mit Melanie, während wir uns endlich Richtung Tür bewegen, wenn auch viel zu langsam.
„He, am Freitag wollen ein paar von uns in die Moonlight Bar, habt ihr Lust mitzukommen?"
Dave steht zwischen uns beiden und strahlt uns abwechselnd an. In seinem weißen Hemd und mit der viel zu teuren Aktentasche für eine ganz normale Vorlesung passt er bestens zur Kundschaft der Moonlight Bar. Wenn man nicht bereit ist, mindestens einen Hunderter am Abend dort zu lassen, sollte man die Bar erst gar nicht betreten. Oh, und am besten sollte man auch danach aussehen, dass man mehr als nur einen Hunderter bei sich hat.
Innerlich verziehe ich das Gesicht, während Melanie bereits begeistert zustimmt. So habe ich mir mein Wochenende eigentlich nicht vorgestellt. Den ganzen Abend auf das anständige Mädchen machen, während die reichen Kerle einem in den Ausschnitt glotzen. Ich habe eher Spaß daran, wenn ich nicht so tun muss als gäbe es in dieser Welt etwas wie Anstand. Also gebe ich nur mit einem Lächeln ein nichts sagendes „Ich muss mal schauen" von mir und verabschiede mich im nächsten Moment, weil wir endlich aus dem Raum sind.
Dann lasse ich mich von niemandem mehr aufhalten. Vielleicht weil mein Tagesbedarf an Oberflächlichkeiten aufgebraucht ist, jedenfalls habe ich mehr als ein Lächeln für die Leute nicht mehr übrig. Ich weiß, dass das nicht gut ist. Dass man, um den Anschluss zu halten, soziale Kontakte pflegen muss. Man muss sinnloses Zeug plaudern, lachen, fröhlich sein und tun als wäre man gerne hier. Und meistens bin ich darin auch wirklich gut. Alles Übungssache. Aber für den Moment will ich nicht mehr die Person sein, die andere in mir sehen sollen. Ich brauche eine kurze Pause, um meine Akkus wieder aufzuladen und dann weiter zu lächeln. Und der Sport wird mir genau diese Pause gönnen.
Mein Fitnessstudio ist ein Stück vom Campus entfernt in der Stadt. Ich hätte mich zwar auch wie die meisten Studenten zu einem reduzierten Preis hier am Fitnessstudio des Colleges anmelden können, aber der Sport ist meine Oase. Wenn ich schwitzend auf dem Laufband stehe, will ich mich um nichts anderes scheren als das Blut, das mir in den Ohren rauscht. Nicht um mein Aussehen oder die Art wie ich mich gebe, weil die anderen Studenten mich sehen könnten. Also habe ich mich nach einem Studio umgeschaut, in dem man vor allem Hausfrauen und Geschäftsmänner trifft, die sich den angeschlossenen Wellnessbereich und die spezialisierten Personaltrainer leisten können. Das schlägt zwar auch mir auf die Tasche, aber manche Dinge sind das Geld einfach wert. Und den Kopf freibekommen gehört da definitiv dazu. Die meisten hätten sich zudem wahrscheinlich darüber beschwert, dass das Fitnessstudio nicht zu Fuß erreichbar ist. Und zugegebenermaßen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist es auch wirklich eine Qual in das eher abgelegene Stadtviertel zu kommen. Mit dem Auto ist das allerdings alles gar kein Problem.
Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, sobald ich meine, vielleicht zwar schon in die Tage gekommene, alte Dame sehe, die mich dafür aber noch nie im Stich gelassen hat. Der rote Ford Fiesta steht unter jeder Menge neuerer, größerer und teurerer Autos auf dem Studentenparkplatz, aber im Gegensatz zu den anderen ist er dafür frisch geputzt. Darauf lege ich wert. Dieses Baby ist meine Möglichkeit jeder Zeit einfach Tschüss zu sagen und wo auch immer ich will hinzufahren. Es ist Freiheit. Und wenn man die Musik ganz laut aufdreht, übertönt es jegliche Gedanken.
Es ist als würde zumindest ein kleiner Teil des Gewichts auf meiner Brust von mir abfallen, sobald ich meine Trainingstasche auf den Beifahrersitz schmeiße und den Schlüssel in der Zündung umdrehe. Der Motor hat sich zwar schon besser angehört, als er anspringt, aber dafür versorgt mich die speziell eingebaute Stereoanlage mit dem nötigen Beat, um tief durchzuatmen. Heute ist noch nicht einmal ein schlechter Tag. Ziemlich durchschnittlich, wenn ich es mir so recht überlege. Keine Zwischenfälle oder ungewöhnlichen Gedanken. Nur der übliche Mist, der sich mein Leben nennt. Trotzdem reicht ein durchschnittlicher Tag bereits, um mich erleichtert Seufzen zu lassen, als ich vom Campusgelände runterfahre und mich in den Verkehr einfädle. Meine Mundwinkel entspannen sich und verziehen sich nicht mehr krampfhaft zu diesem Halblächeln, das ich wie eine Rüstung trage. Meine Schultern sacken runter, bis ich gemütlich im Fahrersitz lungere, und ich muss nicht mehr darüber nachdenken, wie ich mich nach außen hin zeigen will. Ich kann einfach sein und selbst meine Vergangenheit scheint nicht gegen den lauten Bass anzukommen, der durch mein kleines Auto wummert. Es ist der Himmel.
Und da ich nicht vor habe diesen kleinen Moment des Friedens wieder aufzugeben, stöpsle ich mir noch im Auto meine Kopfhörer in die Ohren, als ich den Parkplatz meines Fitnessstudios erreiche. Die Musik begleitet mich in die Umkleide und von dort aus in den Gerätebereich und hält meinen Kopf davon ab sich mit etwas anderem beschäftigen zu können, als die gebrochenen Herzen und schmerzenden Trennungen von denen die Musiker singen. Es ist noch nicht so spät, dass all die Berufstätigen nach der Arbeit die Geräte belegen, sodass ich ohne warten zu müssen direkt auf ein Laufband kann. Damit fängt jede Trainingssession von mir an. Cardio, um den Puls hochzubekommen und den Körper zum Fettverbrennen zu bringen.
Ich kann mich noch gut daran erinnern was für eine Qual joggen noch vor einigen Jahren für mich gewesen ist. Selbst der Weg zum Bus war mir damals schon fast zu weit. Jetzt liebe ich die Art wie die Lunge zu brennen anfängt, wie die Beine zunächst müde werden und dann mit einem Mal nach einer gewissen Zeit es keine Mühe mehr kostet, sie immer schneller zu bewegen. Der Körper übernimmt die Kontrolle und setzt von automatisch einen Fuß vor den anderen. Und der Geist schwebt einfach davon. Bilder und Gedanken ziehen an mir vorbei.
Ich bin so sehr in meinem Rhythmus drin und mit meinem Kopf über den Wolken, dass mir gar nicht auffällt, wie ich eine breite Gestalt in dem kleineren mit Glaswänden abgetrennten Bereich vor den Laufbändern beobachte. Der Raum ist für die Leute vorbehalten, die Personaltraining bekommen, weshalb am Rande meines Blickfelds immer mal wieder eine kleine blonde Frau angehopst kommt, um die Haltung des Mannes bei einer seiner Übungen zu kontrollieren. Der Gedanke, wie eine so kleine Frau einem eindeutig viel größeren und muskulöseren Mann wirklich bei seinen Trainingszielen helfen soll, schwebt einen Moment in meinem Geist, bevor er vom Pochen des Pulses in meinen Ohren weggetragen wird. Alle meine Gedanken sind flüchtig, während ich laufe, und so betrachte ich eher unbewusst als wirklich absichtlich das Muskelspiel des Mannes, der mit dem Rücken zu mir gekehrt seine Übungen artig absolviert. Er sieht gut aus. Genau auf die richtige Weise durchtrainiert, mit breiten Schultern und einem trotz des Winters gebräunten Teint. Wow, das macht mich fast neidisch. Ich bin im Winter so weiß wie ein Laken, was die Augenringe leider nur zu stark betont. Das lässt die Vorstellung von Sonne, Strand und Meer durch meinen Kopf schießen, während ich weiterlaufe, und ich hätte meine sehnsüchtig aufgestöhnt. Mein Gott, ich vermisse den Sommer so sehr. Er lässt alles einfacher und unbeschwerter wirken. Als würde man mit der Winterjacke auch einen Teil seiner Sorgen ablegen.
Ich bin geistig so auf einer anderen Ebene, endlich einmal einfach entspannt, dass ich erst merke, wen ich da unabsichtlich angestarrt habe, als ich mit einem Mal das unangenehme Prickeln eines Blickes auf mir spüre. Das reißt mich ziemlich hart aus dem tranceähnlichen Zustand zurück, in den mich das Laufen versetzt hat und lässt mir bewusstwerden, dass ich das Gesicht kenne, welches mich hinter der Glaswand anstarrt.
Glücklicher Weise laufen meine Beine einfach weiter, während mein Kopf für einen Moment aussetzt und sich dann mit einem Klick wieder einschaltet.
Es ist Sean. Der verletzte Eishockeyspieler, über den die anderen erst heute Mittag in der Cafeteria geredet haben. Und einer der Eishockeyspieler, die mich nach dem großen Showdown mit Carly gesehen haben.
Erinnerung daran was Sean alles mitbekommen hat, jagen in Sekundenschnelle durch meinen Kopf und ich habe es wohl meinen Beinen zu verdanken, die auf Automatik geschalten haben, dass ich nicht sofort vom Laufband falle. Was in Gottes Namen macht er hier? Wieso ist er in meinem Fitnessstudio?
Aber obwohl mich der Blickkontakt so eiskalt erwischt, schaffe ich es doch nicht, mich davon zu lösen. Es ist die schrille warnende Stimme in meinem Kopf, die immer wieder schreit „Er weiß es! Er weiß, wie schwach du bist!", die in mir einen Naturinstinkt erwachen lässt. Und der heißt, dass man das Raubtier nie aus den Augen lässt. Egal, ob es sich dabei um einen eigentlich harmlosen Studenten handelt, der in sicherer Entfernung hinter einer Glasscheibe sitzt. Sean verkörpert mit seiner ruhigen, durchdringenden Art, mit der er mich gerade betrachtet, alles vor dem ich Angst habe. Von daher ist es wohl nicht verwunderlich, dass ich erstarrt bin wie das sprichwörtliche Reh im Scheinwerferlicht. Es erklärt allerdings nicht, weshalb er mich genauso zurückanstarrt.
Nicht wirklich fähig dazu einen klaren Gedanken zu fassen, so unvorbereitet bin ich hier in meinem Safe Haven mit der Realität konfrontiert zu werden, mache ich das Einzige was mir in den Sinn kommt, um die Kontrolle über die Situation zurückzuerlangen. Und das ist mit so viel Ruhe wie ich sie aufbringen kann langsam auszulaufen und von dem Laufband zu steigen, auch wenn ich eigentlich für meine übliche Zeit noch fünf Minuten hätte weiterlaufen müssen. Ich hoffe von außen betrachtet sieht es so aus, als hätte ich schon die ganze Zeit geplant jetzt aufzuhören, aber sicher bin ich mir nicht, denn mein Körper ist gerade im Ausnahmezustand. Jeder Zentimeter kribbelt und ich spüre geradezu, wie er sich auf fight-or-flight einstellt. Naja, eigentlich eher der Teil mit flight, denn in der nächsten Sekunde packe ich ziemlich feige meine Sachen zusammen und verzeihe mich weiter nach hinten zu den Geräten für Bein- und Po-Muskulatur.
Es dauert auch tatsächlich keine Minute, bis ich meine eigene Reaktion ziemlich lächerlich finde und mir am liebsten selbst dafür in den Arsch treten würde. Verdammt, bin ich gerade wirklich weggerannt, weil mich eine Person zurückangeschaut hat, die ich davor wahrscheinlich eine viertel Stunde lang unbewusst angestarrt hatte? Kein Wunder, dass Sean mich so komisch betrachtet hat. Allerdings lässt sein Blick auch jetzt noch alle meine Haare zu Berge stehen. Sean gehört genauso wie Lee zu den Personen, die einfach zu viel von mir gesehen haben. Seiten, von denen ich nicht will, dass irgendjemand sie kennt. Normalerweise würde ich damit so umgehen, wie ich das auch bei Lee tue: Einfach bestmöglich ignorieren und normal weiter machen. Und überall anders wäre das auch kein Problem. Aber hier schon. Der Sport ist für mich da, um einmal loszulassen. Sich keine Gedanken darüber zu machen, wie ich von außen wirke oder wie ich mich zu verhalten habe, um das Image aufrecht zu erhalten, das ich mir erarbeitet habe. Das hier ist sozusagen meine privates Reich, in der ich nicht gestört werden will. Aber Sean ist eine Störung. Mehr als es Lee mit seiner überdrehten, lockeren Art wäre. Denn Sean beobachtet seine Umwelt. Das ist mir schon früher an ihm aufgefallen. Er gehört zu den wenigen Sportlern, die nicht ständig im Mittelpunkt stehen wollen. Er sitzt lieber an der Bar, mit einem Bier in der Hand und sieht der Welt dabei zu, wie sie ihren verrückten Lauf nimmt. Und wenn ich eins aus dem komischen Blickkontakt, den wir hatten, sagen kann, dann dass er gut darin ist. Er ist gut darin andere zu durchschauen und das ist für Personen wie mich verdammt beängstigend. Denn ich will auf keinen Fall durchschaut werden.
Stellt sich also die Frage, was Sean hier genau treibt und wie ich ihm am besten aus dem Weg gehen kann. Doch während mein Blick einmal durch das ganze Fitnessstudio gleitet und schließlich an dem verglasten Raum hängen bleibt, kommt in mir die böse Ahnung auf, dass das wohl kaum möglich sein wird. Denn wenn ich mich nicht irre ist das Fitnessstudio auch auf Reha spezialisiert. Und nach den anderen Eishockeyspielern zu folge fängt Sean gerade wieder mit dem Muskelaufbau nach seiner Verletzung an. Scheint also so, als müsste ich mich hier auf Gesellschaft einstellen. Der Gedanke dreht mir, um ehrlich zu sein, den Magen um.
Doch da ich sowieso nichts daran ändern kann, zwinge ich mich einmal tief durchzuatmen, beende mein Training – glücklicher Weise ohne nochmals Sean zu begegnen – und fahre dann nach Hause. Ich habe noch einiges für meine Kurse nachzuarbeiten, was mich wohl bis in die Nacht beschäftigen wird. Deswegen hole ich mir auf dem Heimweg was zu essen, anstatt nochmals in die Mensa zu gehen. Genau für so Tage habe ich meinen kleinen Geheimtipp hier in der Stadt. Ein knuffiger Bioladen, der jeden Tag ein anderes gesundes Gericht anbietet. Dazu haben sie noch frisch gebackene Süßware, die ganz ohne raffinierten Zucker auskommt. Hin und wieder gönne ich mir etwas von diesen Köstlichkeiten, aber heute maßregele ich mich und belasse es bei dem Curry, das im Angebot ist.
Die Frau im Verkauf kennt mich inzwischen und begrüßt mich mit einem freundlichen Lächeln. Das erwidere ich, belasse es aber dabei. Mir ist nicht nach Smalltalk und zudem bin ich umso schneller daheim. So ist es auch, sodass ich keine halbe Stunde später die Tür zu meinem Wohnheimzimmer aufschließe und mit der dampfenden Take-away Schale eintrete. Von ... ist nichts zu sehen, was mich auch nicht verwundert, da sie Montagabends immer eine späte Vorlesung hat. Dafür bin ich allerdings auch ganz dankbar, denn das gibt mir die Möglichkeit ohne Rücksicht auf sie mein Ding machen zu können. Und das besteht daraus erstmal alles abzulegen, mich aus meinem Mantel zu schälen und dann mit einem kleinen Seufzen vor den Spiegel zu treten.
Mit entgegen blickt eine junge Frau, die blonden Haare nachlässig nach hinten gebunden, in einem grauen Strickpulli und engen blauen Jeans. Sie sieht müde aus, aber als ich ein Lächeln aufsetze ist davon nicht mehr viel zu merken. So stehe ich ein paar Sekunden da, übe das Lächeln, mit dem ich tagtäglich jeden darüber hinwegtusche, wie leer meine Augen sind. Dann mache ich mich dran den Pulli über den Kopf zu ziehen. Ich habe hier im Wohnheim zwar keine Waage wie zu Hause, ein paar meiner Rituale habe ich aber trotzdem übernommen. Und eins davon ist mich fast täglich kritisch im Spiegel zu mustern.
Ich drehe mich von Seite zu Seite, hebe mal die Arme oder spanne die Bauchmuskeln an. Wenn ich den Bauch einziehe, schimmern meine Rippen unter der Haut hindurch, und der Anblick stimmt mich zufrieden. Dann beuge ich mich herunter und versuche mit meinen Beiden Händen mein Bein kurz über dem Knie zu umfassen, genauso wie mein Handgelenk mit der anderen freien Hand. Beides gelingt mir und obwohl ich das eigentlich wissen sollte, immerhin ging es auch gestern und vorgestern und vorvorgestern, spüre ich, wie mich Erleichterung überflutet. Die Angst ist immer da. Angst wieder zu dem molligen Mädchen geworden zu sein. Manchmal sehe ich sie immer noch, wenn ich in den Spiegel blicke. Erst wenn ich mich auf so Sachen fokussiere, objektive Maße wenn auch sich das lächerlich anhören mag, kann ich die Vorstellung abschütteln. Also versuche ich mich auf die Konturen meines Gesichtes und nicht auf das Gesamtbild zu fokussieren, als ich näher an den Spiegel trete, um mich genauer zu betrachten. Der Schwung meiner Wangenknochen geht in eine sachte Einwölbung über, bevor mein Gesicht spitz zum Kinn zuläuft. Keine Pausebäckchen und wenn ich das Kinn anziehe, entstehen da auch keine hässlichen Speckfalten.
Ohne es zu bemerken entkommt mir ein erleichtertes Seufzen. Und erst nachdem ich all das gecheckt habe, kann ich mich an meinen Schreibtisch setzen und mein Essen auspacken.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top